Einen Tag bevor Yasar Aratemür seine Promotionsurkunde erhält, sitzt er in einem Augsburger Café. Vor ihm zwei Bände seiner Arbeit. Das eine, die geschriebene Doktorarbeit à 500 Seiten, der andere Band fast genauso dick, mit hunderten farbigen Karten der Türkei. „Ich glaube nicht, dass es noch einen Lokführer mit Doktortitel gibt“, sagt der Augsburger und ist sichtbar stolz. Aratemür arbeitet bei der Deutschen Bahn - und hat nebenbei einen Sprachatlas seiner Muttersprache Zaza erstellt. Die Sprache ist in Ostanatolien beheimatet. Von dort stammt der 45-Jährige.
Geboren und aufgewachsen ist Aratemür in Bingöl. Bingöl, das ist der türkische Name der Stadt. Seit der Gründung der Türkei im Jahr 1923 wird der Ort so genannt. Auf Zaza heißt er Čolig. Diesen Namen kennen jedoch immer weniger Menschen. Die Volksgruppe Zaza ist in der Türkei nicht anerkannt, die Sprache sogar verboten. Heute sprechen und verstehen schätzungsweise noch zwei bis vier Millionen Menschen Zaza. Es handelt sich um eine iranische Sprache, wie der Augsburger erklärt. Sie ist mit der kurdischen und persischen Sprache verwandt. Der Unterschied zwischen Zaza und Persisch sei mit Deutsch und Dänisch vergleichbar.
Lokführer und Sprachenretter: Augsburger erstellt Sprachatlas
Aratemür blättert in seiner Doktorarbeit. Wie viele Menschen Zaza sprechen, in welchen Gebieten und mehr über den Ursprung der Sprache, das alles steht auf den hunderten Seiten seiner Arbeit. Mehr als sieben Jahre hat der Familienvater in seine Promotion investiert. Dazu kommen ein Bachelor- und ein Masterstudium. Alles für ein Ziel: seine Sprache zu retten. Im ersten Satz seines Vorworts schreibt Aratemür: „Erst als Erwachsener wurde mir so richtig bewusst, dass meine Muttersprache Zazaki ist, nicht Türkisch und auch nicht Deutsch.“
Türkisch hat Aratemür in der Schule in Bingöl gelernt. Mitte der 90er-Jahre, mit 15 Jahren, kam er nach Augsburg und lernte Deutsch. Sein Vater arbeitete schon seit 1978 als Maurer in Deutschland, auch seine Mutter lebte bereits in Schwaben. Nach zwei Jahren in Deutschland startet Aratemür eine Ausbildung zum Gleisbauer bei der Deutschen Bahn. Danach arbeitete er kurzzeitig als Schlosser bei Kuka und bei einem Automobilzulieferer. Schnell merkte er: „Das ist nichts für mich. Ich war immer auf der Suche“, sagt er rückblickend. Es ging wieder zurück zur Bahn, in Berlin ließ er sich zum Lokführer ausbilden. „Damals war es schwer, Lokführer zu werden“, erinnert er sich. Erst habe er Güter- und dann Regionalzüge gefahren.
Keine einheitliche Schrift von Zaza
Während seiner Arbeit als Lokführer fing er an, sich mehr und mehr für seine Muttersprache zu interessieren. „Ich wollte eigentlich nur meine Sprache schreiben und dokumentieren“, sagt er. Je intensiver er sich damit beschäftigte, desto klarer wurde ihm: „Das kann man nicht amateurhaft machen.“ Außer ein paar alten Texten existieren kaum Aufzeichnungen der Zaza-Sprache. Bis heute gibt es keine einheitliche, verbindliche Schrift. Alte Aufzeichnungen von Zaza sind in arabischer Schrift verfasst, jüngste Mitschriften in lateinischer Schrift. Mit anderen Zaza (auch die Menschen der Volksgruppe werden Zaza genannt) aus Deutschland habe er versucht, Gedichte, Zeitschriften und Kinderbücher in seiner Muttersprache herauszugeben. „Das kann man amateurhaft nicht machen“, wiederholt er sein Fazit von damals.
Jetzt liegen hunderte Seiten seiner Promotionsarbeit vor ihm auf dem Tisch. Detailliert schlüsselt der Sprachforscher in Lautsprache darin auf, wie in verschiedensten Gebieten in Ostanatolien beispielsweise das Wort „Zwiebel“ oder „Schwiegermutter“ ausgesprochen wird.
Augsburger Sprachwissenschaftler König als Vorbild
Aratemürs Sprachatlas erinnert an ein bayerisches Pendant. Das ist kein Zufall. „Werner König ist mein Vorbild“, sagt der Augsburger ohne jegliche Zurückhaltung. Aratemür ist vor vielen Jahren bei einem Schnupperstudium an der Augsburger Universität auf den Sprachwissenschaftler aufmerksam geworden. „Ich habe ihm eine E-Mail geschrieben und wir haben uns getroffen.“ König habe ihm freundlich, aber deutlich gesagt, was er lernen müsse, um sein Vorhaben umsetzen zu können. Dabei habe König ihn immer unterstützt und sein Anliegen verstanden, sagt Aratemür.
An seiner Universität in München hätten viele nicht an ihn geglaubt, sagt Aratemür, auch wenn es niemand so ihm gegenüber ausgedrückt habe. „Sie brauchen ein Team“, hätten ihm die Professoren geraten. Ein Blick auf die dicken Bände und der Rat wirkt nicht weit hergeholt. Die Menge an Arbeit, die Aratemür allein geleistet hat, ist beeindruckend. Drei Jahre in Folge von 2017 bis 2019 verbrachte er jährlich rund vier bis fünf Monate in der Türkei. Er reiste von Ort zu Ort, nahm Gespräche auf und dokumentierte im Detail die Unterschiede der Sprache. Nebenbei entstand eine gezeichnete Ethnografie der Region. Er hielt fest, welche Kopfbedeckungen Zaza früher trugen und Einzelheiten über den Ackerbau in Ostanatolien.
„Es war sehr schwer“, sagt der Augsburger. Die Feldforschung hat viel von ihm abverlangt: Schlafen im Auto, Hunderte Kilometer ohne Navigation und einmal fast verhaftet. Und das alles, um Menschen zu treffen, die noch Zaza sprechen. Über Vermittlungspersonen in Deutschland habe er den Kontakt zu Zaza in der Türkei hergestellt. Die Menschen, die diese Sprache noch gut beherrschen, sind oft alt. Und weil Zaza in der Türkei verboten ist, konnte er nicht einfach auf Einheimische zugehen. Die Region gleicht einem besetzten Gebiet, wie Aratemür in seiner Promotion schildert. Die Menschen sind nicht offen, wenn jemand mit einer Kamera und einem Mikrofon da steht.
Aratemür: „Ich glaube, man muss nur fleißig sein“
Sehr schwer sei nicht nur die Feldarbeit gewesen, auch das Studium war hart. Für seinen Bachelor in Iranistik, Turkologie/Osmanistik und Sprachwissenschaft und seinen Master im Fach „Cultural and Cognitive Linguistics“ musste der Augsburger auch Seminare in Statistik und Biologie belegen. „Ich habe auch alles darüber hinaus gelesen“, sagt er. „Im Studium lernt man nur ein Gerüst.“ Die Leute dachten, ich sei verrückt, erinnert er sich. „Ich war nicht verrückt. Ich wollte mich nur auskennen.“
Zeitintensiv, gefährlich – und unbezahlt. Für seine Feldforschung in der Türkei erhielt der Augsburger ein Reisestipendium, dazu weitere kleine Förderungen. Das reicht nicht zum Leben. Über das Leben von Aratemür könnte man schreiben: Vom Lokführer zum Sprachwissenschaftler - das stimmt allerdings nicht ganz. Bis heute lenkt der Augsburger noch Züge. „Am liebsten Dieselstrecken in der Spätschicht“, erzählt er. Er mag eher die ruhigen Stecken, wo man auch etwas von der Landschaft sieht. Während seines Studiums nutzte er die Pausen in Landshut, Treuchtlingen oder Memmingen, um zu lernen. Doch während der Fahrt lernen? „Das ist zu gefährlich“, sagt er gewissenhaft.
„Mein Leben bestand eine Zeit lang nur aus Arbeit und Studium“, sagt er. Um überhaupt studieren zu können, musste er im ersten Jahr seines Bachelors nach Hamburg pendeln. In Bayern konnte man damals nicht ohne Abitur an einer Hochschule zugelassen werden. Am Wochenende saß er in einer Lokomotive in Bayern, unter der Woche in der Universität in Hamburg. Nach einem Jahr konnte er an die LMU München wechseln. „Der Weg war frei“, erzählt der Augsburger mit Freude im Gesicht.
Doch eins scheint Aratemür klar: „Für Geld würde ich nicht so viel lernen“, sagt er und führt weiter aus, dass er für einen Job nicht so viel Zeit und Energie in ein Studium gesteckt hätte. „Zaza wird aussterben, das ist so“, sagt er und erklärt: „Ich will diese Sprache dokumentieren. Das war mein Ziel und das habe ich geschafft.“ Und wie er es geschafft hat: „Du musst einfach fleißig sein.“
Fertig ist der Sprachwissenschaftler mit seiner Lebensaufgabe noch nicht, auch wenn er seinen Doktortitel nun mit er höchsten Auszeichnungsstufe „summa cum laude“ in der Tasche hat. Neben den zwei Bänden, für die er gerade einen Verlag zur Veröffentlichung sucht, will er noch weitere sechs bis acht Bände des Sprachatlas anfertigen.
Es ist wichtig, die jahrzehntelangen Unterdrückungen, denen Minderheiten wie die Zazas und andere ethnische Gruppen ausgesetzt waren, empathisch zu betrachten. Diese Gemeinschaften haben oft Diskriminierung, kulturelle Assimilation und das Verbot ihrer Sprachen und Traditionen erlebt. Diese Erfahrungen prägen bis heute das kollektive Gedächtnis dieser Gruppen und beeinflussen ihr Verhältnis zum türkischen Staat. Ich gratuliere Herrn Aratemür zu seinen Arbeiten. Es ist aber auch wichtig zu betonen, dass die Zazaki-Sprache in der Türkei nicht mehr verboten ist. Seit 2012 wird Zazaki in der Türkei als Wahlfach an Schulen angeboten. Dennoch bleiben Fragen offen, wie beispielsweise die tatsächliche Verfügbarkeit dieser Wahlfächer, ihre Akzeptanz innerhalb der Gesellschaft und die tiefer liegenden strukturellen Probleme, die den Zugang zu Bildung in Minderheitensprachen beeinflussen.
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