Kirmes im Kopf hat sie. Wenn sie die gerade erst gewaschene Wäsche erneut in die Maschine steckt. Wieder in den falschen Bus steigt, obwohl das schon gestern passiert ist. Sich wieder mit Uhrzeit und Verabredung verzettelt. Dass es eine Erklärung dafür gibt, wenn in ihrem Kopf Kettenkarussell, Achterbahn und Autoscooter gleichzeitig fahren, wenn sie eigentlich nur in Ruhe Zuckerwatte essen möchte, weiß Angelina Boerger erst seit zwei Jahren. Die Erklärung lautet: ADHS, Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung.
Mit 29 Jahren hat die heute 31-Jährige die Diagnose bekommen. Während das Wort Diagnose für die meisten nach einem dunklen Moment im Leben klingt, war es für die freie Journalistin aus Aachen einer der "Erhellung". Endlich hatte dieses Anderssein, das sie diffus schon ihr ganzes Leben begleitet hatte, einen Namen. Gleichzeitig fragte sie sich: "Wieso ist mir das bloß vorher noch nicht untergekommen?"
Angelina Boerger war schließlich bereits in Therapie, wegen dieses gefühlten Andersseins. Sie hatte Probleme, mit Stress im Beruf umzugehen. Dass ADHS die Ursache ist, erkannte ihre Therapeutin nicht. Aber auch Angelina Boerger selbst, die beruflich über mentale Gesundheit schreibt, podcastet und Videos dazu dreht, kam das Thema nie unter. Sie erklärt es damit, wovon auch Gesellschaft und Forschung lange überzeugt waren: "ADHS war für mich immer eine Kinder- und Jugendkrankheit." Eine, die erwachsene Betroffene zur scheinbaren Ausnahme macht und häufig übersehen wird.
Bis zu sechs Prozent aller Kinder und Jugendlichen leiden unter ADHS
Unter Kindern und Jugendlichen zählt ADHS zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Zwei bis sechs Prozent aller unter 18-Jährigen erhalten die Diagnose. Ein Ungleichgewicht an Botenstoffen im Gehirn ist Gastgeber des sprichwörtlichen Rummels im Kopf. Lange lautete die Einschätzung, dass sich die Erkrankung bis ins Erwachsenenalter legt.
Doch das hat sich als falsch herausgestellt. Zahlreiche Studien der vergangenen Jahre zeigen, dass bei etwa 60 Prozent der bereits im Kindesalter von ADHS Betroffenen die Symptome noch bis ins Erwachsenenalter bestehen. Einer Studie zufolge, die 2021 im American Journal of Psychiatry veröffentlicht wurde, sind es sogar 90 Prozent.Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit, Impulsivität sind die drei Hauptsymptome. Darüber, wie viele über 18-Jährige von ADHS betroffen sind, gibt es kaum verlässliche Zahlen.
Bleibt ADHS unerkannt und unbehandelt, erhöht das den Leidensdruck für die Betroffenen. Manchmal werden psychische Krankheiten wie Depressionen diagnostiziert oder Therapien begonnen, obwohl eigentlich ADHS dahintersteckt. So, wie es auch bei Angelina Boerger war. Andersherum kann unerkanntes und unbehandeltes ADHS aber auch andere psychische Krankheiten wie Zwangsstörungen oder Süchte zur Folge haben, weiß die Journalistin und Betroffene. "Besonders Frauen wollen, dass die Erkrankung nach außen nicht auffällt. Sie tun alles, um nicht verstrahlt zu wirken, und versuchen, perfektionistisch zu sein." Denn die Symptome treffen häufig auf Unverständnis.
Kind, Jugendlicher, Mann oder Frau: ADHS-Symptome unterscheiden sich
Besonders machen sie sich im Zusammenspiel mit anderen bemerkbar, sagt Angelina Boerger. "Würde ein ADHS-Mensch alleine auf einem Planeten leben, wäre er wahrscheinlich ganz glücklich und zufrieden." Es seien die Erwartungen in der Partnerschaft, in der Familie, im beruflichen Umfeld, die sie – und generell ADHS-Betroffene – der gesellschaftlichen Vorstellung nach häufig nicht erfüllen können. "Man denkt anders, man fühlt anders."
Die Symptome können sich vom Übergang des Kindes- ins Erwachsenenalter verschieben. Auch von Geschlecht zu Geschlecht können sie sich unterscheiden. Sind es laut dem ADHS-Infoportal der Universität Köln bei Frauen typischerweise Verträumtheit, chaotisches Denken, Handeln und Planen sowie die Suche nach Bestätigung von außen, sind Männer deutlich häufiger von großer innerer Unruhe, mangelnder Geduld und leichter Ablenkbarkeit betroffen.
Wie es sich damit lebt, weiß Fabian Struwe. Im Gegensatz zu Angelina Boerger hat der 34-jährige Videoproducer von der Schwäbischen Alb schon als Zehnjähriger die Diagnose erhalten. Im Kindesalter half ihm eine Ernährungsumstellung, ADHS in den Hintergrund rücken zu lassen. "Mit Mitte 20 hat es sich wieder geäußert, aber meine Arbeit habe ich trotzdem gut hingekriegt", sagt er. Vor drei Jahren hat aber bei ihm der Rummel im Kopf wieder Einzug gehalten. Ein Schlüsselmoment war, als er in der Stuttgarter Fußgängerzone stand und die Geräuschkulisse von klingelnden Handys, streitenden Passanten, Straßenmusikern und seiner Freundin, die mit ihm sprechen wollte, nicht ausblenden konnte. "Ich habe mich hilflos gefühlt."
Jeder kleinste Störfaktor, sei es nur das plötzlich gelb gewordene Blatt einer Zimmerpflanze im Homeoffice, lenkt ihn ab und lässt ihn vergessen, wo er ist, was er macht. "Fehlende Aufmerksamkeit ist aber das Schlimmste", sagt er. "Ich vergesse ständig Dinge, die mir meine Freundin sagt." Fabian Struwe beschreibt sich als emotionalen Menschen. Wenn er erzählt, wie rücksichtsvoll seine Freundin damit umgeht, kommen ihm fast die Tränen.
Wie Erwachsene mit ADHS von "Hyperfokus" oder Kreativität profitieren
Für seinen Alltag hat er, neben Besuchen bei einer Psychiaterin, Bewältigungsstrategien entwickelt. Um sich beim Arbeiten konzentrieren zu können, zieht er phasenweise Kopfhörer auf und lässt sich von Brown oder Pink Noise einlullen – monotones Rauschen in einem bestimmten Frequenzbereich, das ihn die Umwelt ausblenden lässt.
Dass ADHS aber nicht nur negative Seiten hat, betonen sowohl Fabian Struwe als auch Angelina Boerger. Als Videoproducer profitiert Fabian Struwe etwa von demjenigen Symptom, das als "Hyperfokus" bekannt ist: Ein langanhaltender, aber nicht steuerbarer Zustand intensiver Konzentration, der mit ADHS einhergeht. "Gerade wenn ich mich in neue Videoschnittprogramme einarbeite ist das hilfreich", sagt er. Angelina Boerger ist stolz auf die Perspektive auf die Welt, die ihr ihre besondere Wahrnehmung durch ADHS beschert. "Anders Denken kann bereichern", sagt sie, "gerade in der Medienwelt".
Was ihr hilft, mit ADHS klarzukommen: Ihre Aufklärungsarbeit und der Austausch mit Gleichgesinnten auf Instagram. Nach der Diagnose hat Angelina Boerger den Account @kirmesimkopf gegründet. Rund 24.000 Menschen folgen ihr und teilen zum Beispiel sogenannte "ADHS-Fails", kleine Dinge, die im Alltag mit ADHS schief laufen. Boerger informiert auf bunte, Social-Media-gerechte Weise über Themen wie ADHS-Medikamente und Straßenverkehr oder die Therapieplatzsuche. Anfang 2023 will sie ein Sachbuch über ADHS mit persönlichen Anekdoten veröffentlichen. Ihre Botschaft: "Nicht alle Menschen sind gleich. Und auch nicht alle Gehirne sind gleich. Das ist in Ordnung."