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Atomausstieg: Mein Abschied vom AKW Isar 2: Drei Menschen, drei Perspektiven

Mein Abschied vom AKW Isar 2: Drei Menschen, drei Perspektiven
Atomausstieg

Mein Abschied vom AKW Isar 2: Drei Menschen, drei Perspektiven

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    Josef Klaus, 60, hat vom Atomkraftwerk gelebt. Man kann das ohne Bauchschmerzen schreiben, obwohl der Freistaat Bayern sein Bürgermeistergehalt überweist und nicht Preussen Elektra, die Betreiberfirma des Kernkraftwerks Isar 2. Aber welcher Obmann einer 4000-Einwohner-Gemeinde kann seiner Bevölkerung schon eine Grund- und Mittelschule präsentieren, einen Kunstrasen- und fünf Tennisplätze, eine Zweifachturnhalle, ein Dentallabor, eine Praxis für Physiotherapie, eine Fahrschule, eine intakte Dorfdreifaltigkeit aus Bäcker, Metzger und Wirt? Im Schatten eines Meilers zwar, aber eben dank der Einnahmen aus der Atomenergie.

    Franz Jaeger, 59, hat im Atomkraftwerk gelebt, in Gleitzeit. Seit 1988, 35 Jahre lang. Von Anfang an dabei bei Isar 2. Ein Leittechniker im Werk, zuständig für Reaktorleistungsregelungen und Begrenzungssysteme. Dafür, dass hier nichts in die Luft fliegt. "Gepflegt, verbessert, geprüft. Für Jahrzehnte", sagt er. Die Schwermut hängt an den Stimmbändern, Melancholie in seinem Blick. Was er aufgebaut hat, soll er jetzt wieder abbauen. Ein Trauerspiel.

    Katharina Mühlebach-Sturm, 68, hat gegen das Atomkraftwerk gelebt. Sie war in Wackersdorf dabei, stand in einer 120-Kilometer-Menschenkette im Emsland, hielt Mahnwachen vor Isar 2. In den jüngsten Monaten hat sie Countdown-Demonstrationen organisiert. Sie zählt die Tage nach unten, bis ist, wofür sie lange gekämpft hat: ein atomkraftfreies Deutschland.

    Um Punkt 0.00 Uhr wird in der Warte von Isar 2 ein Knopf gedrückt
    Um Punkt 0.00 Uhr wird in der Warte von Isar 2 ein Knopf gedrückt Foto: Armin Weigel, dpa

    Drei Menschen, drei Blickwinkel auf einen Tag, der vieles verändern wird. In der Bundesrepublik. Und im niederbayerischen Niederaichbach. Wenn der Samstag in den Sonntag übergeht, um Punkt 0.00 Uhr, wird in der Warte von Isar 2 ein Knopf gedrückt. "ReSa", steht auf ihm, Reaktorschnellabschaltung. Einmal jährlich ist er zum Einsatz gekommen, wenn sie in Revision gingen und das Kraftwerk für ein paar Tage stillstand. Aber diesmal wird es für immer sein. Und das macht die Menschen nervös.

    Im ARD-Deutschlandtrend spricht sich plötzlich eine Mehrheit der Befragten für Atomenergie aus. Auffällig viele Kernkraft-Befürworter aus den Reihen von Union und FDP wagen Tage vor dem Ende einen finalen Umstimmungsversuch. Markus Söder marschiert am Donnerstag, keine 72 Stunden vor Knopfdruck, durch den letzten bayerischen Reaktor und spricht von einer "Fehlentscheidung".

    Atomkraft – nein danke oder ja bitte? Man weiß das nicht mehr so genau dieser Tage.

    In Niederaichbach hat man sich seit Monaten auf diesen 15. April eingestellt. Hier leben jene, die eben nicht einfach nur über die A92 brausen, vorbei am 165 Meter hohen, weißen Rauch spuckenden Kühlturm. Hier ist der Nachbar radioaktiv. Doch froh, dass er ausziehen soll, ist man nicht.

    Noch wabern Wolken über dem Reaktor von Isar 2

    Noch wabern Wolken über dem Reaktor. Josef Klaus sieht sie vom Rathausbalkon, keine zwei Kilometer entfernt. Der Anblick stört ihn schon lange nicht mehr. "Man gewöhnt sich an vieles", sagt er. In Rom steigt nur weißer Rauch auf, wenn ein Papst gewählt ist. In Niederaichbach gehört er zum täglichen Gartenpanorama. Klaus – Hornbrille, hohe Stirn, Helmut-Kohl-Frisur – kann zehn Minuten über Energiewirtschaft monologisieren. Überlastete Niederspannungsnetze, Netzstabilität, Wirkungsgrad von Wasserstoff. Megawatt, Kilovolt, Hertz. Klaus, seit 2014 Bürgermeister, davor Gemeinderat und Sparkassenbetriebswirt, hat sich das alles erlesen und erreist. Einmal jährlich kommen alle Bürgermeister der Atomdörfer zusammen.

    Josef Klaus, 60, Bürgermeister von Niederaichbach.
    Josef Klaus, 60, Bürgermeister von Niederaichbach. Foto: Fabian Huber

    Natürlich habe man sich auf diesen Tag eingestellt. "Dass das Ende naht, wissen wir ja seit 2011, seit Fukushima." Doch die Stimmung in der Gemeinde habe sich schon eingetrübt in letzter Zeit. Die Leute sorgten sich vor Blackouts. Manche hätten angerufen bei der Gemeinde, mit Lungenleiden und Beatmungsgerät – und deshalb besorgt um die Stromversorgung. "Ganz viele haben sich in letzter Zeit eine Photovoltaikanlage aufs Dach und eine Batteriespeicheranlage in den Keller bauen lassen", berichtet er.

    Und für die Angestellten, gut 500 hat Isar 2 noch nach dem Abschalten des ersten Reaktors 2011, sei das natürlich emotional. "Stellen Sie sich vor", setzt Klaus an, "zu mir käme einer und sagt: 'Gemeinde Niederaichbach, Bürgermoasta, hast an guad'n Job g'macht. Ois basst, ois toll, mir san zfried'n. Aber: Jetzt brauch ma Sie nimma. Reißen's des Rathaus ab. Hier kommt Wohnraum hin.' Da flippst du doch aus!"

    Niederaichbach zerfasert am Dorfrand in graubedachte, frischgestrichene Wohnbaugebiete. Auf der Amtstafel vor dem Rathaus werden neue Straßen bekannt gemacht. Im Bürgermeister-Büro hängt eine Luftbildaufnahme vom Reaktor. Angst, dass der Laden mal in die Luft fliegt? Tschernobyl, Fukushima, Niederaichbach? "Überhaupt ned." Man kenne die Techniker ja. Vom Verein. Vom Stammtisch.

    In guten Jahren flossen bis zu vier Millionen Euro an Gewerbesteuer

    Das Kraftwerk ist nicht Schandfleck, sondern Geldquelle. Zumindest lange gewesen. In guten Jahren seien bis zu vier Millionen Euro an Gewerbesteuer in die Kassen geflossen, sagt Klaus. Nun seien es noch gut 1,6 Millionen. "Wir müssen schon haushalten. Es geht an die Rücklagen. Und langweilig wird es ja nie. Geld kannst du immer brauchen." Kindergartenerweiterung: fünf Millionen Euro; neues Feuerwehrhaus in Wolfsbach: 1,8 Millionen Euro; zu unterhaltendes Straßennetz im Gemeindegebiet: 70 Kilometer.

    Jammern auf hohem Niveau, das weiß Klaus. Was soll der Kollege in Gundremmingen sagen? Dem haben sie schon vor knapp anderthalb Jahren den letzten Reaktorblock vom Netz genommen. Und als 2022 plötzlich das Gas knapp wurde und die Energie teuer, da schmiedete man vorsichtige Pläne, das Kraftwerk wieder hochzufahren – also im politischen München. Im Landkreis Günzburg war der Kühlturm lange schon entkernt, die Generatoren zerlegt und die Turbine ausgebaut. Schnell mal den Aus-Knopf wieder andrücken? Unmöglich, sagte der Standortleiter.

    Für manche ist ein solches Atomkraftwerk auch eine Touristenattraktion. Tag zehn vor dem Shutdown, Parkplatz Isar 2. Eine Mindelheimer Familie fuhr gerade vom Urlaub im Bayerischen Wald wieder in die Heimat, da sah die Frau von der Autobahn aus den dampfenden Kühlturm. Sie drehten spontan ab. "Wir wollten uns das Ding mal ansehen, bevor es das nicht mehr gibt", sagt der Vater.

    Man wäre ja gerne reingegangen, in dieses "Ding", vorbei an Nato-Draht und Überwachungskameras, mit Blauhelm in den Reaktor, so wie Söder. Doch leider sei man "ausgebucht", sagte der Pressechef von Preussen Elektra, als gehöre ihm ein Haubenrestaurant.

    Die Kollegen aus dem Ausland fragen: Was macht ihr denn da, verdammt?

    Besser also ein Treffen am Küchentisch von Franz Jaeger, der spontan in ein stattliches Zweifamilienhaus geladen hat. Tag null rückt näher, die erste allgemeine Verunsicherung liegt Jahre zurück. Jetzt, sagt der Kernkrafttechniker, "hat das so einen Hauch von Endgültigkeit. Was mich schon betrübt macht: Man hat so viel enormes Wissen. Das ist jetzt alles Müll. Es kann nicht weitergegeben und weiterentwickelt werden."

    Franz Jaeger, 59, hat im Atomkraftwerk gelebt, in Gleitzeit.
    Franz Jaeger, 59, hat im Atomkraftwerk gelebt, in Gleitzeit. Foto: Fabian Huber

    Ihr Mann habe da schon einen langen Prozess durchlaufen, sagt Therese Jaeger. "Diese Einstellung zu ändern. Wenn du weißt, du bist auf dem sinkenden Schiff. Das ist kein schönes Gefühl."

    Die Kollegen aus dem Ausland würden fragen: Was macht ihr denn da, verdammt? Und auch Franz Jaeger fragt sich: Wofür sinkt dieses Schiff überhaupt? Die Angst vor dem Super-GAU könne er schon irgendwie verstehen, aber würden die Leute nicht auch in einen Gleitschirmflieger steigen? Oder in einen Sportwagen auf der linken Autobahnspur? Ein Restrisiko bleibe immer, klar, doch: "Wir haben uns natürlich viel mit Fukushima und Tschernobyl beschäftigt. Und haben erkannt, welchen Mist die gebaut haben. Das auf uns herunterzubrechen, ist fast schon beleidigend."

    Als Kanzler Olaf Scholz sein atomares Machtwort sprach und die Ampel-Regierung drei Kraftwerke in den viereinhalbmonatigen Streckbetrieb schickte, da jubelten sie in Isar 2. "Das war ein Signal, dass man uns noch gebraucht hat", sagt Jaeger. Die Betreiber projizierten kurz vor Weihnachten Botschaften auf den Kühlturm von Block 2, blauer Hintergrund, weiße Schrift: "Mit Power durch den Winter … KKI is no a wenig länger für Eich do!" Hier würden nur "überzeugte Kernis" arbeiten, sagte der Werksleiter kürzlich. Niederaichbachs Bürgermeister Klaus taxiert den Anteil an Atomkraftgegnern in der Gemeinde auf "maximal fünf Prozent".

    Am Münchner Odeonsplatz steigt das große Abschaltfest

    Ein paar Kilometer die Isar aufwärts, in einer kleinen Häuschensiedlung mitten in Landshut, setzt sich Katharina Mühlebach-Sturm, lächelt einen an, lange graue Haare, wassermelonenfarbener Fleece-Pulli, eine Anti-Kerni der ersten Stunde. Als die Schweizerin noch in Zürich studierte, Chemie und Biochemie, sollte diesseits des Rheins ein Atomkraftwerk gebaut werden. "Ich habe mitbekommen, dass es in Deutschland schon solche Demonstrationen gab. Ich fing an, mich damit zu befassen und wusste: Das ist nichts, was uns weiterhilft, sondern brandgefährlich."

    Katharina Mühlebach-Sturm ist eine Atomkraftgegnerin der ersten Stunde.
    Katharina Mühlebach-Sturm ist eine Atomkraftgegnerin der ersten Stunde. Foto: Fabian Huber

    Kommt man ihr mit den Sprüchen aus der Preussen-Elektra-Kommunikationsabteilung – "weltmeisterliche Anlage", zehnmal zum leistungsstärksten Atomkraftwerk der Welt gekürt, weitaus sicherer als havarierte Reaktoren im Ausland – dann sagt sie: "Ein Atomkraftwerk wird von der Wiederholung, dass es sicher sei, nicht sicherer."

    Mit ihrem Landshuter Bündnis für Atomausstieg lud Mühlebach-Sturm jeden Monat seit Jahresanfang ins Zentrum der Provinzstadt. Erst kamen ein paar Dutzend Leute, am Ende waren es schon 200, ein Erfolg, findet sie. "Aber die Jungen fehlten." Für die Generation Fridays-for-Future ist der

    Mühlebach-Sturm wird an diesem Samstag am Münchner Odeonsplatz stehen, zum großen Abschaltfest. Um Mitternacht wird sie feiern. Wo? Spontan. Eigentlich wollte sie auf das Kraftwerksgelände. Ganz nah dran sein, noch einmal den Puls der verhassten Kernkraft fühlen, bevor er verflacht. Hat Preussen Elektra nicht gestattet.

    Bis 2047 werden in Isar II bis zu 152 Castoren zwischengelagert

    Und dann, dann gehe es weiter. "Das Thema ist ja nicht zu Ende. Wir haben hier eine oberirdische Lagerung der Brennelemente. Das muss unter die Erde."

    Bis 2047 werden in Isar II bis zu 152 Castoren zwischengelagert werden, darunter auch von Frankreich und England wiederaufbereiteter deutscher Atommüll. Doch ein Endlager ist politisch noch lange nicht in Sicht. "Da könnte ich mich ja schon aufregen. Im Bayerischen Wald gäbe es einen geeigneten Granitboden. Aber Söder sagt: Bei uns in Bayern nicht!", sagt wiederum Josef Klaus, selbst ein CSU-Mann. "Vermutlich wird das viel länger dauern. Da gibt es noch viele ungelegte Eier."

    Der Bürgermeister. Der Techniker. Die Atomkraftgegnerin. Alle drei werden vermutlich nicht mehr erleben, dass die letzten Hinterlassenschaften ihres benachbarten Kernkraftwerks irgendwo in der Tiefe eine letzte, sichere Ruhestätte finden.

    Verspüren Sie dennoch etwas Genugtuung, Frau Mühlebach-Sturm? "Es ist, glaube ich, nicht das richtige Wort. Ich missgönne niemandem etwas. Ich bin einfach froh."

    Wie lange werden Sie noch abbauen, was Sie Jahrzehnte aufgebaut haben, Herr Jaeger? "Das sehen wir dann schon. Vier, fünf Jahre mache ich noch. Wenn die Rückbauarbeiten im Herbst so wirklich beginnen, dann wird das noch mal hart."

    Ist das jetzt am Ende gut oder schlecht für Niederaichbach, wenn Isar 2 abgeschaltet wird, Herr Klaus? "Schlecht. Gute Arbeitsplätze werden wegfallen. Und die große Frage ist ja, wo die Reise hingeht. Was haben wir dadurch gewonnen?"

    Wenn Knopf ReSa gedrückt wird, dampft der Kühlturm neben der Isar vermutlich noch bis Sonntagnachmittag aus. Danach wird nie mehr weißer Rauch über Niederaichbach aufsteigen.

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