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Migration: Migranten in Niger: Sie wollten nach Europa und stecken nun fest

Denzel Hayes, 43, Migrant aus Liberia, lebt in einem Transit-Flüchtlingslager in Niger. "Ich will keine Last sein", sagt er.
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Migranten in Niger: Sie wollten nach Europa und stecken nun fest

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    Seine Verhaftung hat Denzel Hayes wohl das Leben gerettet. Im vergangenen Jahr hatte der Liberianer Schlepper in Libyen gefunden, die sich bereiterklärten, ihn per Boot von dort nach Italien zu schleusen – obwohl er damals völlig mittellos war. Zehn Migranten hatte Hayes zum Hafen in Bengasi gebracht, die je 1500 Dollar für die Überfahrt zahlten. Im Gegenzug durfte er umsonst an Bord des Schlauchbootes. Doch statt wie geplant in Deutschland sitzt der Migrant nun in einem Transitzentrum der UN-Agentur "Internationale Organisation für Migration" (IOM) in Libyens Nachbarland Niger – eine Zwischenstation auf dem von der IOM organisierten Rückweg in seine Heimat Liberia.

    Was war geschehen? Das Boot war von der libyschen Küstenwache abgefangen worden, die Schlepper hatten offensichtlich nicht die richtigen Leute bestochen. Im libyschen Gefängnis stimmte Hayes dann seiner Rückkehr nach Liberia zu. "Am Ende war es besser so", sagt der 43-jährige Maschinenbauer, "es kam schon Wasser an Bord. Gut möglich, dass wir sonst ertrunken wären."

    Wie schnell bekommen Migranten Änderungen in Europa überhaupt mit?

    Allerdings sind die IOM-Zentren in Niger um 40 Prozent überbelegt, seine Weiterreise zieht sich hin. Er ist bei Weitem nicht der einzige. Tausende in Nordafrika abgeschobene Migranten finden keinen Platz mehr und leben auf den Straßen. Unsere Redaktion sprach mit acht Migranten innerhalb und außerhalb der Zentren: Ob sie sich noch einmal auf die Schlepper einlassen würden? Jeder von ihnen verneinte das entschieden. Die meisten haben für die gescheiterte Reise nach Europa umgerechnet deutlich mehr als 2000 Euro ausgegeben, sie haben Traumatisches erlebt – und wie Hayes Zeit in Abschiebeknästen in nordafrikanischen Ländern verbracht.

    Doch was ist mit denen, die derzeit überlegen, ob sie aufbrechen? Wie schnell und in welchem Umfang bekommen sie sich abzeichnende Änderungen in Europa mit, wie die in Deutschland vieldiskutierte Reform der Migrationspolitik mit eingeschränkten Leistungen?

    Nach dem Besuch in Niger Ende Oktober hält der Kontakt zu Hayes per WhatsApp an. Er kennt hunderte Migranten in Libyen. Schließlich hat er dort jahrelang gelebt und vor seiner gescheiterten Reise nach Europa in Restaurants und Geschäften gejobbt. Er sei "so eine Art Anführer" von Migranten aus Subsahara-Afrika gewesen, sagt er. Viele hätten sich ihm mit Informationen zu ausbeuterischen Schleppern anvertraut. Und über sie stehe er auch in Verbindung mit jungen Menschen in Westafrika, die ebenfalls mit dem Gedanken spielen würden, ihr Land zu verlassen.

    Davon gibt es viele. Laut der bisher größten Studie zum Thema durch das Umfrageinstitut Afrobarometer aus dem Jahr 2019 haben 37 Prozent der befragten Afrikaner in Erwägung gezogen auszuwandern. Mit großen regionalen Unterschieden: In Tansania war es nur jeder fünfte, in Sierra Leone dagegen jeder zweite Befragte. Lediglich rund ein Viertel will nach Europa. 36 Prozent gaben andere Länder Afrikas als Zielort an. Allerdings hätten insgesamt nur drei Prozent der Befragten entsprechende Vorbereitungen getroffen, heißt es. Aktuellere aber weniger repräsentative Studien, wie eine der südafrikanischen Ichikowitz Family Foundation, gehen seit der Pandemie von einem noch weiter gestiegenen Anteil emigrationswilliger junger Afrikaner aus.

    Denzel Hayes jedenfalls erfährt von den in Deutschland diskutierten Veränderungen in der Migrationspolitik erst, als ihn die Redaktion per WhatsApp danach fragt. Er glaubt nicht, dass derartige Entwicklungen schnell in die Herkunftsländer vordringen werden. Die Informationen, die Ausreisewillige über Europa bekämen, würden oft von den Schleppern kommen, schreibt Hayes. Und die würden derartige Nachrichten nicht weitergeben, "um das Geschäft nicht zu verlieren. Dieses Geld schmeckt ihnen zu gut".

    Denzel Hayes hält es für unrealistisch, dass geringere Leistungen für Asylbewerber allzu abschreckend wirken werden

    Hayes kennt keinen Migranten, der aktiv die Nachrichten zum Thema eigenständig verfolge, erklärt er. Neben den Schleppern seien Afrikaner, die bereits in Europa lebten, die wichtigste Informationsquelle. "Nigerianer sprechen darüber mit Nigerianern, Senegalesen mit Senegalesen." Doch auch in der Diaspora gebe es oft direkte Verbindungen zu den Schleppernetzwerken. Der Migrant hält es für unrealistisch, dass geringere Leistungen für Asylbewerber allzu abschreckend wirken werden. Viele würden mit dem festen Glauben aufbrechen, schnell Arbeit zu finden. "Wir sind starke Menschen", schreibt Hayes.

    Und weiter: Derartige finanzielle Einschränkungen würden vielleicht für einige eine Rolle spielen, "den Rest kümmert das nicht allzu sehr". Es werde "wirklich Zeit" brauchen, bis das einen Effekt habe. Zumal immer mehr junge Afrikaner die sich verschlechternden Lebensbedingungen in ihren Ländern nicht mehr hinnehmen wollten. Es sind nicht nur die viel zitierten Pull-Faktoren in Europa, die Migration antreiben: Die sogenannten Push-Faktoren – wie die zuletzt steigende Zahl von Konflikten und Putschen in Afrika, dazu Massenarbeitslosigkeit und Klimawandel – spielen eine wohl noch größere Rolle. "Pull" lässt sich mit "herüberziehen" übersetzen, "push" mit "drücken", "schieben", "stoßen".

    Die Push-Faktoren könnten angesichts der jüngsten Entwicklung beispielsweise in Niger künftig weiter an Relevanz gewinnen. Auch in dem westafrikanischen Binnenstaat sind derzeit viele Migranten – auf dem Rückweg von Nordafrika in ihre Herkunftsländer – gestrandet. Wer sich auf den Weg nach Europa machte, der mied Niger in den vergangenen Jahren eher. Noch bis zum Jahr 2016 war der Wüstenstaat ein Drehkreuz auf der Reise nach Libyen. Dann zahlte Europa hunderte Millionen Euro an die Regierung, die sich mit der Einschränkung illegaler Migration erkenntlich zeigte.

    Das bedeutete: Armee und Polizei versperrten westafrikanischen Wirtschaftsflüchtlingen mit EU-finanzierten Patrouillen die Durchfahrt nach Libyen, verhafteten Schlepper, beschlagnahmten Geländewagen. Bundeskanzlerin Angela Merkel flog zweimal in den Niger, ihr Nachfolger Olaf Scholz kam bei seiner ersten Afrika-Reise vorbei.

    Das bestehende System wackelt gewaltig – in Niger häufen sich die Probleme

    Doch seit dem Putsch im Juli und der Entmachtung von Präsident Mohamed Bazoum wackeln die strategischen Rollen des Landes als letzte demokratisch legitimierte Bastion im Kampf gegen die Terroristen der Sahelzone und als Blockade für Migranten. Über die zukünftige Ausrichtung der nigrischen Migrationspolitik wird einige Straßen vom IOM-Zentrum entfernt in einem Bürogebäude beraten. Dort sitzt Ousmane Mamane, ein stattlicher Mann im weißen Gewand unter flackerndem Halogenlicht. Er leitet die federführende Regierungsagentur im Kampf gegen Schlepper, die ANTLP. Schon vor dem Putsch sei etwa der Widerstand aus der Stadt Agadez gegen die Grenzpatrouillen groß gewesen, erzählt er. Schließlich hätten viele deshalb ihr lukratives Einkommen verloren.

    Vor einigen Wochen habe der Chef der Militärjunta, Abdourahamane Tchiani, nun lokale Politiker in Agadez getroffen, sagt Mamane. "Sie haben neben der Abschaffung des Gesetzes die Freilassung der inhaftierten Schlepper und die Rückgabe der beschlagnahmten Geländewagen gefordert." Tchiani habe ihn dann aufgefordert, einen Bericht zu erstellen, sagt Mamane, er warte noch auf einige Schriftstücke aus Agadez. Am Ende sei es dann Tchiani, der auf dieser Grundlage per Dekret entscheide.

    Das System also wackelt gewaltig. Das Regierungsbudget wird nach dem Putsch wegen eingefrorener Budgethilfen, Sanktionen und anderer wirtschaftlicher Folgen von fünf auf drei Milliarden Euro sinken. Das hat Auswirkungen auf die Bereiche Gesundheit und Bildung – und auf den Grenzschutz. "Wir arbeiten auch ohne die EU-Hilfe weiter an der Kontrolle der Migrationswege", sagt Mamane, "aber unsere Mittel sind jetzt sehr eingeschränkt, wir müssen uns auf bestimmte Routen konzentrieren".

    Die Zahl der Reisenden durch den Niger in Richtung Libyen war nach dem Höchstwert von 2016, als IOM-Angaben zufolge knapp 300.000 in Richtung Libyen zogen, zunächst deutlich gesunken: auf maximal 50.000 jährlich. Aber es spricht einiges dafür, dass die Patrouillen bereits seit Längerem nachgelassen haben. Im Jahr 2022 jedenfalls stieg die Zahl der Migranten auf dem Weg in Richtung Libyen deutlich auf 109.000.

    Denzel Hayes sagt: "Ich will keine Last sein, sondern eine Bereicherung"

    Ihr Weg gen Norden führt sie dabei oft weit vor Erreichen des Mittelmeers ins Verderben. Auf seinem Handy hat Denzel Hayes Dutzende Sprachnachrichten von Migranten aus westafrikanischen Ländern, die noch in Nordafrika leben. Einige berichten, dass sie alle Zahlungen an Schlepper von Familienmitgliedern mit mobilen Bezahldiensten abwickeln ließen. Eine weise Entscheidung, denn in anderen Nachrichten berichten Migranten, dass ihr Bargeld mal von Schleppern, mal von Grenzsoldaten oder Polizisten einkassiert worden sei. Hayes erzählt von Betrügern, die Migranten abkassieren und dann verschwinden. Und er erzählt von den dominierenden Schlepper-Netzwerken mit Anführern in Algerien, Libyen, aber auch Mali. "Sie sind sehr zentralisiert und mit der Polizei in mehreren Ländern verbunden", sagt er, "wer ihnen in die Quere kommt, dessen Familie kann ausgelöscht werden." In Libyen gehöre einer der Söhne von einem hochrangigen Mitarbeiter der Küstenwache zu den wichtigsten Menschenschmugglern. Nur wer ihn bezahle, werde auch durchgelassen.

    Seit knapp einem Jahr wartet Hayes auf die Rückreise mit einem von der IOM organisierten Flug in seine Heimat Liberia. Es fehlen noch Unterlagen, zudem erschwert der im Juli erfolgte Putsch in Niger seine Weiterreise, die Grenzen sind geschlossen. Er hat viel Zeit zum Nachdenken. Über seine eigene Flucht vor dem Bürgerkrieg in Liberia vor 20 Jahren. Über seine Mutter, die er seitdem nur in Video-Calls gesehen hat. Über seinen gescheiterten Traum, in Deutschland zu arbeiten. Stattdessen hat er als Flüchtling in Nigeria ein Studium als Maschinenbauer abgeschlossen und lange in Libyen in einer Werkstatt geschraubt.

    Inzwischen arbeitet Hayes an der Verwirklichung seines neuen Traums. Er will in Liberia eine Hilfsorganisation für abgefangene Migranten gründen, um ihnen bei der Reintegration zu helfen. Die Konzepte dafür hat er schon geschrieben. "Ich will keine Last sein", sagt er, "sondern eine Bereicherung."

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