Jüdische Schulleitungen berichten von halb leeren Klassenzimmern. Eltern haben Angst, ihre Kinder in den Unterricht zu schicken. In Berlin kommt ein 14-Jähriger mit Palästina-Flagge in die Schule und streckt seinen Lehrer mit einem Kopfstoß nieder, als dieser ihm das Tragen verbietet. An bayerischen Schulen gehen Bombendrohungen ein, die Mails teils unterzeichnet mit "Hamas": Seit die palästinensische Terrororganisation Israel angegriffen hat, summieren sich die antisemitischen Taten unter Jugendlichen. Dass sich "Du Jude!" hartnäckig als Schimpfwort auf den Pausenhöfen hält, ist inzwischen nurmehr ein kleiner Teil des Problems.
Björn Milbradt ist Soziologe am Deutschen Jugendinstitut (DJI) mit Hauptsitz in München. Er registriert, dass unter Jugendlichen teils eine "Vereinfachung der Ereignisse" beim Krieg im Nahen Osten sichtbar werde und eine "vorurteilsbehaftete Reaktion", vor allem auf Israel als Staat. Ihr Antisemitismus ist also oft eher Antizionismus, Hass auf Israel. Milbradt sieht die Feindlichkeit als "übergreifendes Phänomen", sowohl unter rechtsextremen, linken als auch muslimischen Gruppen. "Der Großteil antisemitischer Straftaten wird nach wie vor von Rechtsextremen begangen", sagt der Sozialwissenschaftler, der an der DJI-Außenstelle Halle forscht. "Aber in der Tat zeigt sich gerade auch bei vielen Muslimen eine sehr problematische, einseitige und teils antisemitische Sichtweise."
Antisemitismus als Reaktion auf Krisenphänomene
Studie um Studie belegt, dass die Jugend längst nicht mehr ausschließlich grün und klimabewegt ist. In der Shell-Jugendstudie 2019 ordnete sich ein Drittel der 15- bis 25-Jährigen als dem Populismus zugeneigt oder nationalpopulistisch ein. Bei der Juniorwahl kürzlich in Bayern erwies sich die AfD als Partei mit dem meisten Zuwachs, die Grünen als große Verlierer – und bei der Landtagswahl war die AfD bei Erst- und Jungwählern stärker als im bayerischen Schnitt. "Junge Menschen leben oft seit ihrer Geburt in einer krisengeschüttelten Welt", sagt der Soziologe. "Einfache Lösungen und das Ausweichen auf Vorurteile stellen einen Weg dar, damit umzugehen." Antisemitismus sei seit jeher "eine ideologische Reaktion auf Krisenphänomene". Dazu kommt der Einfluss der "Peer Groups", also den prägenden Freundeskreisen, und vor allem der sogenannten sozialen Medien.
Wie über Online-Plattformen antisemitisches Gedankengut in die Köpfe von Kindern und Jugendlichen gepflanzt wird, zeigt ein gemeinsamer Bericht der Vereinten Nationen, der Unesco und des Jüdischen Weltkongresses. Er analysierte anhand von 4000 Beiträgen, wie auf großen Social-Media-Plattformen der Holocaust thematisiert wurde. Auf der Querdenker-Plattform Telegram verzerrten oder leugneten Nutzer in fast 50 Prozent der Beiträge den Holocaust, auf Twitter (jetzt X) waren es 19 Prozent, auf Platz drei: Tiktok mit 17 Prozent. Keine Plattform ist zuletzt schneller gewachsen, geschätzt rund 70 Prozent der Nutzerinnen und Nutzer sind zwischen 16 und 24 Jahren alt. Die Täter dort würden, so die Forschenden, "humorvolle und parodistische Memes als Strategie einsetzen, um antisemitisches Gedankengut zu normalisieren". Ein nettes Bildchen mit Text, manchmal animiert, meist harmlos auf den ersten Blick. Auf den zweiten nicht mehr.
Influencer, die eben noch für Shampoo und Handtaschen warben oder für sich selbst, veröffentlichen israelkritische Storys. Die deutsche Nora Achmaoui zum Beispiel, Model, Unternehmerin und Instagram-Bekanntheit mit über 420.000 Followern. Gerade teilt sie Videos wie "Israel Palästina einfach erklärt" und stellt Israelis als gewalttätige Besatzer dar. "Hamas existiert, weil Palästinenser aktiven Widerstand benötigen", schreibt sie, "Wacht auf!". Die 25-jährige, die mit einem Palästinenser verheiratet ist, ruft alle "Influencer-Kollegen" auf, "nicht wegzusehen und sich weiterzubilden. Euch selbst UND eure Follower." Weiterbilden, das heißt vor allem: Israels Siedlungspolitik kritisieren, Hamas verharmlosen.
Die queere Rapperin Nura wurde aus der ProSieben-Show "Late Night Berlin" ausgeladen, nachdem sie einen Tag nach dem Angriff der Hamas einen Screenshot mit dem Schild "Free Palestine" auf Instagram hochgeladen hatte. Mittlerweile hat sie sich entschuldigt. Hip-Hop, ein weiteres Stichwort. Regelmäßig provozieren Rapper, teils zwielichtige Vorbilder gerade männlicher Jugendlicher, mit antisemitischen Zeilen oder Verschwörungserzählungen. Immer wieder gern in den Textzeilen: die Rothschild-Theorie, wonach eine reiche jüdische Familie quasi die ganze Welt regiert. Rapper Haftbefehl etwa spielte schon mehrfach in seiner Musik darauf an, weist antisemitische Motive aber zurück.
Junge Menschen verbreiten antisemitische Beiträge oft unreflektiert weiter
"Teilweise findet eine Täter-Opfer-Umkehr in Bezug auf Israel statt", sagt der Sozialwissenschaftler Björn Milbradt. "Die Hamas ist – auch in ihrer Selbstdarstellung übrigens – eine islamistische, antisemitische Terrorgruppe. Alle Meinungsäußerungen, die das unterschlagen, sind hochproblematisch. Aber vielfach werden sie unreflektiert rezipiert und weiterverbreitet." Der Zwischenschritt, nämlich solche Beiträge politisch einzuordnen und sich Kenntnis über den Konflikt zu verschaffen, fehle dann meist. Noch dazu sei die Hamas "virtuos" darin, sich auf den Kanälen als Widerstandsorganisation zu inszenieren. Deshalb ist es ihm zufolge auch so wichtig, Jugendlichen Medienkompetenz zu vermitteln.
Eine Forscherin, die sich seit vielen Jahren für Antisemitismusprävention im Unterricht einsetzt, ist Elisabeth Naurath, Professorin für Religionspädagogik an der Universität Augsburg. Schülerinnen und Schüler hätten ein großes Redebedürfnis zum Nahost-Krieg, weiß Naurath. "Lehrkräfte müssen das auffangen können – und zwar nicht nur, indem sie Wissen vermitteln, sondern auch die damit verbundenen Emotionen aufgreifen." Friedenspädagogische Ebene, nennt Naurath das. In beiderlei Hinsicht herrsche an den Schulen Nachholbedarf. "Wir brauchen jetzt ein Akut-Fortbildungsprogramm für Lehrkräfte zum Nahost-Konflikt", sagt die Lehrstuhlinhaberin. "Und langfristig mehr Inhalte zur Antisemitismusprävention in der Lehrkräfteausbildung." Denn: "Unter Jugendlichen sind Antisemitismen meist schon verfestigt. Wir müssen mit der Prävention schon in der Grundschule anfangen."