Missbrauchsopfer in Deutschland werden immer jünger. Das haben Polizeibehörden in den letzten Jahren feststellen müssen. "Wir reden da nicht nur von Kindergartenkindern, sondern von noch jüngeren Kleinkindern", bestätigt Marie Müller, Sprecherin des Bundeskriminalamts auf Anfrage unserer Redaktion. Die jüngste vorliegende Kriminalstatistik von 2017 weist 1612 Fälle von vollendetem oder versuchten Missbrauch an Opfern unter sechs Jahren aus.
In der überwiegenden Zahl der Fälle kamen die Täter laut Müller "aus dem familiären Umkreis des Opfers". Aber es gibt eben auch - wie mutmaßlich in Würzburg - zunehmend Fälle, wo die Täter Erzieher oder Betreuer waren. "Die Mehrzahl der Fälle sind Beziehungsdelikte, denn die Täter müssen zunächst langfristig das Vertrauen der kindlichen Opfer erschleichen. Dabei gehen sie äußerst vorsichtig vor, um ihren Missbrauch zu verdecken", erläutert die Sprecherin des Bundeskriminalamts.
Missbrauchsexperte erwartet "erheblichen Anstieg von Verfahren"
Dass bundesweit ein Anstieg bei Ermittlungsverfahren und Strafverfahren wegen Missbrauchsdarstellung bei Kindern zu verzeichnen ist, bestätigt auch der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig. "Hinter jeder Abbildung steckt ja ein realer Missbrauch", sagt dieser Experte im Gespräch mit unserer Redaktion. Er fürchtet, dass es in der Zukunft "durch die Möglichkeiten des Internets" noch zu einem weiteren "erheblichen Anstieg von Verfahren" kommt.
Gerade auch mit Blick auf den Würzburger Fall plädiert der Missbrauchsbeauftragte dafür, dass generell in Krippen, Kitas und Schulen - also überall dort, wo Eltern ihre Kinder Fachleuten anvertrauen - Schutzkonzepte wirksam umgesetzt werden. Rörig zufolge sollte in jedem Kindergarten oder in ähnlichen Betreuungseinrichtungen das "Vier-Augen-Prinzip" gerade in Schlaf- und Sanitärbereichen gelten. Konkret bedeutet das: Ein Erzieher sollte möglichst nie mit einem Kind allein sein, wenn er es wickelt oder ihm beim Toilettengang hilft. Sei aufgrund von Personalmangel das Vier-Augen-Prinzip nicht umsetzbar, sollte wenigstens die Raumtür offen sein oder der Raum durch ein Fenster in der Tür einsehbar sein. "In den rund 55.000 Kitas in Deutschland gibt es leider längst nicht überall solche Schutzkonzepte", bemängelt Rörig gegenüber unserer Redaktion.
Eltern sollen auf ihre Kinder hören, wenn diese nicht "angefasst" werden wollen
Im Würzburger Fall ist ein Logopäde festgenommen worden, der einerseits unter anderem Mitarbeiter des durchsuchten Kindergartens war, andererseits eine große Logopädie-Praxis betrieb. Ohne jetzt auf diesen Fall konkret einzugehen, rät Rörig dazu, dass Eltern dann, wenn ihre Kinder in Praxen behandelt werden, grundsätzlich "dabei und in der Nähe" bleiben; entweder direkt im Behandlungszimmer oder wenigstens in den Praxisräumen. "Es besteht eine große Gefahr, wenn man Kinder Erwachsenen alleine überlässt", sagt Rörig. Und auch wenn das abschreckend klinge, rate er Eltern doch grundsätzlich zu einer Art präventivem Misstrauen. "Man muss Kitas und Schulen mit den Augen des potentiellen Täters anschauen", sagt er. Von vornherein müssten in Einrichtungen, die Kinder beherbergen, klare Regeln aufgestellt werden, die "dazu angetan sind, Täterstrategien zu durchkreuzen".
Lesen Sie auch: Kindesmissbrauch: Diese Warnsignale sollten Eltern kennen
Rörig betont besonders, dass Eltern auf ihre Kinder hören und ihnen glauben sollten, wenn sie erklären, dass sie von einem Erzieher, einer Fachkraft, einem Logopäden oder Physiotherapeuten, nicht mehr "angefasst" oder behandelt werden wollten. "Kinder müssen wissen, dass sie sich beschweren können, wenn sie ein schlechtes Gefühl haben", sagt Rörig. Das gelte in besonderem Maß für behinderte oder beeinträchtigte Kinder. Hier sollten Eltern gerade bei Kindern, die schlecht kommunizieren könnten, drauf achten, ob sich deren Verhalten verändere.
Fragen dazu beantworten auch Experten für Missbrauch am Hilfetelefon der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung unter der Service-Hotline 0800-22 55 530.