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Wortlaut-Protokolle: Diese Menschen haben die Krise hautnah erlebt – und sprechen darüber

Wortlaut-Protokolle

Diese Menschen haben die Krise hautnah erlebt – und sprechen darüber

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    Kapitän Claus-Peter Reisch war 2018 mit dem Seenotrettungs-Schiff Lifeline unterwegs. Im Jahr 2019  nahm er wieder rund 100 Migranten vor der libyschen Küste auf.
    Kapitän Claus-Peter Reisch war 2018 mit dem Seenotrettungs-Schiff Lifeline unterwegs. Im Jahr 2019 nahm er wieder rund 100 Migranten vor der libyschen Küste auf. Foto: Johannes Filous, dpa

    Während die Auswirkungen der derzeitigen Corona-Krise in ihrer Tragweite noch kaum zu erfassen sind, wagen wir den Rückblick auf eine weitere Krise, die Europa in seinen Grundfesten erschütterte. Fünf Jahre ist es inzwischen her, dass die Flüchtlingskrise die Mitgliedstaaten der Europäischen Union in politische Lager spaltete. Doch inwiefern hat diese Krise das Leben von einzelnen Menschen aus Bayern betroffen? Wir stellen Ihnen hier im Wortlaut fünf Geschichten vor, die sich abseits von Brüssel abgespielt haben.

    Claus-Peter Reisch – war Kapitän des Seenotrettungs-Schiffes Lifeline

    "Ich bin Segler und war 2015 im Mittelmeer unterwegs. In Kalabrien sah ich die Boote der Geflüchteten. Mich empörte die Diskussion, ob NGOs als Seenotretter agieren sollten. Als Segler verinnerlicht man, dass ein Mensch in Seenot gerettet werden muss. Ich entschied, selbst mitzumachen.

    Bekannt wurde die Fahrt mit dem Schiff Lifeline im Juni 2018: Wir hatten 234 Geflüchtete vor dem Ertrinken gerettet. Mit den geschwächten Menschen an Bord mussten wir sechs Tage vor Malta kreuzen, bis wir in den Hafen einfahren durften. Mit dem Schiff Eleonore waren wir 2019 sieben Tage und sieben Nächte mit 104 Geflüchteten auf 46 Quadratmetern unterwegs, bis ich das Schiff ohne Freigabe der Behörden in einen sizilianischen Hafen steuerte. Dafür gab es einen Strafbefehl über 300.000 Euro, wogegen ich Widerspruch eingelegt habe.

    Ich bin ein Mensch, der Auseinandersetzungen nicht aus dem Weg geht, und die äußeren Umstände sorgten dafür, dass ich mich jetzt politisch äußere. Von Afrika-Reisen weiß ich, wie die Realität dort aussieht. Fluchtursachen müssen bekämpft werden, beispielsweise dürfen afrikanische Märkte nicht mit europäischem Dumping-Hühnerfleisch überschwemmt werden. Waffenexporte müssen gestoppt werden. Eine offizielle Seenotrettung, wie die italienische Mission Mare Nostrum, die im Jahr 2014 aufgelöst wurde, muss wieder geschaffen werden." Aufgezeichnet von Stephanie Millonig

    Fadi Aslan kam Ende 2015 als Flüchtling nach Deutschland. Heute verkauft er Seifen aus eigener Herstellung. Hier vor seinem Laden im Hollenbacher Ortsteil Motzenhofen.
    Fadi Aslan kam Ende 2015 als Flüchtling nach Deutschland. Heute verkauft er Seifen aus eigener Herstellung. Hier vor seinem Laden im Hollenbacher Ortsteil Motzenhofen. Foto: Marlene Weyerer

    Fadi Aslan – kam als Flüchtling nach Aichach-Friedberg und hat jetzt ein Unternehmen

    "Meine Familie und ich haben in Aleppo gewohnt. Ich bin Chemiker und hatte dort eine Firma, die Seife aus natürlichen Ölen produziert – Aleppo-Seife. Wir mussten fliehen, weil Krieg war. Ich bin mit dem Boot nach Griechenland und dann über Polen nach Bayern. Warum hierher? Weil Deutschland Flüchtlingen, die in anderen Ländern angekommen sind, erlaubt hat, einzureisen. Meine Frau ist mit unserem Sohn Antoine getrennt hergekommen. Antoine war damals drei Jahre alt. Ende 2015 bin ich hier angekommen. Ich war von Anfang an in Hollenbach.

    Vom ersten Tag an in Deutschland habe ich gesagt, ich mache weiter. Das Interesse an Naturkosmetik ist groß. Am Anfang war es schwierig mit der Sprache. Ich habe ein Jahr einen Deutschkurs gemacht. Dann habe ich einen Kurs bei der IHK gemacht, um zu wissen: Wie funktionieren hier Firmen? 2018 habe ich dann eine Firma gegründet. Sie heißt Solo Naturkosmetik. Meine Frau ist eigentlich Französischlehrerin, arbeitet aber mit mir.

    Die Leute in Hollenbach haben uns am Anfang gleich geholfen, eine Wohnung zu finden. Wir sind insgesamt fünf Mal in Hollenbach umgezogen. Erst hatten wir einen Raum, dann zwei Räume. Jetzt haben wir seit zwei Monaten eine Wohnung mit Garten. Ich lebe mit meiner Frau und unseren zwei Söhnen. Antoine ist acht und Josef ist drei, er ist hier geboren. Meine Frau und ich denken viel an Syrien, aber zurückkehren werden wir nicht. Für die Kinder ist hier ihre Heimat." Aufgezeichnet von Marlene Weyerer

    Marlies und Ulrich Gampert von der evangelischen Kirchengemeinde Immenstadt in der Erloeserkirche in Immenstadt.
    Marlies und Ulrich Gampert von der evangelischen Kirchengemeinde Immenstadt in der Erloeserkirche in Immenstadt. Foto: Dominik Berchtold

    Marlies und Ulrich Gampert – haben als Pfarrer in Immenstadt Kirchenasyl gewährt

    "Die Kirchengemeinde Immenstadt hat in den vergangenen Jahren drei Mal Kirchenasyl gewährt. Mit den sehr verschiedenen Personen haben wir ähnliche Erfahrungen gemacht. Durch unsere Gäste im Kirchenasyl haben wir viel darüber gelernt, wie Muslime ihren Glauben leben. Wir haben erfahren: je mehr wir im alltäglichen Leben zusammenwachsen, desto unbedeutender werden die Unterschiede der religiösen Prägung, obwohl jeder seine Glaubenstradition aktiv lebt. Durch die Erlebnisse auf der Flucht sind die meisten Flüchtlinge traumatisiert. Diese Verletzungen der Seele können nur an einem Ort der Geborgenheit heilen.

    Das Grundrecht auf Asyl in Deutschland

    In Deutschland ist das Recht auf Asyl im Grundgesetz verankert. Festgelegt ist dies in Artikel 16a. Dort heißt es in Absatz eins: «Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.» Tatsächlich wird das Asylrecht in der Bundesrepublik damit - anders als in vielen anderen Staaten - nicht allein aufgrund der völkerrechtlichen Verpflichtung aus der Genfer Flüchtlingskonvention gewährt, sondern hat Verfassungsrang.

    Mit dem sogenannten Asylkompromiss von 1993 wurde dieses Grundrecht allerdings deutlich eingeschränkt. Unter dem Eindruck stark gestiegener Asylbewerberzahlen vor allem aus dem damaligen Jugoslawien setzten Union, FDP und SPD damals eine Grundgesetzänderung durch. Eine Folge: Wer über einen sicheren Drittstaat einreist, konnte sich seither nicht mehr auf das Asylgrundrecht berufen.

    In der Praxis bekommen Menschen, die heute vor Krieg und Krisen nach Deutschland fliehen, nur selten eine Asylberechtigung nach Artikel 16a des Grundgesetzes. Die meisten erhalten Flüchtlingsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention oder einen eingeschränkten (subsidiären) Schutz. Das gilt für Menschen, die nicht als politisch verfolgt gelten, aber trotzdem bleiben dürfen, weil ihnen in der Heimat «ernsthafter Schaden» droht - wie Folter, Todesstrafe oder willkürliche Gewalt in einem bewaffneten Konflikt.

    In Deutschland leben die meisten Flüchtlinge jedoch in dauerhafter vor Abschiebung. Ein Bleiberecht von wenigstens fünf Jahren gäbe für viele junge Geflüchtete die Chance, dass die Traumata der Flucht heilen könnten, um anschließend ihr Leben eigenverantwortlich in die Hand nehmen zu können. In Deutschland leben wir dankenswerter Weise in einem Rechtsstaat. Darf es in einem solchen Rechtssystem so etwas wie "Kirchenasyl" geben? Auch in einem Rechtsstaat kann es sein, dass das geltende Recht bei seiner Durchsetzung zu Unmenschlichkeiten führt, die Menschen in ihrer gesamten Existenz dauerhaft beschädigen. In diesem Zusammenhang mahnt Kirchenasyl in den Entscheidungsprozessen des Rechtsstaats den Aspekt der Barmherzigkeit an." Aufgezeichnet von Markus Raffler

    Johann Stark ist der Leiter Ausländerbehörde am Landratsamt Donau-Ries in Donauwörth.
    Johann Stark ist der Leiter Ausländerbehörde am Landratsamt Donau-Ries in Donauwörth. Foto: Thomas Hilgendorf

    Johann Stark – war Leiter der Ausländerbehörde in Donauwörth

    "Ob wir es geschafft haben, fünf Jahre nach Angela Merkels berühmtem Satz? Ich würde sagen, wir haben es gerade noch geschafft. Wäre die Zuwanderung weiter so unkontrolliert vonstatten gegangen, wäre die Ordnung hierzulande letztlich aus dem Ruder gelaufen. Gerade noch rechtzeitig konnte der Staat die Kontrolle wieder übernehmen. Unkontrollierte Zuwanderung kann nicht im Interesse des Staates sein, wir sind ja auch der Ordnung im Land verpflichtet." Aufgezeichnet von Thomas Hilgendorf

    Polizei-Hauptkommissarin Sabine Dittmann berichtet, dass die Flüchtlinge anfangs auf eigene Faust unterwegs waren.
    Polizei-Hauptkommissarin Sabine Dittmann berichtet, dass die Flüchtlinge anfangs auf eigene Faust unterwegs waren. Foto: Matthias Becker

    Sabine Dittmann – erlebte als Hauptkommissarin Zwölf-Stunden-Schichten an der Grenze

    "Ich hatte gerade ein paar Tage dienstfrei und war in Südtirol beim Lachsforellen-Angeln. Dort bekam ich am Sonntag, 12. September 2015, auf dem Handy einen Anruf vom Dienstgruppenleiter des Bundespolizei-Reviers Kempten: Das Bundesministerium des Inneren hat soeben wegen des Zustroms von Flüchtlingen die Wiedereinführung der Bayerns Grenzpolizei verstößt in Teilen gegen die VerfassungVerfassungsgerichtshofGrenzkontrollen ab Montag mit Schwerpunkt an der Grenze zu Österreich bekanntgegeben. Also packte ich alles zusammen und traf mich mit meinen Kollegen am Montag, 13. September, um 6 Uhr in der Kemptener Dienststelle, die für den Großraum Allgäu zuständig war.

    Wir fuhren dann zum Grenztunnel nach Füssen und kontrollierten dort und an der Ausweichroute über Füssen-Ziegelwies die Fahrzeuge, die aus Österreich nach Deutschland fuhren. Das geschah auf Sicht und wir mussten anfangs viel improvisieren. Schließlich gab es wegen des Schengen-Abkommens seit Jahren keine Grenzstationen mehr innerhalb dieses Raumes. Auch in Lindau an der A 96 und in Lindau-Zech kontrollierten wir Einreisende. Ebenso fuhren wir in den aus Österreich kommenden Zügen mit. Wir hatten damals jeweils sechs Tage am Stück Zwölf-Stunden-Schichten und dann drei Tage frei. Zur Unterstützung bekamen wir Kollegen aus anderen Revieren zugeteilt. Anfangs waren die Flüchtlinge auf eigene Faust unterwegs. Professionelle Schleuser stellten wir erst ab 2016 fest." Aufgezeichnet von Stefan Binzer

    Politikwissenschaftler Werner Patzelt.
    Politikwissenschaftler Werner Patzelt. Foto: Ronaldbonss.com

    Werner Patzelt – beobachtete die Flüchtlingskrise 2015 als Politikwissenschaftler

    "Der große Fehler der Bundesregierung war es, den Eindruck zu erwecken, dass künftig jeder auf der Welt zu uns kommen könne und willkommen sei. Stattdessen hätte die Regierung gegenüber dem Ausland und der eigenen Bevölkerung klarstellen müssen: Unter Nichtbeachtung geltender Regeln werden wir genau jene aufnehmen, die bislang in Ungarn gestrandet sind. Mit einer solchen Politik hätte es keine erstarkende AfD gegeben, auch nicht die große Zahl von tatsächlich integrationsunwilligen Zuwanderern.

    Als man die Bilder von den immer neuen Flüchtlingsbooten sah, wurde doch schnell klar, dass auf ihnen nur wenige Frauen und Kinder sind, sehr wohl aber viele junge Männer. Auch zeigte sich rasch, dass – anders als von so vielen behauptet – nur in vergleichsweise seltenen Fällen Ärzte oder Ingenieure oder wirklich gut Ausgebildete zu uns kamen, die leicht Teil unserer Gesellschaft werden könnten. Unterm Strich hat unsere, damals auch ohne sonderliches Widerstreben der Opposition durchgeführte, Flüchtlingspolitik zur Einwanderung in unsere Sozialsysteme geführt. Das Beste an alledem war noch, dass unsere Gesellschaft mehrheitlich bewundernswert guten Willen und vorbildliche Organisationskraft bewiesen hat. Mit einem abgewandelten Dichterwort könnte man das Geschehene so zusammenfassen: Kurz war der Rausch, lang ist die Reue – oder immerhin der Kater." Aufgezeichnet von Simon Kaminski

    Dieser Text ist Teil unserer Themenwoche "5 Jahre Flüchtlingskrise - Wir schaffen das". Alle Artikel finden Sie hier.

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