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Wilde Tiere in Bayern: Wolf, Bär und Steinadler: Wie viel Wildnis vertragen wir in Bayern?

Wilde Tiere in Bayern

Wolf, Bär und Steinadler: Wie viel Wildnis vertragen wir in Bayern?

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    Der Wolf ist bei vielen Landwirten im Allgäu nicht gern gesehen.
    Der Wolf ist bei vielen Landwirten im Allgäu nicht gern gesehen. Foto: Patrick Pleul, dpa (Symbol)

    Stille. Natur. Feine fallende Flocken. Und grüne Bäume, weiß eingezuckert, eingehüllt von schmuckem Schneegestöber. Die Augen brauchen einen Moment, um sich im Grauspiel dieses Novembertages zurechtzufinden, ehe sie sich an das Fernrohr gewöhnt haben, an das wilde Tanzen der Flocken vor der Linse, an den dichten Nebel, der einen trüben Filter auf die Welt legt. Und daran, dass der Blick in die Weite katapultiert wird, hinein ins Geäst der Wälder, die an den Hängen des Himmelschrofens aufwärts streben. Irgendwo hier könnte er sein, könnte er fliegen, spähen, jagen. Werden wir heute einen Steinadler sehen?

    Henning Werth steht am Ufer eines kleinen Stausees im Stillachtal, am Fuße der Berge, ganz in der Nähe von Oberstdorf. Hinter ihm ragen die Alpengipfel aus den finsteren Wolken, die so tief hängen, dass man das Gefühl hat, sie greifen zu können. Werth, Biologe und Schutzgebietsbetreuer der Allgäuer Hochalpen, zieht seine warme Wollmütze über die Ohren. „Unsere Chancen, einen Adler zu sehen, stehen nicht schlecht“, sagt er und tritt an das moosgrüne Fernrohr heran. Werth kennt sich mit den Greifvögeln aus. Er weiß, wo sie brüten und was sie fressen – und er weiß, dass den Tieren einst schlimm zugesetzt wurde, weil man dachte, sie würden das Rotwild erlegen und kleine Kinder erbeuten. „Alles völlig absurd“, sagt Werth und blickt durch die Linse.

    Einst war der Steinadler im Freistaat fast ausgerottet.
    Einst war der Steinadler im Freistaat fast ausgerottet. Foto: Hermann Ernst

    Dennoch: Die Vögel wurden erbarmungslos gejagt. Ende des 19. Jahrhunderts gab es kaum mehr Steinadler in Bayern. Sie wurden abgeschossen oder vergiftet – und beinahe ausgerottet. Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die Greifvögel dann unter Naturschutz gestellt. Heute hat sich der Bestand erholt – und niemand würde doch ernsthaft bezweifeln, dass das eine gute Nachricht ist.

    Der Mensch unterscheidet zwischen guten und schlechten Tieren

    Angesichts dessen kommt man nicht umhin, zu bemerken, dass da etwas nicht zusammenpasst. Dass es ein Missverhältnis gibt zwischen den Tieren, die uns willkommen sind, und denen, die von vielen Menschen am liebsten zum Teufel gejagt würden. Es ist ein bisschen wie das Sortieren der Linsen im Aschenputtel-Märchen – unsere Tierwelt wird aufgeteilt in die Guten und die Schlechten.

    Um es auf den Punkt zu bringen: Die meisten freuen sich, dass es wieder mehr Steinadler gibt, dass bald Bartgeier in Bayern angesiedelt werden sollen. Aber wenn ein Wolf durch die Wälder des Freistaats streift oder sich ein Bär blicken lässt, dann dauert es meist nicht lange, bis die ersten Menschen fordern, den Tieren das Fell über die Ohren zu ziehen.

    Und in diesem Zwiespalt muss man sich schon fragen: Wie viel Wildnis wollen wir eigentlich?

    Es gibt da zwei ganz grundsätzliche Weltanschauungen, die regelmäßig mit voller Wucht aufeinanderprallen. Auf der einen Seite stehen Menschen wie Biologe Werth, die sich für den Schutz der Natur und ihrer wilden Bewohner einsetzen. Auf der anderen die Bauern, die sich um ihr Vieh und ihre wirtschaftliche Existenz sorgen. Und diese Kluft gibt es schon lange. Die Debatte ist mehrere Jahrhunderte alt. „Jedes Nutztier, das damals verloren ging, war eine Katastrophe“, sagt Werth und blickt hinaus auf den Stausee.

    Der Wind hat aufgefrischt, lässt die Grashalme unter einer dünnen, durchsichtigen Schneeschicht beben. „Alles, was das Nutzvieh früher gefährdet hat, wurde als Schädling bezeichnet“, sagt der Biologe. Die Berge dienten den Tieren damals als Rückzugsort, im unwegsamen Gelände war es nicht einfach, ihnen nachzustellen. Deswegen, erklärt Werth, gebe es in den Alpen auch heute noch so viele verschiedene Arten. Der Wildtierexperte blickt durch sein Fernrohr und sagt: „Es wird sich zeigen, inwieweit sich die Alpen auch künftig als Rückzugsort für wilde Tiere eignen.“

    Immer wieder kracht es zwischen Mensch und Tier

    Denn zwischen Mensch und Tier kracht es immer wieder. Und zwar heftig. Etwa 2006. In Deutschlands Fußballmärchen-Sommer. Damals streunte Bruno durch den Freistaat. Problembär Bruno, wie er später genannt werden sollte. Am Anfang war die Euphorie noch groß, man rollte dem Raubtier gewissermaßen den roten Teppich aus, freute sich, dass nach rund 150 Jahren wieder ein Bär in Bayern gesehen wurde. Doch dann kippte die Stimmung. Bruno riss Schafe, näherte sich immer wieder Dörfern – und wurde schließlich zum Abschuss freigegeben.

    Es formierte sich eine gigantische Pro-Bruno-Fraktion, die das nicht hinnehmen wollte – genutzt hat der ganze Protest am Ende aber nichts. Bruno wurde abgeschossen. Ein bisschen fühlte man sich vor wenigen Wochen an diese Geschichte erinnert, als in der Nähe von Balderschwang Bären-Kot entdeckt wurde. Die Aufregung war groß – obwohl niemand im Allgäu das Tier tatsächlich gesehen hatte. Wenig später aber war im Landkreis Garmisch-Partenkirchen tatsächlich ein Bär von einer Wildtierkamera fotografiert worden – vielleicht war es derselbe.

    Im Landkreis Garmisch-Partenkirchen wurde ein Bär von einer Kamera fotografiert, im Allgäu wurden Bären-Kot gefunden.
    Im Landkreis Garmisch-Partenkirchen wurde ein Bär von einer Kamera fotografiert, im Allgäu wurden Bären-Kot gefunden. Foto: Christophe Gateau, dpa (Symbol)

    Nicht nur der Bär hat sich – wenn auch nur vorübergehend – wieder nach Bayern gewagt. Auch der Luchs ist zurück, nachdem er 150 Jahre verschwunden war. Doch die Bestände erholen sich nur langsam – wohl auch, weil die großen Katzen immer wieder illegal abgeschossen werden. Offiziell wurden zwischen 2000 und 2017 sechs getötete Luchse im Bayerischen Wald gefunden. Experten gehen aber von einer deutlich höheren Dunkelziffer aus.

    Der Zwist zwischen Mensch und Tier kanalisierte sich auch – oder vor allem – im Sommer 2018, als ein Wolf durchs Allgäu streifte und mehrere Kälber riss. Plötzlich war sie wieder da, die Angst vor dem gefräßigen Räuber. Besorgte Bauern holten ihre Tiere von der Weide und sperrten sie in den Stall. Es gab sogar Kindergartengruppen, die sich nicht mehr in den Wald trauten. Mit einem Mal, so schien es jedenfalls, gab es da wieder diese Mär vom bösen Wolf, wurden die alten Geschichten lebendig, die man sich früher in stickigen Wirtshausstuben zuraunte – kurzum: der ganze Rotkäppchen-Mythos kroch aus der Vergessenheit hervor. Man musste nicht lange suchen, um einen Landwirt zu finden, der der Meinung war: Der Wolf passt nicht in unsere Welt – deswegen muss er weg.

    Die bayerischen Nutztierhalter sind um ihr Vieh besorgt

    Einer, der das genauso sieht, ist Franz Hage, Vorsitzender des Alpwirtschaftlichen Vereins im Allgäu. Er sagt: „In unserer dicht besiedelten Bergregion brauchen wir keinen Wolf. Das geht absolut nicht. Und wenn einer auftaucht, dann gehört er weg.“ Schutzzäune würden nicht funktionierten, das Gebiet sei zu steinig und felsig, sagt Hage. Derlei hört man immer wieder von den Landwirten. Die riesengroßen Weideflächen der Allgäuer Alpen einzuzäunen sei undenkbar, argumentieren sie.

    Und überhaupt: „Wer soll denn die ganze Arbeit machen?“, fragt Hage. Natürlich sei der Wolf ein Teil der Natur, das wolle er auch gar nicht in Abrede stellen. Und er plädiere ja auch gar nicht dafür, die Tiere auszurotten, fügt er hinzu. „Aber die müssen so bejagt werden, dass die Stückzahl erträglich ist.“

    Hage wird wohl vielen Nutztierhaltern aus der Seele sprechen – den meisten anderen Bürgern aber nicht. Denn dass der Großteil der Menschen sich über die Rückkehr des Wolfes freut, das zeigt eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag des Naturschutzbundes Deutschland. Der Studie aus dem Jahr 2015 zufolge ist die Situation die: 80 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass Wölfe ebenso zu unserer Natur gehören wie Rehe oder Füchse. Etwa jeder zweite verbindet mit dem Wolf sogar positive Gefühle. Nur elf Prozent empfinden die Rückkehr des Wolfes als Bedrohung.

    Viele Landwirte fürchten eine Rückkehr der Wölfe in heimische Wälder.
    Viele Landwirte fürchten eine Rückkehr der Wölfe in heimische Wälder. Foto: Karl Aumiller (Archiv)

    Zurück am Stausee. Biologe Henning Werth presst die Augen ans Fernrohr. Dann geht er einen Schritt zurück, lächelt und deutet auf einen Baumwipfel. „Wir haben Glück“, sagt er. „Dort sitzt ein Steinadler.“ 46 Steinadler-Reviere gibt es in den bayerischen Alpen, zehn davon im Oberallgäu und eines im Ostallgäu. Von 1997 bis 2006 existierte ein Artenhilfsprogramm für den Steinadler. Das ist zwar mittlerweile ausgelaufen, Werth und seine Kollegen machen aber trotzdem weiter. „Wir versuchen, den Bruterfolg zu erheben, überprüfen, welche Horste genutzt werden, beobachten die Jungvögel beim Ausfliegen und schlagen geeignete Schutzmaßnahmen vor, etwa, dass sich Hubschrauberpiloten von den Horsten fernhalten“, sagt Werth und blickt in Richtung Wald, dort, wo der Adler auf der Spitze eines Baumes sitzt. Wie ein schwarzer Schatten hebt er sich vom Himmel ab. Gut einen Meter ist das Tier hoch, fünf Kilo schwer. Würde es seine gewaltigen Flügel aufspannen, wären sie zwei Meter lang.

    Werth und seine Kollegen führen immer wieder Naturfreunde durch die Gegend, zeigen ihnen die majestätischen Vögel. „Es geht darum, den Blick zu erweitern, die Augen zu öffnen. Nur was man kennt, kann man auch schützen“, sagt Werth. Ihm sei bewusst, dass es zwischen Mensch und Tier immer wieder Konflikte gebe. „Man muss die unterschiedlichen Bedürfnisse zusammenbringen“, sagt er und zieht den Reißverschluss seiner Jacke hoch.

    Wie nimmt man den Bauern die Angst vor Wolf und Co.?

    Nur: Wie soll das funktionieren? Wie schafft man Akzeptanz, wie nimmt man Ängste? Mit diesen Fragen beschäftigt sich Claus Kumutat, Präsident des bayerischen Landesamtes für Umwelt. Er sagt: „Wir haben es verlernt, mit wilden Tieren zu leben. Wir haben vergessen, dass es in den Wäldern einst mehr gab als Hasen und Rehe.“ Er könne verstehen, dass sich die Nutztierhalter Sorgen machen. „Deswegen müssen wir auch darüber reden und versuchen herauszufinden, wie wir insbesondere Weidetiere schützen können“, sagt er. „Man muss die Nutztierhalter ins Boot holen, um Akzeptanz zu schaffen.“

    Derzeit ist es damit allerdings noch nicht weit her. In der Diskussion mit den Landwirten höre er immer wieder, dass die Schutzmaßnahmen, die man den Bauern vorschlage, nicht funktionieren würden oder zu aufwendig seien, erzählt Kumutat. „Deswegen müssen wir gemeinsam herausfinden, was geht – und was nicht. Fakt ist, dass wir etwas tun müssen, damit etwa der Wolf nicht an die Weidetiere herankommt.“ Das Landesamt verleiht an Landwirte, in deren Region ein Wolf nachgewiesen ist, als kurzfristige Soforthilfe Elektrozäune. Außerdem werden Schäden über einen Ausgleichsfonds ersetzt. Um Geld, meint Kumutat, gehe es aber nicht allein, sondern auch um das Wohl der Rinder, Kälber oder Schafe. „Die Tierhalter hängen an ihren Tieren.“

    Am Fuße des Himmelschrofens ist es Nachmittag geworden. Wildtierexperte Werth deutet nach rechts. Zwei Gämsen. Auf die könnte es der Adler abgesehen haben, meint er. Aber das Wetter sei zu schlecht, um auf Jagd zu gehen. „Kommen Sie, schauen Sie durchs Fernrohr“, sagt Werth. Die Augen brauchen wieder einen Moment, um sich zurechtzufinden. Der Adler sitzt noch immer regungslos da, eingehüllt vom Nebel, der einen grauen Filter auf die Welt legt. Es schneit stärker. Feine fallende Flocken. Weiß gekleidete Bäume. Natur. Stille.

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