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Porträt: Wie sich Thomas Fischer als "Richter Klartext" viele Feinde machte

Porträt

Wie sich Thomas Fischer als "Richter Klartext" viele Feinde machte

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    Es hat einige Zeit gedauert, bis Thomas Günther Otto Fischer seine Berufung fand. Geboren wurde er als Sohn eines Arztes im Sauerland. Die Schule brach er ab, um Rockmusiker zu werden.
    Es hat einige Zeit gedauert, bis Thomas Günther Otto Fischer seine Berufung fand. Geboren wurde er als Sohn eines Arztes im Sauerland. Die Schule brach er ab, um Rockmusiker zu werden. Foto: Christian Flemming

    Wenn für den Laien die Juristerei ein Buch mit sieben Siegeln ist, müssen wir uns Thomas Fischer als einen Menschen vorstellen, der alle diese Siegel gebrochen, das Buch geöffnet, es gelesen, verstanden und in Teilen sogar neu- und fortgeschrieben hat. Als einen Juristen, der es damit weit gebracht hat: vom kleinen Amtsgericht im bayerischen Weißenburg über die Schwurgerichtskammer in Leipzig und das Justizministerium in Dresden bis hin zum großen Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Viel mehr geht nicht im Deutschland der Staatsanwälte, Verteidiger und Richter. Keine schlechte Karriere für einen, der die Schule abgebrochen und überhaupt erst mit 27 sein Jurastudium aufgenommen hat.

    Inzwischen ist der massige Mann 67 Jahre alt und sitzt, an diesem Tag, in seinem Haus in Starnberg an einem weißen Tisch. In seinem zukünftigen Esszimmer. Hinter ihm türmen sich Umzugskartons bis knapp unter die Decke. Neben ihm schweigen die schwarz-weißen Tasten eines Keyboards. Kaffee könne er keinen anbieten, den habe er in den Wirren umtriebiger Tage vergessen. Wasser habe er da, Saft ebenfalls. Das neue Domizil, so wird er am Ende eines längeren Gesprächs sagen, sei zwar ein Platz zum Wohnen. Ein eigentliches Zuhause, das könne er aber nicht benennen. „Das ist da, wo mein Schreibtisch steht.“

    Bis vor kurzem stand der noch – immerhin 20 Jahre lang – in Baden-Baden, Baden-Württemberg. Künftig soll er ein Stockwerk weiter oben Platz finden, wenn die Baustelle fertig ist. Fischer wird dann vom Schreibtisch aus einen Blick auf den See und die Alpen haben. Dass es damit noch ein bisschen dauern kann, belegt der Lärm des Fliesenlegers, der irgendwo im Erdgeschoss Keramik mit der Säge zerteilt.

    Fischer kennt sich mit Abgründen aus - und mit wütenden Reaktionen

    Vom Sägen und Zerteilen könnte auch Thomas Fischer Geschichten erzählen. Solche, für die sich ein großer Teil der Bevölkerung begeistert, weil sie vermeintlich die menschlichen Abgründe belegen. Podcasts, in denen Kriminalfälle besprochen werden, finden viele Zuhörer. Auch Fischer ist Teil einer solchen Sendung, auf SWR2, die wiederum Teil eines Unterhaltungs-Genres ist, das als Gerichtsberichterstattung in den Zeitungen immer schon da war, sich jetzt aber als „True Crime“ neu etikettiert.

    Als Strafrechtsspezialist und ehemaliger Vorsitzender einer Schwurgerichtskammer, die Jahr ein, Jahr aus nichts anderes macht, als Tötungsdelikte zu verhandeln, weiß Fischer überaus gut, wozu Menschen fähig sind.

    Unterschiede zwischen Jugend- und Erwachsenenstrafrecht

    Die Justiz unterscheidet bei Strafprozessen zwischen Erwachsenen- und Jugendstrafrecht. Ist ein Angeklagter zur Tatzeit jugendlich (14 bis 17 Jahre alt), gilt Jugendstrafrecht. Rechtlich möglich ist das in den meisten Fällen auch bei Heranwachsenden (zur Tatzeit 18 bis 21 Jahre alt). Ist ein Angeklagter zur Tatzeit 22 Jahre oder älter, gilt automatisch Erwachsenenstrafrecht. Jugendstrafrecht ist dann ausgeschlossen.

    Das Jugendstrafrecht unterscheidet sich deutlich vom Strafrecht für Erwachsene. Im Mittelpunkt steht hier den Angaben zufolge die Erziehung und nicht die Bestrafung.

    Prozesse, die nach Jugendstrafrecht verhandelt werden, sind in der Regel nicht öffentlich. Möglich sind maximal fünf Jahre Haft, bei Mord in der Regel bis zu zehn Jahre. Bei Mord in besonders schweren Fällen und nur bei Heranwachsenden (nicht bei Jugendlichen) können es auch maximal 15 Jahre Haft sein.

    Prozesse nach Erwachsenenstrafrecht werden normalerweise öffentlich verhandelt, Mord wird in der Regel mit einer lebenslangen Haftstrafe geahndet. dpa

    „Immer, wenn Sie glauben, es ist nicht vorstellbar, dass ein Mensch dem anderen so etwas antut, kommt wenig später einer, der genau das macht“, sagt er. Und was macht das dann mit einem Richter? Fischer schaut ungerührt durch die Gläser seiner schmalen Brille. „So eine Art Supervision, das gibt es nicht.“ Keine psychologischen Angebote vom Dienstherrn. Richter würden auf die Dinge, die ihnen im Verhandlungssaal begegneten, nicht vorbereitet. Nicht auf die grausamen Bilder, nicht auf die Gesichter der Opfer. „Sie werden ins kalte Wasser geschmissen“, sagt er. „Einiges geht ihnen schon nach.“

    Fischer lässt aber keinen Zweifel daran, dass ihn kein Fall je dazu bewogen hätte, darüber ernsthaft nachzudenken, die Richter-Robe an den Nagel zu hängen – und vielleicht zurückzukehren zum gelben Dienstfahrzeug von einst und wieder als Paketzusteller bei der Post zu arbeiten. Nein, das sei nie infrage gekommen. Weglaufen sei nicht seine Sache.

    Es hat einige Zeit gedauert, bis Thomas Günther Otto Fischer seine Berufung fand. Geboren als Sohn eines Arztes im Sauerland, bricht er die Schule als junger Kerl ab, um Rockmusiker zu werden. Der Plan scheitert, viele Worte sind ihm dazu heute nicht mehr zu entlocken. Den Namen der Band und damit des Scheiterns, will er nicht verraten. Er wird zur Bundeswehr eingezogen, weil seine Kriegsdienstverweigerung abgelehnt und erst beim dritten Anlauf bewilligt wird. Mit einem nachgeholten Abitur in der Tasche beginnt er ein Germanistikstudium in Frankfurt, sagt aber von dieser Zeit, er habe sich nicht gerade mit großem Enthusiasmus in die Materie gestürzt.

    Erst mit 27 begann er zu studieren. Zuvor wollte er mal Rockmusiker werden

    Immerhin wirkt seine Begabung für klare Sprache bis heute nach – etwa in den Kolumnen, die er von 2015 an zunächst für die Wochenzeitung Die Zeit verfasst, mit der er sich allerdings überwirft. Inzwischen schreibt er für den Spiegel. Häufig zählen seine Texte zu denen, die am meisten angeklickt werden.

    Nachdem Fischer das Studium hingeschmissen hat, nimmt er Hilfsarbeiterjobs an und landet schließlich im Paketdienst, wo er es knapp vier Jahre aushält. Im Alter von 27 Jahren beginnt er dann ein Jurastudium in Würzburg. „Von da an wusste ich, dass ich da richtig bin“, erinnert er sich. Anders ist sein Galopp durchs Studium in nur sieben Semestern bis zum Ersten Staatsexamen auch kaum zu erklären. Den ansonsten üblichen Umweg über die Staatsanwaltschaft muss er nicht machen – die Umstände erlauben es ihm, sofort als Richter zu arbeiten. „Eigentlich war mein Ziel, Strafverteidiger zu werden. Dass es anders kam, liegt daran, dass ich nicht gleich eine entsprechende Stelle in einer Kanzlei gefunden habe.“

    Von Würzburg geht es für Fischer nach Leipzig. Er wird Vorsitzender der Schwurgerichtskammer am Landgericht. Exponiert sich in weiteren Positionen, nimmt Lehraufträge an, hält Vorträge und wird 1999 erstmals für den Bundesgerichtshof in Karlsruhe vorgeschlagen. Doch er scheitert mit seiner Bewerbung. „Ich wollte das schon sehr. Dass es nicht geklappt hat, hat mich damals wahnsinnig geärgert.“

    Fischer sagte stets seine Meinung

    Ein Jahr danach klappt es, und der 2. Strafsenat am Bundesgerichtshof hat durchaus etwas Schicksalhaftes für Fischer. „Es hat nicht lange gedauert, da hatte ich viele Feinde“, erzählt er.

    Fünf Richter gehören einem solchen Senat an. Ihre Aufgabe ist es, eine Flut von Urteilen und Revisionen auf Verfahrens- und Rechtsfehler zu überprüfen. Ein Meer aus Akten, Jahr für Jahr.

    Dass es nach menschlichem Ermessen nicht möglich sei, diese Aufgabe aufgrund der schieren Menge wirklich gewissenhaft zu erfüllen, dürfe man am Bundesgerichtshof zwar denken, aber nicht laut sagen. Erzählt Fischer. Doch genau das macht er damals, seine Meinung sagen – und wird daraufhin als Nestbeschmutzer heftig angegangen. „Zum Schluss hat mich die Hälfte der Bundesrichter nicht mehr gegrüßt“, erinnert er sich. Seit 2017 ist er nun schon pensioniert. Die Sache habe sich trotzdem gelohnt, ergänzt er – in verschiedenen Grundsatzurteilen, die Teil der Rechtsgeschichte wurden, konnte sich Fischer verewigen.

    Auch mit seinen Kolumnen in der Zeit oder im Spiegel macht er sich Feinde

    Dinge zu sagen, die anderen nicht passen, das ist so etwas wie sein Markenzeichen. Er nimmt dafür auch als Kolumnenschreiber Konsequenzen in Kauf. Als er das Vorgehen der Zeit-Redaktion im Zusammenhang mit Recherchen im Missbrauchsskandal um Regisseur Dieter Wedel Anfang 2018 in einem Text für einen Branchendienst als selbstgerecht kritisiert und klarstellt, dass eine Zeitungsredaktion nicht die bessere Strafverfolgungsbehörde als die Staatsanwaltschaft sei, wird seine Kolumne nicht nur gestrichen – „die haben mir sogar das Abonnement einseitig aufgekündigt“.

    Damals erklärt Sabine Rückert von der Zeit-Chefredaktion, Fischer sei illoyal gewesen „gegenüber unseren eigenen Reportern, die mit erheblichem Aufwand recherchierten, und vor allem auch gegenüber den Frauen, die sich uns unter erheblichem persönlichen Risiko anvertraut haben. Außerdem hatte Herr Fischer keine Argumente“.

    Gegenwind ist Fischer auch von Leserseite her gewöhnt: Als er in einer seiner Kolumnen den Fall eines TV-Sternchens und ihren Missbrauchsprozess kommentiert, fliegen die Fetzen. Fischer hatte ohne Wertung des inhaltlichen Verfahrens geschrieben, das Geschäftsmodell von Gina-Lisa Lohfink sei es, ihre Silikonbrüste zu präsentieren.

    Mit wütenden Reaktionen kennt er sich aus. „Wenn Sie die Leute fragen, was man mit Tätern anstellen soll, die schwere Straftaten begangen haben, dann wird Ihnen ganz anders“, sagt er. Die Forderung nach grausamer Strafe und damit Rache sei in solchen Umfragen weit überzogen. Auch die damit verbundene Maxime, bestimmte Verbrecher für immer und alle Zeit wegzuschließen. Fischer sagt dazu: „Menschen können sich ändern.“

    Natürlich hat der frühere Bundesrichter eine Meinung zu den Anti-Corona-Demos

    Der Mensch, das ambivalente Wesen, zu besichtigen derzeit auch auf sogenannten Hygiene-Demos, auf denen gegen die Auflagen wegen der Corona-Pandemie protestiert wird: Fischer hat, wenig überraschend, auch dazu eine Meinung. „Natürlich dürfen diese Leute demonstrieren, sogar dummes Zeug reden.“ Was aber nicht gehe, sei dabei bewusst gegen die Vorschriften zu verstoßen, gegen die sich ihre Wut richte. „Sie können in Deutschland zwar gegen das Gesetz demonstrieren, das Sachbeschädigung verbietet und strafbar macht. Aber Sie dürfen dabei natürlich auch nicht alles kurz und klein schlagen und Schaufenster zertrümmern.“

    Wieder so ein typisch Fischer’sches Bild, das fern irgendwelcher juristischen Sprachklauseln ist. Er jedenfalls sehe kein Grundrecht in Gefahr – „wenn es die Situation gebietet, kann und muss der Staat Einschränkungen beschließen, um das höhere Gut, etwa die Gesundheit, zu schützen.“

    Neben dem Schreiben, den Paragrafen, den öffentlichen Scharmützeln und den vielen Auseinandersetzungen, die ihm ein 40-jähriges Juristenleben brachte – was bestimmt sonst noch seine Existenz? Thomas Fischer wendet als Antwort seinen Kopf zum Keyboard. Es habe eine Zeit gegeben, da habe er jedes Jahr eine CD nur für sich selbst komponiert und eingespielt. Vor seinem Haus steht ein gefährlich schnell und furchtbar unbequem aussehender Sportwagen. In einem der hinteren Räume fällt ein rotes Rennrad aus Stahl auf. „Mit dem bin ich ungefähr 90.000 Kilometer gefahren, auch wenn man mir das heute nicht mehr so richtig ansieht.“ Er wolle wieder mehr Rad fahren, aber auf breiteren Reifen. Fischer hat zwei erwachsene Söhne, die keine Juristen geworden sind. Rechtsprechung liegt nicht in der Familie, recht haben vielleicht? Fischer lächelt. Vor Eitelkeiten sei kein Richter gefeit, auch er nicht.

    Aus dem frühen ist ein später Nachmittag geworden. Der Fliesenleger schaut noch kurz herein und kündigt sich für den nächsten Tag wieder an. Thomas Fischer verabschiedet sich höflich von ihm. Für heute wurde genug gesägt und zerteilt in seinem Haus.

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