An jenem Samstagnachmittag Mitte März schafft es die B12 sogar bundesweit in die Schlagzeilen. Drei Unfälle in drei Stunden. 17 Verletzte, mehrere davon schwer. „Unheimliche Crash-Serie“ titelt die Bild-Zeitung prominent in ihrem Online-Auftritt.
Im Allgäu dürften viele Autofahrer deutlich nüchterner auf die Geschichte geblickt haben. Wer den täglichen Irrsinn auf der B12 kennt, den überrascht wenig. Seit Jahren steht der knapp 60 Kilometer lange Abschnitt der Bundesstraße zwischen Buchloe und Kempten in einem, nun ja, tatsächlich unheimlichen Ruf. Verdammt gefährlich sei die Strecke, sagen viele Pendler. Auch der Begriff „Todesstrecke“ fällt immer mal wieder.
Elmar Kolb ist viel auf der Straße. Rund 70.000 Kilometer, so schätzt der Projektleiter, ist er im Jahr in ganz Europa unterwegs. Er sagt, die B12, auf der er regelmäßig von Kaufbeuren nach Kempten pendelt, fahre er jedoch ausgesprochen ungern. „Nahezu täglich erlebt man da Situationen, bei denen man sich an den Kopf fassen muss.“ Autofahrer, die komplett ohne Sicht überholen oder nach einem zweispurigen Abschnitt über die Sperrflächen brettern, weil sie „noch einen mitnehmen“ wollen.
Lastwagen, die einen 40-Tonner überholen. Oder an Parkplätzen einfach mal wenden, auch mitten im Berufsverkehr. „Die B12 ist eine gefährliche Strecke“, sagt Kolb. „Definitiv.“ Auch wenn – Gott sei Dank – nicht jede gefährliche Situation unmittelbar zu einem Unfall führe.
Laut Unfallstatistik ist die B12 keine Todesstrecke
Thomas Hölzl kennt solche Sätze. Schon oft hat er als Leiter des Staatlichen Bauamtes in Kempten über das Thema gesprochen, auch mit der Presse. Er sagt, was er an dieser Stelle immer sagt: „Die B12 ist kein Unfallschwerpunkt.“ Hölzl drückt damit das aus, was die Statistik ausdrückt. Und wenn es in Bayern um das Thema Verkehrssicherheit geht, ist diese so gehaltvoll und komplex wie die Materie Straßensicherheit im Ganzen.
Hölzl zieht daher bei Gesprächen gerne Experten aus seiner Behörde hinzu, Mitglieder der Unfallkommissionen, die sich gemeinsam mit Vertretern von Landratsämtern und Polizei regelmäßig mit der Straßensicherheit beschäftigen. In den Ausführungen geht es dann um „Unfallhäufungsstellen“ und „Unfallhäufungslinien“, um „Ein-“ und „Dreijahreskarten“, um digitale Datenerfassung und Untersuchungen der Zentralstelle für Verkehrssicherheit. Die Sicherheit auf den Straßen, so entsteht der Eindruck, ist in Bayern ein penibel verwaltetes Gut – und für den Laien nicht unbedingt eingängig.
Es geht aber auch einfacher, etwa wenn man die blanken Zahlen betrachtet. Zuletzt ereigneten sich auf der B12 durchschnittlich um die 190 Unfälle im Jahr, rund ein Drittel davon waren Wildunfälle. Zwischen 2011 und 2015 kamen elf Menschen ums Leben, 72 wurden schwer verletzt. Setzt man das in Relation zu den knapp 17.000 Fahrzeugen täglich, ergibt das – so heißt es bei der Polizei – unter den Landstraßen im Allgäu einen Platz im Mittelfeld.
Zum Vergleich: Auf den wenigen Kilometern der B472 zwischen Marktoberdorf und Schongau, die noch in Schwaben liegen, ereigneten sich 2015 rund 50 Unfälle – und das bei nicht mal halb so großem Verkehrsaufkommen. Die B12, wiederholt Hölzl, sei keine Unfallstrecke. Und schon gar keine Todesstrecke.
Warum gilt die B12 als gefährlich?
Wer den täglichen Irrsinn auf der B12 kennt, den überzeugt das wenig. Unfallstatistik wider Pendler-Alltag – es ist nicht leicht zu erklären, wie beides, das Rationale und das Emotionale, zusammengeht. „Es gibt ein Missverhältnis von gefühltem und realem Risiko“, räumt auch Rainer Lutz ein. Der Erste Polizeihauptkommissar arbeitet im Sachgebiet Verkehr beim Präsidium Schwaben Süd/West in Kempten. Wer Fragen zu Straßen, Unfällen oder Kontrollen hat, ist bei ihm an der richtigen Stelle.
Dass die B12 in ihrer Gefährlichkeit so überschätzt wird, habe mehrere Gründe, meint Lutz. Etwa die hohe Relevanz der Strecke. „Passiert auf der B12 ein Unfall, bekommt man das im Allgäu mit. Entweder, weil man selber betroffen ist und im Stau steht, oder, weil man es durch die Medien erfährt.“ Hinzu komme, dass die Unfallfolgen auf der B12 meist sehr schwer sind. Bei einem Frontalzusammenstoß im Begegnungsverkehr bleibt bei Tempo 100 auf beiden Seiten meist wenig von einem Auto übrig. „So schlimme Bilder brennen sich bei den Menschen natürlich ein“, sagt Lutz.
Ist alles also nur Kopfsache? Der Tatsache geschuldet, dass für die Statistik dann etwas gefährlich ist, wenn etwas passiert – für den Menschen aber schon, wenn er das Gefühl hat, dass etwas passieren könnte? Etwa so wie bei der Angst vorm Fliegen? Ein Anruf in München. Alexander Kreipl, Leiter der Verkehrsabteilung beim ADAC Südbayern, ist die B12 erst einen Tag zuvor gefahren. Die Bundesstraße, erzählt er, empfinde er als „nicht weiter schlimm“. Sinnvolle Streckenführung, ausreichend Überholmöglichkeiten, sogar an Steigungen. Und das mit der Kopfsache? Ja, da sei durchaus etwas dran. „Wir erleben es bei unserer Arbeit oft, dass das subjektive Empfinden der Verkehrsteilnehmer der fachlichen Betrachtung widerspricht.“
Was Kreipl meint, wird vor allem an einem Punkt deutlich, und der heißt 2+1. Gemeint sind damit die wechselseitigen, zweispurigen Abschnitte, die man inzwischen auf immer mehr Bundesstraßen hat. Experten wie Kreipl erachten sie als sinnvoll, weil sie zum einen riskante Überholmanöver unnötig machen und zum anderen Druck vom Autofahrer nehmen. Der weiß ja schließlich, dass er in regelmäßigen Abständen überholen kann.
Pendler finden die Streckenführung der B12 stressig oder gar gefährlich
So weit die Theorie. Spricht man mit Pendlern über die 2+1-Abschnitte, schildern die jedoch meist eine andere Gefühlslage. Selbst ausgeglichene Gemüter empfinden die Streckenführung als nervig, stressig, sogar gefährlich. Drei Lastwagen zu überholen, um dann hinter einem vierten festzuhängen, macht mürbe im Kopf. „Viele drücken deswegen voll aufs Gas, fahren 130 oder 140 und brettern am Ende über die Sperrlinie“, beobachtet auch Kolb. Dadurch, sagt er, dass in den vergangenen Jahren mehrere Abschnitte auf den 2+1-Querschnitt ausgebaut wurden, sei die B12 nicht unbedingt sicherer geworden.
Diese Aussage stützt zumindest auch die Statistik. Denn die Unfallzahlen auf der B12 sind in den vergangenen Jahren relativ konstant. Wie verzwickt die Gemengelage ist, zeigt sich aber noch an anderer Stelle: bei der Unfallursache. Denn nicht immer ist die so eindeutig wie bei einem der drei besagten Zusammenstöße am 12. März, als eine 49-Jährige kurz hinter Kempten beschloss, einfach mal zu wenden. Im Auto hatte sie vier Kinder.
Nein, oft ist es deutlich komplizierter. Im Polizeibericht steht dann meist: „…kam aus bislang ungeklärter Ursache auf die Gegenfahrbahn“. Die Gründe, wenn sie sich noch ermitteln lassen, sind dann tatsächlich meist vielfältig: Alkohol, Herzinfarkt, Smartphone. „In der Regel sind es individuelle Fehler, oft in Verbindung mit nicht angepasster Geschwindigkeit“, sagt Lutz.
Das Problem: Finden sich keine Gemeinsamkeiten bei der Unfallanalyse, wird die Arbeit der Experten schwer. Die Unfallkommission tagt alle drei Jahre, zudem nach schweren Crashs wie denen im März. Die Fachleute beraten dann, was man an Streckenabschnitten mit Unfallhäufung ändern kann. Gibt es unübersichtliche Stellen? Passt die Fahrbahnmarkierung? Gibt es Ablenkungspunkte neben der Strecke? Liegt es aber am Menschen und nicht an der Strecke, ist die Handhabe der Behörden meist beschränkt. Baulich sei man vielerorts in Bayern am Ende der Möglichkeiten angelangt, sagt ein Experte von der Autobahndirektion Südbayern.
Was bleibt, ist eine letzte Stellschraube, und die heißt Kontrolldruck. Bei der B12 ist allerdings auch da nur noch wenig Spiel. Laut Lutz zählt die Strecke zu einer der am meisten überwachten Straßen im südlichen Schwaben. Für 2015 sind 400 „Überwachungsmaßnahmen“ notiert, also stationäre Geschwindigkeitskontrollen oder Fahrten mit Videofahrzeugen. 13000 Kraftfahrzeugführer wurden beanstandet, rund 300 Fälle mündeten in einem Fahrverbot.
B12 soll vierspurig ausgebaut werden
An dieser Stelle wird die Angelegenheit politisch. Seit Jahren fordern im Allgäu Landräte, Bürgermeister und Landtagsabgeordnete über Parteigrenzen hinweg einen vierspurigen Ausbau der B12 – aus wirtschaftlichen, aber auch aus Gründen der Verkehrssicherheit. Wo eine bauliche Trennung der Fahrbahnen existiert, gibt es in der Regel keine Zusammenstöße im Begegnungsverkehr. Die Folge: Auf Straßen mit autobahnähnlichem, also vierspurigem Querschnitt sind die Unfallzahlen drei bis vier Mal niedriger als auf Landstraßen.
Entsprechend groß war die Erleichterung bei vielen im Allgäu, als Mitte März der Entwurf für den neuen Bundesverkehrswegeplan vorgestellt wurde. Darin ist der vierspurige Ausbau des rund 20 Kilometer langen B12-Abschnitts Kaufbeuren–Buchloe unter „vordringlicher Bedarf“ aufgelistet, die etwa doppelt so lange Süd-Etappe zwischen Kaufbeuren und Kempten immerhin noch unter „weiterem Bedarf mit Planungsrecht“. Aktuell läuft eine Debatte, inwieweit der rund 265 Millionen Euro teure Gesamtausbau aus einem Guss realisiert werden kann.
Allerdings: Bis allein die nördliche Strecke vierspurig ist, dürften Jahre vergehen. Der Irrsinn auf der B12, er geht also noch eine Weile weiter.