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Verschwörungstheorien: Sind Reform- und Waldorfschulen ein "Sammelbecken für Verschwörungstheorien"?

Verschwörungstheorien

Sind Reform- und Waldorfschulen ein "Sammelbecken für Verschwörungstheorien"?

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    Demo auf dem Hellmairplatz in Landsberg am Lech. Schon Ende 2020 war das Thema einer Demonstration „Was macht die Maske mit unseren Kindern?“.
    Demo auf dem Hellmairplatz in Landsberg am Lech. Schon Ende 2020 war das Thema einer Demonstration „Was macht die Maske mit unseren Kindern?“. Foto: Thorsten Jordan (Archivbild)

    Ein Lehrer seiner Schule als Sprecher auf Querdenken-Demos. Das war der Punkt, an dem Hartmut Semar klar war: Er muss als Geschäftsführer der Freien Waldorfschule in Ulm Haltung zeigen. "Ein krasser Schnitt, der nötig war", sagt er heute. Der Fall an der Ulmer Waldorfschule kam im März vor Gericht. Der Lehrer, der unter anderem die Maske im Unterricht verweigert hatte, wurde entlassen.

    Zahl der Maskenatteste in Waldorfschulen in Bayern höher

    Deutschlandweit treten Waldorfanhänger auf Corona-Demos auf, teils als besorgte Eltern, aber auch als Redner – wie in Landsberg am Lech. Im Februar wurde diesem Redner und gleichzeitig Vater an einer Waldorfschule in Landsberg der Schulvertrag für sein Kind gekündigt. Er hatte als Arzt falsche Maskenatteste ausgestellt. Nach Angaben des bayerischen Kultusministeriums ist die Zahl der Maskenatteste an Waldorfschulen sieben Mal so hoch wie an staatlichen Schulen. Hat die schulische Ausrichtung tatsächlich Einfluss auf den Umgang mit der Pandemie?

    Andrea Wiericks ist die Sprecherin der Bayerischen Landesarbeitsgemeinschaft des Bundes Freier Waldorfschulen (LAG) und selbst Lehrerin an einer Schule in Prien am Chiemsee. Sie kennt den Fall aus Landsberg, beschreibt diesen als Einzelfall. Größere Probleme beim Maskentragen habe es an ihrer Schule nie gegeben. "Selbst im vergangenen September, als alle Schüler da waren, gab es keine großen Proteste. Wenn dann – mal ein Einzelner, der keine Maske tragen wollte oder ein Attest hatte", erzählt sie. Klar gebe es Kontroversen zur Corona-Thematik, doch die gebe es überall und unabhängig von der Schulform oder Einrichtung. Die anthroposophische Erziehung findet nicht nur in Schulen statt, sondern auch in Waldorfkindergärten. In jeder Gesellschaft gebe es verschiedene Ansichten, sagt Wiericks. So auch in der Schulgemeinschaft, die die Lehrerin als "höchstes Gut" der Waldorfschulen bezeichnet.

    Online-Petition fordert Querdenken-Abgrenzung von Waldorfschulen

    Über 5000 Unterstützer fordern in einer Petition auf der Online-Plattform openPetition eine strengere Abgrenzung der Waldorfschulen von der Querdenken-Bewegung. Fiona Hauke, ehemalige Waldorfschülerin, initiierte sie und schreibt: "Wir schätzen unsere ehemaligen Schulen und wollen nicht, dass sie Sammelbecken demokratiefeindlicher Verschwörungserzählungen sind oder werden." Hauke weiß von Lehrern, die das Tragen von Masken ablehnen und bei sogenannten Hygiene- und Querdenken-Demos aktiv sind. Sie betont aber, dass es sich um eine "kleine, aber laute Minderheit" handle.

    Seit dem Querdenken-Vorfall an der Ulmer Schule ist es ruhiger geworden, berichtet Hartmut Semar. "Dennoch gibt es Eltern, die nicht wollen, dass ihr Kind einen Mundschutz trägt oder getestet wird. Gerade in den Klassen eins bis vier kommt das vor." Im Durchschnitt sind es nach Semar in den unteren Klassen etwa fünf Kinder bei einer Klassenstärke von 30 bis 35 Schülern, die wegen der Maskenpflicht zu Hause bleiben – die Zahlen beziehen sich auf das vergangene Schuljahr, denn aktuell ist die Inzidenz in Ulm so hoch, dass nur die Prüflinge das Schulhaus betreten dürfen. "Je höher die Klassenstufe, desto weniger bleiben zu Hause", sagt Semar. Vor allem die älteren Schüler seien froh, wieder regelmäßig kommen zu dürfen. "Die Erfahrung zeigt, dass sich die Schüler daran halten. Die Frage nach der Akzeptanz stellt sich eher bei manchen Eltern."

    Wie Waldorfschulen mit digitalem Unterricht umgehen

    Auch der Umgang mit digitalen Geräten und Medien ist in der Reformpädagogik kein alltäglicher. Vor allem die Kleineren wolle man nicht so früh an einen Bildschirm binden: Deswegen gebe es für die unteren Klassen Lernpakete für zu Hause, digitale Konferenzen würden fast nur für Besprechungen genutzt, sagt der Geschäftsführer.

    Waldorfpädagogik soll zur Freiheit erziehen. Das Denken, Fühlen und Wollen der Schüler steht dabei im Mittelpunkt der anthroposophischen Ausrichtung. In der gesamten Reformpädagogik geht die Erziehung vom Kind aus, das sich frei entfalten soll. Das wird durch die Pandemie eingeschränkt, kritisieren Eltern, die ihre Kinder aus genau diesem Grund auf eine reformpädagogische Schule geschickt haben. Vor allem kreative Unterrichtsfächer wie das Schreinern fallen der Pandemie zum Opfer.

    „Zutritt nur mit Mundschutz! Außer Schüler*innen und Mitarbeiter*innen“, steht am Eingang zu einer Waldorfschule in Berlin-Mitte.
    „Zutritt nur mit Mundschutz! Außer Schüler*innen und Mitarbeiter*innen“, steht am Eingang zu einer Waldorfschule in Berlin-Mitte. Foto: Annette Riedll, dpa
    „Zutritt nur mit Mundschutz! Außer Schüler*innen und Mitarbeiter*innen“, steht am Eingang zu einer Waldorfschule in Berlin-Mitte.
    „Zutritt nur mit Mundschutz! Außer Schüler*innen und Mitarbeiter*innen“, steht am Eingang zu einer Waldorfschule in Berlin-Mitte. Foto: Annette Riedll, dpa

    Annika Groß leitet die Montessori-Schule in Oettingen im Landkreis Donau-Ries. Sie findet: "Unsere Schüler haben einen Vorteil, da sie das selbstständige Lernen gewöhnt sind." Das Masken-Thema sei auch an der Montessori-Schule nicht vorbeigezogen: "Die Mehrheit nimmt die Regeln gut an." Auch an ihrer Schule sorgen eher die Eltern für Komplikationen: " oder ihr Kind nicht testen lassen wollen. Man versucht, es allen Recht zu machen, aber ist zurzeit echt schwierig", berichtet die Schulleiterin. Etwa zwei von zwölf Schülern in einer Klasse seien derzeit zu Hause – aus den bekannten Gründen. Für die Pädagogen sei das ein großer Mehraufwand, berichtet Groß. Ein Teil der Klasse soll schließlich im Präsenzunterricht lernen, der andere fordert individuelle Betreuung zu Hause.

    Selbstverwaltung heißt: Trotzdem an staatliche Vorgaben halten

    Zwar sind reformpädagogische Einrichtungen wie Freie Schulen oder Waldorfschulen auf dem Prinzip der Selbstverwaltung aufgebaut – aber an staatliche Vorgaben gebunden. "Wir müssen schauen, dass wir jeden Schüler gleich gut unterrichten", sagt Groß. Andrea Wiericks fügt hinzu: "Man darf die private Meinung nicht über die Verordnungen des Staates stellen und muss diese vom Unterricht fernhalten." Für sie sei das Verschwinden der Diskursfähigkeit das schlimmste. Jedoch werde auch an der Schule nicht über jedes Thema gesprochen. Über das Impfen beispielsweise. Das sei eine persönliche Entscheidung, die jeder Lehrer selbst treffen müsse. "Die Anthroposophen sind als Impfskeptiker bekannt", sagt Semar. Laut Anthroposophie schützt ein gutes Immunsystem vor einer Infektion. Dennoch hätten sich einige Lehrer in Ulm impfen lassen, was den Geschäftsführer überrascht habe.

    Die verschiedenen Ansichten spalten das Kollegium: In der "heißen Phase", wie Semar es nennt, etwa von Mai bis Oktober 2020, haben ein paar wenige Eltern den Vertrag an der Waldorfschule gekündigt. "Manche haben sich andere Schulen gesucht, die eventuell anders mit einem Maskenattest umgehen." Auch ein paar Lehrer werden die Schule zum Ende des Schuljahres verlassen – auf eigenen Wunsch oder gezwungenermaßen.

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