„Oh je!“. „Auweia!“. „Muss das sein?“. Wer an der CSU-Basis nach Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer fragt, erntet lautes Stöhnen. „Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass Sie dazu von mir eine offizielle Antwort bekommen“, sagt ein CSU-Kreisvorsitzender und schiebt – „jetzt mal ganz unter uns“ – gleich ziemlich resigniert hinterher: „Es ist doch allen klar: Unter normalen Umständen müsste er eigentlich schon lange weg.“
Die Umstände, so viel zumindest steht fest, sind nicht normal. Die Serie von Pannen und Peinlichkeiten des smarten jungen Ministers, der einst als „Brad Pitt der CSU“ gefeiert wurde, sorgt zwar in schöner Regelmäßigkeit für Wallung. Doch das geht nun schon seit dem Juni 2019 so, als das Prestigeprojekt der CSU, die Pkw-Maut für Ausländer, vom Europäischen Gerichtshof kassiert wurde. Und spätestens seit Anfang dieses Jahres, als Parteichef Markus Söder auf einer CSU-Klausur im Januar halblaut über eine mögliche Umbildung des Bundeskabinetts spekuliert hat, ist allen in der Partei klar, dass Scheuers Tage als Spitzenpolitiker gezählt sind. Widerspruch erhob sich damals nicht. „Bereits da war klar, dass ihm keiner groß eine Träne nachweint“, sagt ein Parteiveteran. Dann kam Corona. Scheuer und das Maut-Debakel wurden zur Nebensache.
Die Meinung in der CSU zu Scheuer deckt sich mit den Leserbriefen in der Zeitung
Das gilt für alle Ebenen der Partei. In Orts- und Kreisverbänden wurde die Kommunikation nahezu eingestellt. Aufgrund der Pandemie finden kaum Sitzungen oder Versammlungen statt. Und wenn dies doch irgendwo der Fall ist, dann komme die „Causa Scheuer“ bestenfalls unter dem Tagesordnungspunkt „Verschiedenes“ zur Sprache. Was die örtlichen CSU-Vorsitzenden dann zu hören bekommen, sei allerdings eindeutig. „Die Meinung in der Partei deckt sich mit dem, was in den Leserbriefen bei Euch in der Zeitung steht“, sagt ein Kreisvorsitzender.
Momentan sei die Stimmung an der Basis sogar wieder „eher gemischt“, sagt ein anderer. Scheuer sei für einfache Parteimitglieder mit seiner zur Schau gestellten Lässigkeit und seinen gegelten Haaren noch nie das Paradebeispiel eines CSU-Ministers gewesen. Dass er jetzt vor einem Untersuchungsausschuss steht, komme ihm innerparteilich aber zugute. „Die CSU will sich nicht so gerne vorführen lassen.“ Ein Dritter bestätigt das: „Das ist ein klassischer Reflex. In so einer Situation halten wir zusammen.“
Auch unter den CSU-Abgeordneten im Landtag steht das Thema Scheuer nicht ganz oben. Warum, so fragt einer, sollte Parteichef Söder ihn als Minister entlassen, wenn er nicht einmal die bayerische Gesundheitsministerin Melanie Huml habe gehen lassen, die ihren Rücktritt nach den Corona-Test-Pannen sogar selbst angeboten habe? Außerdem sei Scheuer nicht das größte Problem, das die CSU in Berlin habe. „Wie es dort nächstes Jahr weitergehen soll, da hat doch im Moment keiner eine konkrete Vorstellung.“ Zwei Bundesminister (Horst Seehofer und Gerd Müller) hätten bereits ihren Rücktritt erklärt. Den Dritten zu entlassen, würde nur zusätzliche Unruhe bringen. „Dann lieber noch eine Weile Friede, Freude, Eierkuchen.“
Scheuer hat es vermasselt - die CSU hält ihn trotzdem
Objektive Gründe für ein vorzeitiges Eingreifen Söders in sein Berliner Personaltableau gibt es nach Ansicht der meisten CSU-Granden ohnehin nicht. Die Umfragewerte für die Partei wie für Söder persönlich hätten sich in den vergangenen Monaten trotz Scheuer positiv entwickelt. Für den Bundesverkehrsminister allerdings mag im Landtag offenbar keiner Partei ergreifen.
Auf den Fluren des Reichstages ist es ebenfalls beinahe unmöglich, bei CSU und CDU Unterstützer für Scheuer zu finden. Überall hochgezogene Augenbrauen, danach folgen häufig Seufzer und das Wörtchen „schwierig“. Es sei ja nicht nur die Maut. Das Chaos um den Bußgeldkatalog im Straßenverkehr und Startschwierigkeiten bei der Bundesautobahngesellschaft gehen auch auf Scheuers Konto. Obwohl der Minister bei den eigenen Leuten wenig Rückhalt genießt, hat sich vergangene Woche im Parlament ein Schauspiel ereignet, das zeigt, wie Parteipolitik funktioniert. Es lässt sich zusammenfassen in dem Satz: Er hat es vermasselt, aber er ist unser Mann.
Es war in der Nacht zum Freitag als die Opposition Scheuer der Lüge überführen und damit zu Fall bringen wollte. Es sah nicht gut aus für ihn, doch am Tag vorher zauberte die Union mit Billigung der Sozialdemokraten einen Entlastungszeugen herbei. Scheuers früherer Staatssekretär bestätigte dann in der Vernehmung die Sicht seines ehemaligen Chefs. Am Ende eines 20-Stündigen-Abnutzungskampfes stand Aussage gegen Aussage. Scheuer hatte den Kopf aus der Schlinge gezogen. Grüne und FDP zeterten und verlangten Rücktritt oder Rauswurf, doch die Union stand zu ihrem Andi. „Er ist und bleibt Verkehrsminister“, sagte Fraktionsvize Ulrich Lange (CSU).
Schont die SPD Scheuer, damit die Union Scholz schont?
Auffällig war das Verhalten der SPD: War vorher deutlich mit einer Rücktrittsforderung gedroht worden, blieben die Genossen plötzlich ganz sacht. Die Verhaltensänderung ergibt Sinn, wenn man weiß, dass bald ein SPD-Minister im Wirecard-Untersuchungsausschuss wird aussagen müssen. Es ergibt noch mehr Sinn, wenn man weiß, dass der Politiker Olaf Scholz heißt und Kanzlerkandidat seiner Partei ist. Unter der Hand bestätigen Parlamentarier, dass es einen Deal gegeben habe: Wir schonen Scheuer, ihr schont Scholz.
Und dann gibt es da in der CSU noch eine strategische Mutmaßung, die einiges erklären könnte: Parteichef Söder unternehme deshalb nichts gegen Scheuer, um sich für den Herbst 2021 alle personellen Optionen offenzuhalten. Er könne, im Falle eines Wahlsiegs, alle CSU-Ministerämter neu besetzen. Bis dahin müssen alle, die etwas werden wollen, brav sein. Und damit hat Söder Ruhe an der Berliner Front.
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