Ein Bauernhof mit Schweinen. Nichts Ungewöhnliches. Oder doch? Groß sind die sechs Tiere, zwischen denen Doris Rauh sich bewegt, größer als normale Schlachtschweine. Jedes von ihnen wiegt etwa dreimal so viel wie sie selbst. „Angst habe ich nicht, aber Respekt schon“, sagt die zierliche Frau zwischen den wogenden, dunkelgefleckten rosa Körpern. Ihre Stiefel mit Stahlkappen zum Schutz vor Verletzungen trägt sie diesmal nicht. Die 49-Jährige, die beruflich im Vertrieb einer Computerfirma in Augsburg arbeitet, ist spontan über die Brüstung geklettert. Sie erwidert das stürmische Anstupsen von Lotti, Molli, Bella und den anderen Schweinen mit Tätscheln und Streicheln, bis einzelne sich im Stroh niederlegen und ihr vertrauensvoll den Bauch entgegenstrecken.
Tiere leben in einem engen Stahlkasten
Es sind Mutterschweine im Ruhestand – etwas, was es sonst nicht gibt. Acht, neun, zehn Jahre alte Tiere, freigekauft aus dem „Ständer“, wie Doris Rauh es nennt, dem engen Kastenstand aus Stahlrohr, in dem sie ihr Leben verbracht haben. Ein Leben allein zu dem Zweck, dreimal im Jahr Ferkel zu werfen, die dann gemästet werden.
Jetzt übernehmen Paten den Lebensunterhalt für die nutzlos gewordenen Nutztiere. Statt als Dosenfutter für Haustiere zu enden, bekommen sie auf dem kleinen Bauernhof in Unterthürheim (Kreis Dillingen) ihr Gnadenbrot. Und manchmal werden sie bestaunt: „Hier waren schon mindestens acht Leute, die noch nie ein lebendes Schwein gesehen haben und die keine Ahnung hatten, dass sich ihre Haut anfühlt wie unsere“, sagt Doris Rauh.
Sie ist froh, durch Zufall den Nebenerwerbslandwirt Ludwig Sailer gefunden zu haben. Der 42-Jährige, im Hauptberuf Mechaniker, ist offen für Neues. Mit Pensionstieren fing es an, die er anfangs zusätzlich zu seinen eigenen Mastschweinen versorgte: 26 Schweine, drei Ochsen und eine Kuh, die Doris Rauh irgendwo anders gekauft und so vor dem Schlachten bewahrt hatte. Die Vegetarierin fand Gleichgesinnte und gründete den Verein „Rüsselheim e. V.“. Die 20 Mitglieder wollen jetzt auch Sailers Schweine vor dem Schlachten retten.
Sechs Mutterschweine hat der Bauer schon an sie verkauft. Inzwischen mistet und füttert er sie frühmorgens, bevor er in die Arbeit fährt, in ihrem Auftrag gegen Bezahlung. Er würde auch die anderen 180 Schweine, die noch in der Mast sind, seine letzten Mutterschweine und ihre noch ungeborenen Ferkel an die Tierschützer abgeben, wenn diese es finanzieren könnten.
Erst aufziehen, dann töten
Es hat lange gedauert, bis der junge Bauer so weit war. „Es schaut so wenig raus bei der Mast“, sagt er. „Aber wenn ich keine Tiere mehr hätte, um die ich mich kümmern kann, würde mir etwas fehlen.“ Dass man Tiere aufzieht, um sie zum Töten wegzugeben, war für ihn normal. Er ist damit groß geworden.
Früher hatte der Hof einen Namen in der Direktvermarktung von Fleisch. „Bis aus München kamen die Kunden“, sagt der 74-jährige Ludwig Sailer senior. Rindfleisch, das vier bis sechs Wochen abgehangen war – von Tieren, die ohne Transportstress auf dem Hof geschlachtet wurden –, sei gefragt gewesen. Doch eines Tages habe das Veterinäramt solche Auflagen gemacht, dass Sailer die Direktvermarktung aufgab. Sein Sohn übernahm den Hof.
Jetzt stehen wieder Rinder auf der Weide. Sie sind nicht zum Schlachten bestimmt. Die Kinder Anja, 12, und Lukas, 8, strecken den Ochsen mit den mächtigen Hörnern Grasbüschel hin. „So schön das hier alles ist, man kann doch nicht alle rumlaufen lassen“, sagt der alte Bauer verständnislos. Seine Enkelkinder denken schon etwas anders. „Den Rollbraten gestern habe ich nicht gegessen“, sagt der achtjährige Lukas. Sein Opa versucht, die tief greifenden Veränderungen auf dem Hof mit Humor zu nehmen. Kurz vor Mittag erntet er einen Kopfsalat und einen Kohlrabi im Garten. „Frisch geschlachtet“, sagt er im Vorbeigehen und grinst: „Beide tot“.
Ein behindertes Ferkel im Arm
Doris Rauh tut so, als ob sie es nicht gehört hätte. Sie sitzt im Gras, ein winziges Ferkel im Arm und füttert es mit einer Milchspritze. Es heißt Happy. Das einzige überlebende Baby einer der letzten Muttersauen im Stall ist behindert. Seine schwergewichtige Mutter ist ihm auf die Wirbelsäule getreten. Jetzt sind seine Hinterbeinchen gelähmt. Doris Rauh will es zum Tierarzt bringen. Vielleicht kann der ihm helfen. „Wenn nicht, dann hat Happy wenigstens noch ein paar schöne Tage gehabt“, meint sie und drückt das kleine, gierig nuckelnde Wesen an sich. Es sabbert, verkleckert ihr T-Shirt und kuschelt sich nach einer Weile müde an sie.
„Ich kann nicht alle Tiere retten“, sagt die Frau. „Aber ich versuche zu tun, was ich kann. Vielleicht strahlt das auf andere aus. Das ist meine Mission.“ Was sie an Geld übrig habe, stecke sie inzwischen in die Rettung von Nutztieren. Sie brauche nicht mehr viel für sich selbst, sie brauche keine Urlaubsreisen. Das würde auch gar nicht mehr gehen mit all den Tieren, die sie in Unterthürheim und in ihrem Bauernhäuschen in Allmannshofen (Kreis Augsburg) zu betreuen hat, darunter 13 Katzen und ein blinder Hund.
„Früher, da habe ich auch Wert auf Gucci-Schläppchen gelegt und die Cartier-Uhr. Und ich habe auch ein anderes Auto gefahren“, sagt sie. Jetzt tut es ein kleiner Mercedes, den sie oft mit altem Brot und anderen übrig gebliebenen Lebensmitteln aus Supermärkten vollpackt. Auch Joghurt in großen Bechern bringt sie ihren Schweinen mit. Wenn sie am Wochenende in den Stall kommt, steigen diese mit den Vorderbeinen auf die Brüstung und quieken und grunzen in allen Tonlagen. „Schweine sprechen miteinander. Wir verstehen es nur nicht“, sagt Doris Rauh. Wenn sie Zeit habe, höre sie ihnen stundenlang zu.
Die Gutmütigen fressen ihr aus der Hand, schlecken den Joghurt vorsichtig von ihrem Finger. Dabei haben Schweine enorme Zähne und beißen ihren Artgenossen mitunter brutal den Schwanz ab. Als Amulett trägt Doris Rauh an einer Halskette einen großen, silbergefassten Eckzahn, den sich ein Eber beim Herumtoben ausgeschlagen hat.
Ein Schlüsselerlebnis, das Doris Rauh zur Schweineretterin machte, gab es eigentlich nicht. Alles fing damit an, dass sie sich auf einem Biobauernhof in Bobingen mit Schweinen angefreundet und erkannt habe, dass jedes von ihnen ein Individuum sei. „Da wollte ich dann nicht, dass sie geschlachtet werden.“ Deshalb kaufte sie sie. Und das zog Kreise.
Über Facebook fand sie Tanja und Edgar Munz, die in der Nähe von Ingolstadt mit ihren zwei Kindern und vielen Tieren leben. Drei junge Schweine aus Unterthürheim, das kleinste ein paar Tage älter als Happy, sind fürs Erste in ihrem Einfamilienhaus mit großem Garten untergekommen. Der Privatzoo, zu dem auch Schafe, Kaninchen, Hunde, Katzen und Vögel gehören, ist von außen nicht zu sehen. Aber wer den Hausflur betritt, stolpert fast über Winni, den Eber. Wie ein Hund sitzt er auf dem Fliesenboden und beschnuppert die Gäste. „Er ist stubenrein“, sagt die 35-jährige Tanja. „Wenn er raus muss, geht er an die Tür und schreit.“ Schweine, so erklärt sie, halten ihren Wohnbereich sauber. Dass Schweine „dreckig“ sind, sei ein Vorurteil.
Über ein Treppchen spazieren die Schweine auf das Sofa
Die beiden kleineren – Tysson und Ferkel Ludwig – betrachten allerdings nur das riesige Sofa als Wohnbereich. Darum herum lassen sie schon einmal etwas fallen. Deshalb sind sämtliche Teppiche aus der Wohnung verschwunden. Das Sofa ist das Zentrum des Familienlebens. Hier sitzen oft alle beisammen: Menschen, Hunde, Katzen – und die Schweine. Über ein selbst gezimmertes Treppchen spazieren die Schweine hinauf. „Sie haben sofort kapiert, wie das geht“, sagt Edgar Munz, 42.
Der kaufmännische Angestellte gibt zu, dass er Schweine früher auch nur als Braten oder Schnitzel kannte. „Am liebsten paniert mit Pommes und Ketchup“. Inzwischen empfindet er es als verletzend, wenn Verwandte fragen, wann die Schweine endlich geschlachtet werden. „Das ist, als wenn man einen Hundefreund fragt, wann der Hund geschlachtet wird.“
Familie Munz lebt vegan. Tierische Produkte kommen überhaupt nicht mehr auf den Tisch, auch keine Eier und keine Milch. Krankheiten waren der Auslöser für die Umstellung. „Katzen und Hunde hatten wir schon immer gern, aber seit wir Schweine kennen, geht uns nichts mehr über ein Schwein“, sagt Tanja Munz. Man müsse sie nicht lange dressieren, um ihnen etwas beizubringen. Auch auf ihren Namen hörten sie schnell. Edgar ruft nach Tysson. Der stellt seine rosa Ohren auf. Und kommt im Schweinsgalopp quer durch den Garten angerannt.