Kein Hotelier beklagt sich mehr. „Das habe ich seit 30 Jahren nicht erlebt“, sagt Bernhard Joachim erstaunt. Er ist bei der Allgäu GmbH für den Tourismus verantwortlich und erlebt wie seine Kollegen in anderen Regionen des Freistaats seit Jahren eine Rekordjagd. Immer mehr Gäste, immer mehr Übernachtungen. Wer profitiert davon? Wo sind die Grenzen des Wachstums? Und gibt es schon Orte, die unter „Übertourismus“ leiden – einem Zustand, über den Touristiker gerade bei jeder Konferenz debattieren?
37 Millionen Übernachtungsgäste hat das Statistische Landesamt für 2017 in Bayern gezählt und über 94 Millionen Übernachtungen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Die unsichere Lage in manchen Urlaubsregionen wie der Türkei und Nordafrika hat für mehr Urlauber im eigenen Land gesorgt; der Trend zu mehreren kurzen Reisen statt eines langen Urlaubs ist ungebrochen, die Menschen sind mobiler geworden und viele geben ihr Geld aus, statt es aufs Sparbuch zu legen. 80 Prozent der Gäste in Bayern sind Deutsche, dann folgen US-Amerikaner, Österreicher, Schweizer und Niederländer.
Bayern ist in Deutschland das Reiseziel Nummer eins, 20 Prozent aller Gäste verbringen ihren Urlaub im Freistaat. 5,8 Millionen Gästeankünfte wurden 2017 im Allgäu gezählt, in Oberbayern 10,4 Millionen.
Mit den Touristen ist es allerdings ähnlich wie mit dem Wohlstand: Sie sind ungleich verteilt. Es gibt Regionen im Freistaat, die auf mehr Gäste hoffen, die Oberpfalz zum Beispiel. Und auch in den Regionen, die boomen, wie in Oberbayern und dem Allgäu, gibt es Orte, die gern noch viel stärker von den Menschen profitieren würden, die sie links liegen lassen, weil sie auf dem Weg dorthin sind, wo auch viele andere hin- wollen.
Die Zugspitze und Schloss Neuschwanstein sind Anziehungspunkte
Die Zugspitze ist einer dieser Anziehungspunkte für Touristen. Neuschwanstein auch. 1,5 Millionen Besucher wollen das Königsschloss im Jahr sehen. Wahnsinn. Die meisten wissen, dass es oft lange dauert, bis sie eingelassen werden in dieses Märchenschloss, das eigentlich nur für einen gebaut wurde. Nun strömen so viele Menschen hindurch, dass der Bau leidet. 20 Millionen Euro kostet die Sanierung.
Alfred Bauer ist Professor für regionale Tourismuswirtschaft an der Hochschule Kempten. Er hält das Thema Übertourismus – oder „Overtourism“, wie die Experten sagen – für überhöht. „Das gibt es dort, wo viele Kreuzfahrtschiffe anlegen, in Venedig und Barcelona zum Beispiel, aber nicht bei uns“, sagt Bauer. Aber: „Es gibt in Bayern Hotspots. Und wir müssen aufpassen, dass es dort nicht zu Overtourism kommt.“ Der Wissenschaftler war für einige Jahre Tourismus-Chef in Oberammergau, das ist so ein Anziehungspunkt.
Rund um den Bodensee wird es auch oft eng auf den Straßen. Autos und Wohnmobile reihen sich aneinander, auch auf den Radwegen am See ist viel los – wer dort Ruhe sucht, ist fehl am Platz. Im Oberallgäu ist es oft auf der B19 ab Sonthofen voll, wenn Wanderer oder Skifahrer auf dem Weg in die Berge sind. Sie fahren zum Beispiel nach Oberstdorf, wo 2017 über 2,6 Millionen Übernachtungen gezählt wurden, 300 000 mehr als 2010. Übertourismus herrscht dann, wenn so viele Urlauber da sind, dass sie Einheimische und Natur zu stark belasten.
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Warum fahren wir dorthin, wo schon so viele andere sind? Stefan Fredlmeier, Tourismusdirektor in Füssen, sagt: „Es zieht die Menschen an Orte, die schön sind. Und für viele ist es einfach wichtig, Ziele auf ihrer Liste abzuhaken. Dann können sie daheim sagen: Da war ich auch schon einmal.“ Die Königsschlösser Hohenschwangau und Neuschwanstein haben die kleine Stadt am Lech berühmt gemacht, obwohl sie gar nicht auf Füssener Gebiet liegen, sondern in der Nachbargemeinde Schwangau. Füssen ist auch einer dieser „Hotspots“ in Bayern, ach was, sogar im internationalen Vergleich. Der Duden definiert „Hotspot“ als etwas, das ein Konfliktpotenzial in sich birgt. Dieses Konfliktpotenzial sieht Fredlmeier für seine Stadt, vor allem während der Sommermonate.
Mietshäuser werden in Ferienwohnungen umgewandelt
Ein großes Problem ist der Verkehr. 80 Prozent der Urlauber in Bayern reisen mit dem Auto an. Im Sommer rollt eine Blechkarawane über die Luitpoldstraße und den Kaiser-Maximilian-Platz. Wenn Fredlmeier aus seinem Büro schaut, blickt er auf diesen „Individualverkehr“. Beim Gespräch im Biergarten neben der Tourist-Information muss er seine Sätze immer wieder unterbrechen, wenn die Ampel auf grün springt und Motorradfahrer Gas geben. Auch die malerische Altstadt ist im Sommer voller Touristen. Manche Füssener beklagen sich über die vielen Chinesen in der Stadt, dabei sorgen die nur für fünf Prozent der Übernachtungen – sie fallen auf, weil sie anders aussehen und meistens in Gruppen unterwegs sind.
Für Fredlmeier gibt es noch ein weiteres Thema, über das er mit Bürgern und Betten-Anbietern sprechen möchte: „Im Augenblick gibt es eine Goldgräberstimmung. Mietshäuser werden in Ferienwohnungen umgewandelt, dadurch wird der Stadt Wohnraum entzogen.“ Eine Folge könnte sein, dass das Leben für die Einheimischen teurer wird. Abschreckendes Beispiel dafür ist Sylt, wo sich viele Insulaner das Wohnen nicht mehr leisten können. Von solchen Verhältnissen ist die Stadt im Allgäu weit entfernt, trotzdem müsse man über dieses Thema reden, fordert Fredlmeier.
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Füssen zählte im ersten Halbjahr 2018 über 600.000 Übernachtungen, acht Prozent mehr als im Vorjahr. Der Tourismusdirektor kann das als Erfolg verkaufen, sagt jedoch auch: „Ein Wachstum ist besser, wenn es durch Bestandsbetriebe und nicht durch neue Kapazitäten bewirkt wird.“ Fredlmeier fordert, neue Häuser nur dann zuzulassen, „wenn sie der ganzen Stadt nützen“. Dazu zählt er ein Fünf-Sterne-Hotel, das es in Füssen noch nicht gibt. Eine Bettenobergrenze kann die Stadt nicht erlassen, Wildwuchs sei nur mit Bebauungsplänen zu verhindern.
Mit neuen Hotels können Touristen angelockt werden
In Marktoberdorf, 30 Kilometer von Füssen entfernt, freut man sich über neue Betten. Dort haben heimische Unternehmer gerade das Hotel „Weitblick“ eröffnet, ein Haus, das seinem Namen mit dem Bergpanorama alle Ehre macht. Der Stadtrat hat einstimmig für den Bau mit 100 Zimmern votiert, um mehr Gäste in die Ostallgäuer Kreisstadt zu locken, und dann, als einige Bürger dagegen protestierten, eine Petition für die Ansiedlung auf den Weg gebracht, die von über 2000 Menschen unterzeichnet wurde.
Neue Hotels zu bauen, ist ein Weg, um Touristen zu locken. Was tut man aber, wenn es den Einheimischen schon zu viele Gäste sind? Eine Stadt kann nicht einfach eine rote Ampel am Ortsschild aufstellen, eine Region wie Oberbayern kann auch keine Eintrittskarten verkaufen, wenn zu den jährlich zehn Millionen Übernachtungsgästen am Wochenende auch noch die Münchner in die Berge wollen. Eine Steuerung über den Preis ist ebenfalls kaum möglich: Wenn es teurer würde, litten auch die Einheimischen darunter.
Und schließlich steht hinter einer Tourismusregion nicht ein zentral gesteuerter Konzern, sondern viele einzelne Anbieter mit teilweise eigenen Interessen.
Was kann man tun an den „Hotspots“? Eine Belastung ist der Verkehr. Professor Bauer präzisiert: „Mobilität ist die Grundlage für Tourismus, aber auch eine große Herausforderung.“
Nicht überall gibt es funktionierende Verbundsysteme
Es ist bequemer, mitsamt Gepäck das Auto zu nutzen statt die Bahn. Auch am Urlaubsort sind die öffentlichen Verkehrsmittel für viele Gäste nicht das Mittel der Wahl. Die Taktzeiten sind auf Schüler und Berufstätige ausgelegt, nicht auf die Freizeitwirtschaft. Und nicht überall gibt es funktionierende Verbundsysteme, die den Gästen das Fahren einfach machen. Selbst dann, wenn die Tickets im Zimmerpreis inbegriffen sind, nutzen viele lieber das eigene Auto.
Auch der Trend zu kürzeren Urlauben führt zu mehr Frequenz auf den Straßen, weil es ständig Bettenwechsel gibt. Und dass die Menschen immer mobiler werden, sieht man an der steigenden Zahl der Tagestouristen. Tourismusforscher Bauer sagt, Tagesreisende sorgten für zwei Drittel aller „Aufenthaltstage“ im Allgäu und für ein Drittel des Gesamtumsatzes. Darauf kann man nicht verzichten. Aber Verkehrs- und Parkleitsysteme könnten helfen, die Touristen besser zu steuern und die Einheimischen zu entlasten.
Wobei: Sehr viele Einheimische profitieren ja von den Gästen. 60.000 Arbeitsplätze hängen im Allgäu am Tourismus, in Nordschwaben sind es weitere 30.000. Bezogen auf das Allgäu macht der Tourismus zwar weniger als 15 Prozent der gesamten Wertschöpfung aus, auch wenn die traumhaften Bilder von Bergen und Kühen suggerieren, dass es dort nichts anderes gibt. Dabei ist die Region auch ein Industriestandort mit vielen Hightech-Betrieben.
Aber die 15 Prozent bedeuten immerhin 3,1 Milliarden Euro Umsatz im Jahr. Und zur Wahrheit gehört auch, dass in manchen Gemeinden der Tourismus 80 Prozent der Wirtschaftskraft ausmacht, also die Lebensgrundlage für die Menschen ist. Klar ist jedoch: Auch dort können Ideen für und Investitionen in den Tourismus nicht mehr gegen die Interessen der Einheimischen durchgesetzt werden. Im besten Fall erhöht der Tourismus auch die Lebensqualität der Bewohner im Ort.
Braucht das Allgäu weitere Bergbahnen und Beschneiungsanlagen?
Neben der ökonomischen und der sozialen zählt auch die Komponente Ökologie im Tourismus. Fast 60 Prozent aller Urlauber in Bayern sagen, die Natur habe die wichtigste Rolle bei ihren Aktivitäten gespielt. Entlang der Alpen ist diese Zahl noch höher. Dass die Tourismuswirtschaft mit diesem sensiblen Gut sehr behutsam umgehen muss, ist den meisten Anbietern klar. Wie emotional das Thema diskutiert wird, hat zuletzt die Debatte um den Bau einer Liftverbindung am Riedberger Horn im Oberallgäu gezeigt. Die Menschen in den direkt betroffenen Orten waren überwiegend für den Bau, der Widerstand von außen jedoch so groß, dass die Pläne gekippt wurden.
Nun zahlt der Freistaat 20 Millionen Euro Steuergeld, um dort unter anderem ein Zentrum für Umweltbildung aufzubauen und die Elektromobilität in die Alpen zu bringen. „Der Protest kam von vielen Seiten“, sagt Klaus Holetschek, Landtagsabgeordneter der CSU und Vorsitzender des Tourismusverbandes Allgäu/Bayerisch Schwaben. „Je weiter sie vom Riedberger Horn entfernt wohnen, desto stärker war offenbar das Gefühl: Die Alpen werden zubetoniert. Es war richtig, die Pläne zu korrigieren.“
Aus Sicht von Bernhard Joachim von der Allgäu GmbH braucht das Allgäu auch keine weiteren Bergbahnen und Beschneiungsanlagen. „Wir können mit dem gut leben, was wir haben“, sagt er – doch natürlich müssen manche Anlagen modernisiert werden und haben dann zum Teil eine höhere Kapazität. Kluge Bergbahnbetreiber holen Naturschützer schon zu Beginn ihrer Planungen an den Tisch, wenn sie beispielsweise neue Teiche bauen wollen, in denen Wasser für den mechanisch erzeugten Schnee gesammelt wird. 40 Prozent der Urlauber kommen im Winter, sie sorgen aber für mehr Wertschöpfung als die im Rest des Jahres. 40 Millionen Beförderungen haben die Allgäuer Bergbahnbetreiber im vergangenen Winter gezählt, berichtet Joachim.
Es war ein guter Winter mit ausreichend Schnee. Das ist nicht nur für Skifahrer wichtig: „Auch die Wanderer wollen das Wintergefühl“, sagt Prof. Bauer. Was tut man aber, wenn die Winter wegen des Klimawandels immer grüner werden? Da müssen die Touristiker neue Angebote erarbeiten, Wandern und Wellness allein dürften nicht reichen.
Dank E-Bikes: Immer mehr Menschen radeln auf die Gipfel
Doch auch diejenigen, die vermeintlich naturnah unterwegs sind, bringen Belastungen mit sich. Mountainbiker beispielsweise und Wanderer. Verschiedene Projekte sollen dafür sorgen, dass diese Gruppen einander nicht ins Gehege kommen, „Steuerung“ und „Lenkung“ sind Stichworte, die in vielen Diskussionen genannt werden. Beides ist notwendig angesichts der Menschenmengen, die rund um die Bergstationen einiger Seilbahnen unterwegs sind. Was früher Trampelpfade für Wanderer und Vieh waren, sind beispielsweise auf der Nagelfluhkette mancherorts Wege geworden, mehrere Meter breit. Da schädigen Menschen die Natur, die sie suchen. Und die E-Bikes sorgen dafür, dass immer mehr Menschen auf die Gipfel radeln, die das mit Muskelkraft niemals schafften.
„Jeder Gast ist uns willkommen“, sagt Klaus Holetschek, „wir weisen niemanden zurück.“ Aber die Experten sind sich einig: Die Entwicklung muss maßvoll geschehen, sie setzen auf mehr Klasse statt auf mehr Masse. Gern auch zu höheren Preisen, wenn die Qualität stimmt, denn Wachstum bei der Wertschöpfung ist willkommen. Dazu brauchen sie die Gastronomen, Hoteliers, Skiverleiher, Bergbahnbetreiber. Und die brauchen dringend Fachkräfte. Es gibt Hotels, die nicht mehr alle Zimmer belegen, und Gastwirte, die ihre Häuser nicht mehr täglich öffnen, weil das Personal fehlt. Das Problem wird sich verschärfen, wenn bald der Center Park in Leutkirch eröffnet wird. Dort rechnet man mit weiteren 350.000 Gästen im Jahr.
Ein Teil von denen wird auch an die Hotspots des Allgäus fahren. Zu Spitzenzeiten ist dann dort noch mehr los. Die Allgäu GmbH, der Zusammenschluss aus Kreisen und Städten, muss an der Lenkung der Gäste arbeiten und tut dies auch mit Angeboten für Radler und Wanderer, die auf attraktive Routen geleitet werden. Für die Lösung der Verkehrsprobleme hat allerdings noch niemand eine umsetzbare Idee. Visionen gibt es, zum Beispiel die einer Seilbahn vom Füssener Festspielhaus bis zu den Königsschlössern, um den Verkehr in der Stadt zu reduzieren.
An der Kemptener Hochschule wird ein neues Bayerisches Zentrum für Tourismus aufgebaut, hier soll unter der Leitung von Alfred Bauer Wissen gebündelt und für den Freistaat aufbereitet werden. In Füssen wird der Freistaat ebenfalls ein Tourismuszentrum fördern, dort soll angewandte Forschung stattfinden – an einem Standort, an dem die Chancen und Risiken des Tourismus gut sichtbar werden. Allen Experten ist klar: Tourismus funktioniert für die Gäste nur, wenn es im Urlaub schöner ist als zu Hause. Und für die Einheimischen, wenn sie sich noch wohlfühlen.