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Terrorzelle: Das letzte Opfer der NSU: Eine Polizeibeamtin

Terrorzelle

Das letzte Opfer der NSU: Eine Polizeibeamtin

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    Die Theresienwiese am Rande des Heilbronner Zentrums ist nicht gerade ein städtisches Kleinod. Auf der tristen Schotterfläche sind Autos abgestellt, an den Seiten rauscht der Verkehr, ab und an fährt ein Zug vorbei. Der Circus Carl Busch hat gerade seine weiß-blauen Zelte aufgeschlagen. Es riecht nach Pferdeäpfeln und Sägespänen. Ein Mann im roten Frack rennt von einem Wohnwagen in Richtung Zelt, sein Gesicht ist zur Clownsmaske geschminkt. Zwischen den großen Lastern lugen ein Elefant und ein Dromedar hervor, gleich haben sie ihren großen Auftritt in der Manege.

    Unvorstellbar, dass ausgerechnet hier, wo diese Zuckerwattewelt aufgebaut ist, der Tatort für eines der undurchsichtigsten Verbrechen des Landes liegen soll. Am Rand, an einem schmalen Radweg direkt am Neckar, steht die Gedenktafel. Sie erinnert an die Opfer des NSU-Terrors. Die zwei Blumenschalen daneben haben schon bessere Zeiten erlebt; die Pflanzen haben den Winter nicht überlebt, an einem Trog ist ein Stück Plastik abgebrochen. Die Namen aller zehn Opfer sind in eine Metallplatte eingestanzt, dahinter der Todestag und der Wohnort.

    Debatten um NSU lassen Kiesewetter meist außen vor

    Ganz unten steht der Name Michèle Kiesewetter. Vergangene Woche hat sich ihr Todestag zum sechsten Mal gejährt. Kiesewetter war wohl das letzte Mordopfer der rechtsextremen Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“. Deren Mitglieder sollen zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen umgebracht haben. Fast alle waren türkischer Herkunft – bis auf einen Griechen und jene Polizistin:

    Am Montag soll nun endlich vor dem Oberlandesgericht in München der Prozess gegen die mutmaßliche NSU-Terroristin Beate Zschäpe sowie vier Mitangeklagte beginnen. Die Querelen um die Vergabe der Presseplätze im Gerichtssaal hat den Fokus in diesem Verfahren lange Zeit in eine andere Richtung gelenkt. Die Mordserie selbst rückte in den Hintergrund. Und mit ihr der Fall Kiesewetter.

    Polizistinnenmord hat Schlüsselrolle im Prozess

    Dem Mord an der Polizeibeamtin kommt aus Sicht der Opferanwältin Birgit Wolf eine Schlüsselrolle im Prozess zu. Der Fall sei für den „Nachweis der Mittäterschaft“ an der Mordserie von zentraler Bedeutung, sagt die Anwältin der Ostthüringer Zeitung. „Es ist wahrscheinlich, dass es Zeugenaussagen geben wird, die darauf schließen lassen, dass der Fall Kiesewetter in die Ideologie von Zschäpe und den anderen passt“, so Wolf.

    Sie vertritt die Mutter der getöteten Polizistin. Die Anwältin geht nicht von einem persönlichen Hintergrund für den Mord aus. Diese habe die Täter nicht gekannt und zudem ihren Dienst kurzfristig getauscht. Weil sowohl Kiesewetter als auch die mutmaßlichen Mörder aus Thüringen stammen, ist immer wieder über einen persönlichen Zusammenhang spekuliert worden.

    Die Angeklagten im NSU-Prozess

    Das sind die Beschuldigten im Münchner NSU-Prozess:

    Beate Zschäpe: Sie tauchte 1998 gemeinsam mit Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt unter, um einer drohenden Festnahme zu entgehen. Die drei Neonazis aus dem thüringischen Jena gründeten eine Terrorgruppe und nannten sich spätestens ab 2001 Nationalsozialistischer Untergrund (NSU).

    Ralf Wohlleben: Der ehemalige Thüringer NPD-Funktionär mit Kontakten zur militanten Kameradschaftsszene soll Waffen für das Trio organisiert haben. Der 40-Jährige wurde am 29. November 2011 verhaftet. Nach Ansicht der Ermittler wusste er von den Verbrechen - er ist wegen Beihilfe zum Mord angeklagt.

    Carsten S.: Der 35-Jährige hat gestanden, den Untergetauchten eine Pistole mit Schalldämpfer geliefert zu haben. Er ist wie Wohlleben wegen Beihilfe zum Mord angeklagt.

    Andre E.: Der gelernte Maurer (35) war seit dem Untertauchen 1998 einer der wichtigsten Vertrauten des Trios und soll die mutmaßlichen Rechtsterroristen zusammen mit seiner Frau regelmäßig besucht haben. E. ist als mutmaßlicher Unterstützer der Gruppe angeklagt.

    Holger G.: Der 40-Jährige gehörte wie Wohlleben und die drei Untergetauchten zur Jenaer Kameradschaft. Er zog 1997 nach Niedersachsen um. G. spendete Geld, transportierte einmal eine Waffe nach Zwickau und traf sich mehrfach mit dem Trio. Auch G. ist als mutmaßlicher Unterstützer der Gruppe angeklagt.

    Es ist der Mittag des 25. April 2007. Michèle Kiesewetter, 22 Jahre jung, macht mit ihrem Kollegen Martin A., 24, im Dienstwagen nahe der Theresienwiese Mittagspause. Plötzlich treten zwei Männer zeitgleich von links und rechts an das Auto heran. Kiesewetter, auf dem Fahrersitz, soll nach Erinnerung von A. noch gefragt haben: „Ja hallo, kann ich Ihnen weiterhelfen?“ Dann wird sie erschossen und ihr Kollege lebensgefährlich verletzt. Die Männer nehmen den Polizisten zwei Pistolen der Marke Heckler & Koch P2000 ab sowie drei Magazine mit 39 Schuss Munition. Die Waffen werden später – zufällig – beim Terror-Trio Uwe Mundlos,

    Der Fall Kiesewetter lässt bis heute viele Fragen offen

    Vieles ist ein Rätsel – bis heute. „Wir wissen, dass Mitglieder der Terrorzelle früher öfters im Land waren“, sagt Baden-Württembergs Innenminister Reinhold Gall (SPD). Man habe in den Unterlagen der Gruppe Pläne von Stuttgart, Ludwigsburg und Heilbronn gefunden. „Es ist auffällig, dass auf diesen Stadtplänen unter anderem Banken, Polizeidienststellen und Parteibüros angekreuzt waren“, so Gall. Es werde noch Wochen dauern, „um das Netzwerk an Kontakten zu entflechten“, das die NSU-Zelle im Südwesten hatte. „Das ist wie ein 5000-Teile-Puzzlespiel, das man mühsam zusammensetzen muss, um das ganze Bild zu erhalten.“

    Die Frage ist, ob dem Gericht am Ende auch alle Puzzleteile zur Verfügung stehen werden. Mundlos und Böhnhardt sind tot, Beate Zschäpe schweigt bislang zu den Vorwürfen. Die Anklageschrift hat 488 Seiten, mehr als 600 Zeugen sind benannt, und sowohl die fünf Angeklagten als auch die mehr als 70 Nebenkläger können neue Beweisanträge stellen. Vorsichtige Schätzungen gehen von einer Prozessdauer von etwa zwei Jahren aus.

    Cumali Ardin nippt an seinem Tee. Er sitzt in den Räumen der türkischen Gemeinschaft Heilbronn, keine zehn Fahrminuten von der Theresienstraße entfernt. An der Wand hängt ein riesiger Flachbildschirm, darauf flimmern Nachrichten aus der Türkei. Ardin kann sich noch gut an den Tag des Überfalls auf die Polizisten erinnern. Er war mit dem Auto unterwegs, als plötzlich die ganze Stadt abgeriegelt wurde. „Für eine Strecke von drei Kilometern habe ich vier Stunden gebraucht, die Polizei hat alles kontrolliert“, sagt

    Die Nachricht ließ ihn zunächst ratlos zurück. „Wer soll in Heilbronn eine Polizistin erschießen? Wir sind ja nicht in Neukölln oder Kreuzberg.“ Eine mordende Nazi-Bande, wer hätte darauf kommen sollen? „Erschrocken“ ist Ardin dann beim Gedanken daran, dass hinter den so zähen Ermittlungen mehr gesteckt haben könnte als bloße Schlamperei – nämlich System. „Dass die NSU es jahrelang geschafft hat, in Deutschland unerkannt zu bleiben – da wird einem schon mulmig“, sagt Ardin. „Wo doch gerade in Deutschland so viel kontrolliert wird.“

    Tod der Polizistin ist Stoff für viele Theorien

    Dass hinter dem Verbrechen mehr steht als der Mord an einer Polizistin, dass es um ein Geflecht aus Rechtsextremismus und einen Sumpf aus Fahrlässigkeit geht – und der Gedanke, dass Kiesewetter ein Zufallsopfer war und es auch einen von ihnen hätte treffen können, ist Stoff für viele Theorien. Cumali Ardin sammelt jedes Detail, das im Zusammenhang mit dem NSU-Prozess zutage gefördert wird, er geht zu Vorträgen, saugt alles auf, was mit der Bande zu tun hat. Hier in den Räumen der türkischen Gemeinschaft diskutieren sie immer wieder über die

    Doch das war nicht so. Unendlich viel ist schiefgelaufen bei den Ermittlungen. Beim Fall Kiesewetter war das nicht anders. Nur, dass die Pannen früher auf dem Tisch lagen als die Nachricht von einem rechtsextremistischen Terrorgeflecht, nämlich schon 2009, also zwei Jahre früher. Nur konnte man da noch keinen Zusammenhang zu den anderen Morden herstellen.

    Am Ende glich die Fahndung nach den Mördern der Polizistin nur mehr einem schlechten Film. Monatelang war die Sonderkommission einer Schein-Spur nachgegangen. Im Visier war eine „ausländische“ Täterin, wie man vermutete. Fluchtwege quer durch Mitteleuropa wurden rekonstruiert, die Täter-DNA tauchte mal in Österreich, mal in Frankreich auf. „Rätsel um Phantom“ titelten Zeitungen. Auch von einer „heißen Spur ins Zigeunermilieu“ sprachen Beamte, sie ermittelten unter Schaustellern.

    Die juristische Aufarbeitung der NSU-Morde

    Der Prozess: Er begann im Mai 2013 vor dem Oberlandesgericht München und kann, so wird geschätzt, bis zu zweieinhalb Jahre dauern.

    Die Angeklagten: Auf der Anklagebank sitzen die 38-jährige, in Jena geborene mutmaßliche Rechtsterroristin Beate Zschäpe sowie vier Helfer der Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU).

    Die Anklage: Dem NSU werden zehn Morde in den Jahren 2000 bis 2007 angelastet. Acht der Opfer waren türkischer Abstammung, ein Mann war Grieche.

    Letztes Opfer war die Heilbronner Polizistin Michèle Kiesewetter.

    Alle wurden kaltblütig erschossen, aus nächster Nähe. Hinzu kamen zwei Sprengstoffanschläge mit 23 Verletzten.

    Die mutmaßlichen Täter und NSU-Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die sich kurz vor ihrer Festnahme töteten, entkamen immer unerkannt.

    Beate Zschäpe, so die Anklage, soll Mitglied der Terrorgruppe gewesen sein.

    Das Gericht: Der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts wird auch Staatsschutzsenat genannt. Er ist mit fünf Berufsrichtern besetzt.

    Der Senat ist zuständig bei Anklagen wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit und Offenbarung von Staatsgeheimnissen.

    2012 hatte er zum Beispiel einen Freispruch gegen einen Journalisten aufgehoben, der den Schauspieler Ottfried Fischer mit einem Sex-Video zu einem Interview genötigt haben soll.

    Außerdem werden dort sämtliche Terrorprozesse in Bayern verhandelt. Der Strafsenat verhandelt auch Revisionsverfahren.

    Der Vorsitzende: Richter Manfred Götzl hat seine Karriere 1983 als Staatsanwalt begonnen. Er ist dafür bekannt, dass er sich strikt, fast bürokratisch an Regeln hält.

    In sieben Jahren als Schwurgerichtsvorsitzender kassierte der Bundesgerichtshof nur ein einziges seiner Urteile.

    Nebenkläger: Das Gericht hat 71 Nebenkläger eingeplant, darunter vor allem Angehörige der Mordopfer. (dpa/AZ)

    Kriminalanalytiker schätzten später die Person auf „wahrscheinlich größer als 1,75 Meter“ und versiert im Umgang mit Schusswaffen. Sie gingen sogar von einem im Umgang miteinander vertrauten Täterensemble aus. Aus heutiger Sicht lagen die Profiler damit verblüffend richtig. Doch die Ermittler verfolgten eine falsche Spur. Über sträflich lange Zeit hatten sie eine „brutale Einzeltäterin“ im Visier, eine „unbekannte weibliche Person“, im Polizeijargon „UwP“ genannt. Am Ende stellte sich heraus, dass die Mitarbeiterin einer Firma die DNA durch unsachgemäßes Hantieren an die Wattestäbchen gebracht hatte, mit denen später Spuren gesichert wurden. Die Frau, nach der gesucht wurde, war völlig unschuldig.

    Motiv für den Polizistinnenmord nach wie vor rätselhaft

    Die Theorie der Sonderkommission „Parkplatz“, es mit einer kaltblütigen Einzeltäterin zu tun zu haben, zerplatzte wie eine Seifenblase. Nicht nur die Polizeidirektion Heilbronn, auch das baden-württembergische Landeskriminalamt war nach zwei Jahren skurriler Tattheorien bis auf die Knochen blamiert.

    Maßgebliche Spuren wie ein blutiges Taschentuch vom Tatort, das private E-Mail-Konto Kiesewetters oder Filme von Überwachungskameras wurden nie untersucht. Der Unions-Obmann des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag, Clemens Binninger, befand, es sei zwar ein „Riesenaufwand bei der Verfolgung aller möglichen Spuren“ betrieben worden, doch die „konkrete Datenauswertung“ sei absolut unzureichend gewesen.

    Fahndung nach Kiesewetters Mördern dunkelstes Kapitel in der Geschichte der Landespolizei

    Es war 2009 und man stand wieder ganz am Anfang, voller Staunen über die, wie Polizeipräsident Erwin Hetger auf der Trauerfeier von Michèle Kiesewetter sagte, „Skrupellosigkeit und Kaltblütigkeit dieser Tat, die am helllichten Tag mitten unter uns geschah“. Für die Landespolizei bleibt die Fahndung nach den Mördern eines der dunkelsten Kapitel ihrer Geschichte. Anders als bei den anderen Morden der NSU ist das Motiv für die Erschießung in Heilbronn aber nach wie vor rätselhaft. Nicht nur die Familie, auch die Bereitschaftspolizei in der Böblinger Wildermuth-Kaserne, zu deren Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit Michèle Kiesewetter gehörte, will endlich Klarheit.

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