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Staatsanwalt erschossen: Todesschütze von Dachau schrie: "Scheiß Richter!"

Staatsanwalt erschossen

Todesschütze von Dachau schrie: "Scheiß Richter!"

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    Ein Blumegesteck liegt am Donnerstag (12.01.2012) vor dem Eingang des Amtsgerichts in Dachau.
    Ein Blumegesteck liegt am Donnerstag (12.01.2012) vor dem Eingang des Amtsgerichts in Dachau. Foto: Andreas Gebert

    Im Schaukasten neben Sitzungssaal C hängt noch der Verhandlungsplan von Mittwoch. Um 14.45 Uhr war der Prozess gegen Rudolf U. wegen „Vorenthaltung und Veruntreuung von Arbeitsentgelt“ angesetzt, ist da zu lesen. Es war die letzte Verhandlung an diesem Tag. Es wird auch die letzte Strafsitzung in Saal C gewesen sein – für immer. „Hier werden künftig nur noch Zivilverhandlungen stattfinden, haben wir soeben beschlossen“, sagt Klaus Jürgen Sonnabend, Direktor des Dachauer Amtsgerichts. „Kein Staatsanwalt muss je wieder da rein.“

    Staatsanwalt wurde mit zwei Schüssen getötet

    Staatsanwalt im Gericht in Dachau erschossen - Die Reaktionen

    «Er hatte ein ausgezeichnetes Examen und war ein hervorragender Kollege.» (Die Münchner Oberstaatsanwältin Andrea Titz über den erschossenen jungen Staatsanwalt)

    «Sozusagen in Geheimjustiz zu verhandeln, das wollen wir nicht, und diese Sicherheit werden wir nicht herstellen können.» (Generalstaatsanwalt Christoph Strötz im Bayerischen Rundfunk)

    «Es wird Zeit, dass endlich auch in den Amtsgerichten Sicherheitsschleusen aufgestellt werden.» (Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Bernhard Witthaut, im «Kölner Stadt-Anzeiger»).

    «Auch wir Verteidiger sitzen im Schussfeld.» (Der deutschlandweit tätige Strafverteidiger Harald Baumgärtl im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa)

    «Es herrscht ein breiter Konsens, dass wir aus den Gerichten keine Trutzburgen machen, uns nicht abschotten wollen.» (Bayerns Justizministerin Beate Merk, CSU, am Donnerstag - einen Tag nach dem Dachauer Mord an einem Staatsanwalt - zu Forderungen nach strengeren Sicherheitskontrollen in Justizgebäuden)

    Tilman T. war der letzte Anklagevertreter in Sitzungssaal C, welcher nun mit rot-weißem Absperrband der Polizei versiegelt ist. Der 31-jährige Staatsanwalt aus München wurde bei der Urteilsverkündung vom Angeklagten Rudolf U., einem Spediteur, der 44 000 Euro an der Sozialversicherungskasse vorbeigeschleust haben soll, mit zwei Schüssen in Hüfte und Schulter getötet. Den Richter verfehlte der Todesschütze nur knapp, bevor ihn Zollbeamte überwältigten, die als Zeugen anwesend waren. Ein Jahr Haft auf Bewährung hatte das Urteil gelautet, „sicherlich kein hartes“, wie es Sonnabend kommentiert. Für Rudolf U. offenbar zu viel. Er zog seine Pistole des Kalibers 6,35 aus der Hosentasche und schoss um sich. Berichte, der Angeklagte habe unmittelbar vor der Bluttat seine junge Augsburger Anwältin verbal attackiert, konnten auch gestern einen Tag danach vor Ort nicht bestätigt werden.

    "Laut, poltrig und aggressiv"

    Dass Rudolf U. sein Verbrechen jedoch nicht völlig aus dem Affekt heraus begangen haben kann, wird klar, wenn man Vicky Kisperth zuhört. Sie steht vor dem „Café & Restaurant Schloss Dachau“ und raucht, tippt nervös von einem Fuß auf den anderen. Das Amtsgerichtsgebäude, in dem keine 20 Stunden zuvor die tödlichen Schüsse fielen, ist etwa 100 Meter entfernt. „Ich habe nichts gehört und erst später davon erfahren“, berichtet die 33-jährige

    Rudolf U. trank zwei Halbe Bier in dem Restaurant vor der Verhandlung, seine Anwältin eine Apfelschorle. Der Angeklagte habe sich laut Kisperth „furchtbar“ echauffiert, in einer Lautstärke, die weitere Gäste dazu veranlasste, sich zu beschweren. „Er schrie ,Scheiß Richter!‘ durch den ganzen Raum. Ich hatte den Eindruck, dass er nicht ganz dicht war“, erzählt die Restaurantleiterin. Sie habe ihn zur Mäßigung aufgefordert – laut ihren Aussagen das einzige Mal, dass er sich während des Besuchs ruhig verhielt. Kurz darauf, gegen halb drei, hätten er und die Anwältin das Restaurant verlassen. Rudolf U., den Kisperth als „groß, dick und mit ungepflegten Haaren“ beschreibt, stützte sich auf Krücken in Folge eines vor einiger Zeit erlittenen Schlaganfalls. „Ich hätte ihm diese Tat nie zugetraut. Obwohl er böse war. Aber wem traut man so etwas schon zu“, fragt die junge Frau mit brüchiger Stimme. Wenn sie gewusst hätte, dass er eine Waffe in der Hosentasche mit sich trägt ... Sie muss aufhören zu erzählen. „Entschuldigung, mir ist schlecht.“

    Die Dachauer sind tief bestürzt

    Jetzt schweigt Rudolf U. Gestern beantragte die Staatsanwaltschaft München II Haftbefehl wegen Mordes gegen den Transportunternehmer. Psychologische Gutachten sollen folgen. „Der ist krank, das liegt auf der Hand“, sagt Tina Wingerter (49), Leiterin eines nahen Discounters. „Wegen 44 000 Euro Schulden und einem Jahr auf Bewährung einen so jungen Menschen töten? Er gehört lebenslang weggesperrt.“

    Tödliche Anschläge bei Gericht

    Die Sicherheitsvorkehrungen in Gerichten können blutige Angriffe nicht immer verhindern. Eine Auswahl spektakulärer Fälle:

    Juli 2009: Während einer Verhandlung am Dresdner Landgericht ersticht der Angeklagte eine als Zeugin geladene Ägypterin. Der Russland-Deutsche tötet die Frau aus Fremdenhass und muss lebenslang in Haft.

    April 2009: Im Landshuter Landgericht erschießt ein Mann seine Schwägerin und nimmt sich danach das Leben. Zwei weitere Menschen werden bei der Schießerei vor einem Sitzungssaal verletzt.

    Mai 1998: Ein 69-Jähriger erschießt aus Rache und Hass auf die Justiz einen 52 Jahre alten Amtsrichter in dessen Dienstzimmer in Essen. Dann tötet er sich selbst.

    Februar 1998: Ein Angeklagter schießt im Gerichtssaal in Aurich (Niedersachsen) einen Staatsanwalt an und erschießt sich selbst.

    März 1997: Ein 39-jähriger Polizist erschießt in einem Amtsgericht in Frankfurt/Main seine Ex-Lebensgefährtin und verletzt deren Anwältin schwer.

    Januar 1995: Ein 54-Jähriger schneidet einer Richterin im Kieler Amtsgericht die Kehle durch. Er hatte irrtümlich angenommen, sie sei für seine Sorgerechtsangelegenheit zuständig.

    März 1994: Im Gericht in Euskirchen (Nordrhein-Westfalen) zündet ein 39-Jähriger einen Sprengsatz, da seine Ex-Freundin ihn wegen Körperverletzung verklagt hatte. Bilanz: sieben Tote, darunter die Frau, der Richter und der Täter selbst.

    März 1981: In Lübeck tötet eine 30 Jahre alte Gastwirtin während einer Verhandlung im Landgericht den mutmaßlichen Mörder ihrer siebenjährigen Tochter.

    Die Dachauer sind tief bestürzt. In der Innenstadt unweit des Tatorts geht das öffentliche Leben am Vormittag danach jedoch seinen gewohnten Gang. Nur auf dem Parkplatz beim prächtigen Schloss und dem von außen recht klein wirkenden Amtsgerichtsgebäude, einem von drei in der Großen Kreisstadt, herrscht wesentlich mehr Publikumsverkehr als sonst. Ein halbes Dutzend Fernsehteams hat sich mit Übertragungswagen vor dem Gerichtsbau positioniert und wartet auf Gesprächspartner.

    Auf der Treppe zum Eingang erinnert ein Gesteck mit weißen Rosen und Gerbera an das Opfer der Gewalttat. Ein Zettel an der schweren Holztür weist darauf hin, dass in dieser Woche am Dachauer Amtsgericht keine weiteren Sitzungen abgehalten werden.

    Sagen will dort niemand etwas. Im Gerichtsgebäude sind Tat und Täter überall präsent. „Es muss weitergehen“, startet ein Wachtmeister einen verzweifelten Versuch, die Normalität herbeizubeschwören. Unmöglich, das verrät schon sein auffallend leerer Blick. Mehr dürfe er ohnehin nicht sagen.

    Amtsgerichtsdirektor Sonnabend hingegen spricht. Gefasst erzählt er von Panikattacken, als die Schüsse fielen, von Mitarbeitern, die aus den Fenstern im Erdgeschoss flüchteten oder sich in ihren Büros verbarrikadierten. „Er war ein sehr tüchtiger Jurist, recht breit interessiert und dazu wissenschaftlich aktiv“, sagt er über den Toten, den er aber nur flüchtig gekannt habe. Die Staatsanwälte reisten nur zu den Verhandlungen aus München an.

    Am kommenden Montag zieht ein Teil der Belegschaft in das sanierte Hauptgebäude des Amtsgerichts um. Es ist nur gut 100 Meter entfernt – für einige der Mitarbeiter wohl zu wenig, um die furchtbaren Ereignisse hinter sich zu lassen, befürchtet Sonnabend. „Diejenigen, die unmittelbar an den Geschehnissen beteiligt waren und darunter längerfristig zu leiden haben, haben drei Wochen Bedenkzeit, um über eine mögliche Versetzung zu entscheiden“, sagt der Direktor. Der Bluttat beigewohnt hätten neben Täter und Opfer der Richter, ein Protokollführer, die Verteidigerin und drei Zeugen.

    Der Weg nach draußen führt am Sitzungssaal C vorbei. Im Schaukasten hängt noch immer der Verhandlungsplan von Mittwoch.

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