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Spiritualität: Der Weg zu sich: Wie Corona das Pilgern verändert hat

Spiritualität

Der Weg zu sich: Wie Corona das Pilgern verändert hat

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    Eine Pilgerin auf dem Jakobsweg in Spanien.
    Eine Pilgerin auf dem Jakobsweg in Spanien. Foto: Manuel Meyer, dpa

    Die Frau stellt ein Teelicht auf das silberne Tablett zu den Grabkerzen und den Engelsfiguren. Vor das Holzkruzifix, das an der Wand neben dem überdachten Eingang der Kapelle lehnt. Die Frau, 64 und aus dem nahen Wolfratshausen, ist mit ihrem Auto hierhergekommen an diesem Montagmittag, sie parkt es abseits der Straße unter den Bäumen. Sie schluchzt, als sie erzählt, dass sie sehr gläubig und dies ein Kraftort sei. Sie beginnt zu weinen, als sie sagt, sie habe schwere Krisen hinter sich und stecke wieder in einer. Sie sagt, jetzt etwas gefasster, dass die heilige Corona sie beeindrucke.

    Sie habe eben nochmals die Tafelinschrift an der Wand gelesen. „Die heilige Corona hat auch ein Martyrium durchgemacht.“ Dann bricht ihr die Stimme. Die Frau zündet das Teelicht an, eine Minute später steigt sie in ihr Auto und fährt weg.

    Geistliche Spaziergänge sind während Corona eine Alternative zum Fernpilgern

    Am Wochenende müssen einige Menschen zur Kapelle St. Corona bei Arget, einem Ortsteil von Sauerlach im oberbayerischen Landkreis München, gekommen sein. Mit dem Auto oder dem Rad. Vielleicht als Fußpilger, so genau weiß das keiner, gewiss als Hilfesuchende. „Geistliche Spaziergänge“, kleine Ausflüge, können in Pandemiezeiten mit ihren Lockdowns und Reisebeschränkungen eine Alternative sein zum Jakobsweg und den anderen bekannten Pilgerrouten.

    Die St. Corona-Kapelle bei Sauerlach liegt etwas versteckt in einem Waldstück.
    Die St. Corona-Kapelle bei Sauerlach liegt etwas versteckt in einem Waldstück. Foto: Daniel Wirsching

    Der katholische Pfarrer Josef Steinberger sieht es am Metallmülleimer, dass einige Menschen bei der Kapelle waren. Er ist randvoll mit abgebrannten Grablichtern und Kerzen. Auf dem Boden und in den Fensternischen neben der stets geschlossenen Eingangstür bemerkt er neue Figuren. Auf einem Herz mit Engelsfigur steht: „Du bist mein kleiner Sonnenschein, sollst immer in meinem Herzen sein.“

    Corona-Kapelle bei München ist in der Pandemie ein beliebtes Ziel

    Manchmal fragt er sich, wohin er Engel, Kreuze, Herzen und Jesusbilder räumen soll, wenn die Pandemie vorbei sein und die Corona-Verehrung zurückgehen wird. Wird dieser Ort so unbekannt werden wie er es lange und weithin war? Stellen die Leute aus dem Großraum München irgendwann nicht mehr ihre Fahrzeuge drunten vor der St. Michaels-Kirche ab und pilgern den Waldweg leicht bergan zur Kapelle?

    Als er erzählt, wie das alles begann, überkommt ihn ein Schmunzeln. Steinberger, 56, ist seit Ende 2018 Pfarrer des Pfarrverbands Sauerlach, Anfang 2020 erreichte die Corona-Pandemie Deutschland – und dann, Ende März 2020, konnte er in der Lokalzeitung lesen: Apostolos Malamoussis, griechisch-orthodoxer Erzpriester des Ökumenischen Patriarchats und Bischöflicher Beauftragter für die staatlichen Belange im Freistaat Bayern, habe mit einem Mitbruder die Kapelle besucht und für die Bekämpfung des Coronavirus gebetet. Mehr noch: Malamoussis habe einen Ikonenmaler beauftragt und wolle eine Ikone der heiligen Corona der St. Corona-Kapelle spenden.

    Heilige Corona wurde mancherorts bei Seuchen angebetet

    Malamoussis habe sich Mitte März beim Mesner den Schlüssel besorgt, und er, Steinberger, habe zunächst nichts davon gewusst, erklärt er. Die etwas versteckte und etwas vergessene Kapelle kannte er natürlich. Die Heilige, von der wiederum wenig bekannt ist, sagte ihm nicht viel. Er suchte im Internet nach ihr und las, dass sie Patronin der Schatzgräber und Metzger sei und bei Zahnschmerzen angerufen wurde, mancherorts bei Seuchen. Ihre Standfestigkeit im Glauben beeindruckte ihn.

    Der Sauerlacher Pfarrer Josef Steinberger. Auch er hat die heilige Corona wiederentdeckt.
    Der Sauerlacher Pfarrer Josef Steinberger. Auch er hat die heilige Corona wiederentdeckt. Foto: Daniel Wirsching

    Auf der Tafelinschrift aus dem Jahr 1935 an der Kapelle wird Corona („Krone“) als mächtige Beschützerin vor Hagel- und Wetterschlag und Helferin in Geldangelegenheiten vorgestellt. Gelebt habe sie im 2. Jahrhundert nach Christus in Damaskus in Syrien, wie sie zu Tode kam, zeigt das Altarbild im Innern. Pfarrer Steinberger sperrt auf, einmal die Woche schaut er nach dem Rechten. Corona – Frau des Märtyrers Victor – wird an zwei miteinander verschränkte Palmen gefesselt. Sie seien in die Höhe geschnellt und hätten sie grausam auseinander gerissen, so der Tafeltext.

    Mit der Pandemie endete der Jakobsweg-Boom jäh

    Auch die andere Medien entdeckten die Heilige, die Kapelle wurde bundesweit bekannt. Heilige Corona, hilf! Warum nicht? „Heilige zeigen, dass Wunder möglich sind“, sagt Jesuitenpater Eberhard von Gemmingen. Man könne ihnen näher kommen, Schritt für Schritt. Bei geistlichen Spaziergängen oder beim Pilgern, etwa auf dem Jakobsweg. Dessen Ziel, Santiago de Compostela in Nordspanien, wo sich das Grab des Apostels Jakobus befinden soll, erreichten 2019 fast 348.000 Pilgerinnen und Pilger. Ein Rekordwert. Mit der Pandemie endete der Jakobsweg-Boom der vergangenen Jahre jäh.

    Das Bayerische Pilgerbüro, ein katholischer Reiseveranstalter, konnte zeitweise keine Gruppenreisen durchführen. Unterkünfte schlossen. 2020 erhielten nur knapp 54.000 Menschen ihre Pilgerurkunde im Pilgerbüro von Santiago. Im Juni waren es 424 Deutsche, anstatt Tausende. Momentan ist Spanien Hochrisikogebiet, das Auswärtige Amt warnt vor „nicht notwendigen“ Reisen dorthin.

    Das Altarbild der Kapelle St. Corona bei Arget in der Nähe von München.
    Das Altarbild der Kapelle St. Corona bei Arget in der Nähe von München. Foto: Daniel Wirsching

    Doch der Wunsch, sich auf den Weg zu machen und Hilfe, zu sich oder zu Gott zu finden, ist groß. Für jene, die nicht in die Ferne können oder wollen, hat von Gemmingen ein Buch geschrieben. „Mystiker, Exzentriker, Märtyrer. Geistliche Spaziergänge in Rom“ heißt es. Eine Art spiritueller Reiseführer zu Orten, an denen außergewöhnliche Christinnen und Christen Spuren hinterlassen haben. Ignatius von Loyola ebenso wie Martin Luther. Bis Ende 2009 leitete der heute 85-Jährige Jesuit die deutschsprachige Redaktion von Radio Vatikan, anschließend kehrte er nach 27 Jahren in seine Heimat zurück.

    Jesuitenpater Eberhard von Gemmingen rät zu täglichem Spaziergang

    Er lebt in München, aber seine Seele, sagt er, sei in Rom geblieben. Seit zwei Jahren war er nicht mehr in der heiligen Stadt, wegen Corona. Beim Schreiben habe er die Stationen seines Buches also im Geiste, mit dem Herzen und dem Kopf besucht, erzählt er.

    Sein Rat: jeden Tag eine halbe Stunde oder Stunde herumspazieren. Als Ziel nimmt er sich oft eine Kirche vor. Im Englischen Garten im Kreis herumzulaufen, sei nichts für ihn, und es solle ja ein geistlicher Spaziergang sein. Als Gebet empfiehlt er das „Veni creator spiritus“, auf Deutsch: „Komm, Schöpfer Geist, kehr bei uns ein, besuch das Herz der Kinder dein! Erfüll uns all mit deiner Kraft, die deine Macht erschaffen hat.“

    Wegen Corona kaum Pilger auf dem Bayrischen Jakobsweg unterwegs

    Von Kirchen, Gebet und neuer Kraft sprechen auch Vereinsmitglieder der Jakobus-Pilgergemeinschaft Augsburg. Sie sprechen von den Corona-Folgen und ihren Hoffnungen. Die Folgen zuerst: Wie in Spanien sind die Pilgerzahlen auf dem 2003 eingeweihten „Bayerisch-Schwäbischen Jakobsweg“ von Oettingen im Kreis Donau-Ries über Augsburg nach Lindau eingebrochen. Vor Corona gab der Verein um die 1000 Pilgerpässe jährlich aus, in denen Pilgerinnen und Pilger Stempel für erreichte Etappenziele sammeln.

    Mit aktuellen Zahlen tut sich die Vorsitzende Brigitte Tanneberger aus Kaisheim schwer, aber der Einbruch sei stark gewesen. Von längeren Pilgerwanderungen wurde abgeraten. Pilgerherbergen und andere Unterkünfte zwischen Oettingen und Lindau mussten teils lange schließen. „Vor allem Ältere wollten sich dem Risiko einer Übernachtung nicht aussetzen“, sagt Tanneberger.

    Pilgern geht auch mit dem Rad

    Was blieb: Zelten. Oder die Rückfahrt nach einer Tagesetappe mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder dem Auto, das man zum Zielort gebracht hatte. „Man muss spontaner sein“, sagt Tanneberger. Coronakonform seien viele alleine gegangen, mit Ehefrau oder -mann und in kleinen Gruppen. Auf einsamen Strecken.

    Der Jakobsweg ist ja nicht ein einzelner Weg, sondern ein europaweites Netz an Wegen. Und das wird beständig größer. Auch für Radpilger. Jürgen Nitz, Pfarrer der evangelisch-lutherischen Paulusgemeinde Kaufering, Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) und weitere Helferinnen und Helfer haben in Pandemiezeiten 2200 Kilometer beschildert, nun fehlt es an Pfosten und Blechen. Die Corona-Krise ist auch eine Baumaterial-Krise.

    Wenn das Ziel nicht Santiago ist

    Die Hoffnungen der Jakobus-Pilgergemeinschaft: dass beim Pilgern Normalität einkehrt. Tanneberger wie Nitz stellen fest, dass es langsam weiter geht. Nitz will Ende August mit einer Gruppe von Radpilgern aufbrechen. Das Motto der Tour des ADFC Landsberg am Lech: „Bin I bei mia dahoam? – lebe ich mein Leben, oder werde ich gelebt?“ 400 Kilometer, fester Belag, einzelne Steigungen, von Nürnberg nach Landsberg. Ein Jakobsweg, der nicht nach Santiago de Compostela führt, sondern zurück nach Hause.

    In der Tour-Beschreibung heißt es: „Wir freuen uns sehr auf diesen ersten Jakobusradpilgerweg nach der Coronazeit.“ Gemeint sind die bisherigen Hochphasen der Pandemie mit Inzidenzwerten im hohen dreistelligen Bereich und einer Vielzahl von Ungeimpften.

    Pilgerreisen nach Lourdes und Santiago werden wieder mehr

    Es geht was. Vom Bayerischen Pilgerbüro ist zu hören, dass im ersten Halbjahr 2021 die Buchungen angezogen haben. Mit fortschreitenden Impfungen sei die Reisewilligkeit zurückgekommen. Herbstreisen seien ebenfalls sehr gut gebucht. Für den französischen Pilgerort Lourdes bestehe „eine ungebremste, wenn nicht sogar höhere Nachfrage als bisher".

    Und der Jakobsweg? Die katholischen Diözesen Bayerns haben für Oktober mehrere Wallfahrten geplant – anlässlich des „heiligen Jahres 2021“, das in Santiago de Compostela gefeiert wird, wenn der Gedenktag des heiligen Jakobus der Ältere – der 25. Juli – auf einen Sonntag fällt. Ob das alles wie geplant stattfinden könne, müsse man abwarten. Die Entwicklung sei sehr dynamisch. Das heilige Jahr wurde bis Ende 2022 verlängert.

    Krefelder Polizistin pilgert nach Santiago de Compostela

    Pilgern bedeutet Ausbruch, Aufbruch in persönlichen Krisen- oder Umbruchphasen – und eine tiefe Freude beim Ankommen. In Santiago de Compostela zum Beispiel.

    Polizeikommissarin Taïs Zabrocki war kürzlich in Santiago de Compostela.
    Polizeikommissarin Taïs Zabrocki war kürzlich in Santiago de Compostela. Foto: Polizei Krefeld

    Dort erlebte Taïs Zabrocki in den vergangenen zwei Wochen Pilgerinnen und Pilger, die völlig von Glück erfüllt gewesen seien, die an der Kathedrale klatschten und sangen. „Da habe ich Gänsehaut gekriegt, das war schön“, erzählt die 28-jährige Krefelder Polizeikommissarin. Sie nahm am Austauschprogramm „Europäische Kommissariate“ teil. Bis Sonntag unterstützte sie mit europäischen Kolleginnen und Kollegen in Santiago und Umgebung die Guardia Civil als Ansprechpartnerin für deutsche Pilgerinnen und Pilger.

    Polizistin aus Krefeld joggt nach Santiago

    Eine alleinreisende deutsche Pilgerin, deren Mann sechs Wochen zuvor gestorben war, bat sie eines Tages um Hilfe. Die Frau hatte ihren Mann verloren und nun einen Speicher-Stick mit Erinnerungsfotos. Taïs Zabrocki half bei der Suche, der Stick tauchte nicht auf.

    Das lässt die Polizistin aus Krefeld nicht los. Wie dieses für sie hochemotionale Erlebnis: Mit einem französischen und einem portugiesischen Kollegen joggte sie die letzte Etappe des sogenannten Portugiesischen Jakobswegs bis nach Santiago. Ihre spanischen Eltern waren hier vor wenigen Jahren nach der überstandenen Krebserkrankung ihrer Mutter gepilgert. Als sie nicht mehr konnte, sagte Taïs Zabrocki zu sich: „Ich mach das jetzt auch für meine Eltern.“ Die Polizistin will irgendwann als Pilgerin zurückkehren.

    Ein Bild der Corona-Ikone: Sie soll einmal in der Kapelle hängen.
    Ein Bild der Corona-Ikone: Sie soll einmal in der Kapelle hängen. Foto: Daniel Wirsching

    Pfarrer Josef Steinberger wird auch bald wieder an seiner St. Corona-Kapelle vorbeischauen. Allein oder mit dem griechisch-orthodoxen Erzpriester Apostolos Malamoussis. Der besucht ihn inzwischen häufiger. Am 10. Oktober soll die Ikone der heiligen Corona übergeben werden, möglicherweise im Beisein des Münchner Erzbischofs Reinhard Marx – so Corona will.

    Alle Informationen über den Jakobsweg und aktuelle Hinweise zu coronabedingten Einschränkungen erfahren Pilgerinnen und Pilger bei der Deutsche St. Jakobus-Gesellschaft oder im bayerischen Pilgerbüro. Spezielle Informationen zum Jakobsweg in Bayerisch Schwaben bietet die Jakobus-Pilgergemeinschaft Augsburg. Infos über das Pilgern per Fahrrad hat Radpilgerteam der Evangelischen Kirchengemeinde Kaufering. Das Buch von Pater Eberhard von Gemmingen SJ erschien in dem Verlag Schnell & Steiner (240 Seiten, 25 €).

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