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Häusliche Gewalt: Sollten mehr Richterinnen über Fälle von häuslicher Gewalt urteilen?

Häusliche Gewalt

Sollten mehr Richterinnen über Fälle von häuslicher Gewalt urteilen?

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    Leonie Steinl ist beim Deutschen Juristinnenbund Vorsitzende der Strafrechtskommission.
    Leonie Steinl ist beim Deutschen Juristinnenbund Vorsitzende der Strafrechtskommission. Foto: Michel Buchmann, AZ-Infografik

    Frau Steinl, Sie sind Vorsitzende der Strafrechtskommission des Deutschen Juristinnenbunds und haben in dieser Position Forderungen an die Politik formuliert, um Frauen vor Häuslicher Gewalt besser zu schützen. Warum ist die Situation betroffener Frauen in Pandemiezeiten besonders?

    Leonie Steinl: Gerade in dieser Krisensituation bin ich zunehmend besorgt, weil wir wissen, dass häusliche Gewalt in Deutschland aber auch überall sonst auf der Welt zunimmt. Dass gerade Frauen teilweise auch von schwereren Formen von häuslicher Gewalt betroffen sind, ist für mich und für alle, die in dem Bereich arbeiten, keine große Überraschung. Das beobachten Frauenhäuser, Polizei oder auch Beratungsstellen immer wieder. Gerade an Feiertagen oder an Weihnachten, an denen viele Familien zuhause sind, kommt es verstärkt zu Konflikten oder auch eskalierenden Situationen. Anders als an Weihnachten sind in einer Pandemiezeit alle Menschen stark verunsichert. Es gibt finanzielle, berufliche, gesundheitliche Sorgen, man fühlt sich eingesperrt, hat keine Ausweichmöglichkeiten, keine Kinderbetreuung, keine Unterstützung und so weiter. Dazu kommt, dass es schwierig ist, sich der Gewaltsituation zu entziehen. Die soziale Kontrolle in Kitas, Schulen, vielleicht auch bei Freunden und Freundinnen, Verwandten, Bekannten, die nicht so leicht erreichbar sind.

    Wie lässt sich der Anstieg der Fälle häuslicher Gewalt während der Corona-Zeit begründen?

    Steinl: Wir sind in Deutschland immer noch weit von einer vollständigen Gleichstellung entfernt, das zeigt sich während der Pandemie eben mit mehr Fällen von häuslicher Gewalt. Wir sehen aber zum anderen auch eine starke Retraditionalisierung. Das bedeutet, dass Frauen wieder in alte Geschlechterrollen, Muster, alte Geschlechterstereotypen zurückgedrängt werden, dass sie wieder verantwortlich sind für Heim und Herd, für Kinder und Homeschooling oder Küche und so weiter. Die Männer sind währenddessen immer im Homeoffice. Trotzdem wird teilweise so getan, als dürfe Gleichstellungspolitik jetzt keine Priorität haben, als gäbe es dringendere Probleme. Das ist falsch und gefährlich, denn Gleichstellungspolitik ist kein Luxus, sondern essenziell für das Leben aller Frauen in Deutschland.

    Was wünschen Sie sich als Juristin von der Politik für mehr Gleichberechtigung?

    Steinl: Geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen muss endlich als strukturelles Problem ernst genommen und vor allem in allen Erscheinungsformen wirksam unterbunden werden. Die Betroffenen müssen effektiv geschützt und unterstützt werden. Und das sind ganz zentrale Pflichtaufgaben des Staates. Das ist eine der Stärken der Istanbul Konvention, dass sie einen umfassenden Begriff von geschlechtsspezifischer Gewalt enthält. Sie fasst darunter alle Handlungen, die zu körperlichen, sexuellen, psychischen oder wirtschaftlichen Schäden oder Leiden bei Frauen führen können. Das Problem ist, dass diesem ganzheitlichen Ansatz die rechtliche und tatsächliche Situation in Deutschland bisher nur teilweise gerecht wird.

    Haben Sie ein Beispiel dafür?

    Steinl: Bestimmte Formen von Gewalt werden noch nicht anerkannt. Zum Beispiel in Form von digitaler Gewalt gegen Frauen im Internet. Das wird immer noch bagatellisiert, teilweise sogar von den Strafverfolgungsbehörden, kann aber bei den Betroffenen durchaus zu schweren Folgen führen. Wir haben in Deutschland zwar einige Regelungen gegen geschlechtsspezifische Gewalt. Das Problem ist aber, dass die Umsetzung nicht immer gelingt. Zudem ist das Ausmaß häuslicher Gewalt in Deutschland nicht im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert. Es fehlt oft an Wissen über Ursachen und Auswirkungen. Hinzu kommt eine Schieflage wenn es darum geht, Gewalt gegen Frauen zu erkennen, zu ächten und zu unterbinden. Gewalt gegen Frauen wird viel eher als Problem erkannt, wenn sie sich anderen zuschieben lässt. Das führt dazu, dass geschlechtsspezifische Gewalt im öffentlichen Bewusstsein oft auf Phänomene wie Ehrenmord, Zwangsheirat oder Genitalverstümmelung reduziert wird. Gewalt, und darunter fällt häusliche Gewalt wie auch Trennungstötungen und sexualisierte Gewalt, sind aber allgegenwärtig. Sie kommen in allen gesellschaftlichen Gruppen und Schichten vor und müssen in allen Bereichen wirksam unterbunden werden.

    Aktivistinnen und Frauenrechtlerinnen fordern, in Medienberichten bei Tötungen von Frauen durch ihren (Ex-)Partner von Femiziden zu sprechen. Inwiefern unterscheidet sich ein Mord an einem Menschen durch einen Menschen, von einem Mord an einer Frau durch einen Mann?

    Steinl: Femizide sind die Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts, das heißt, weil sie Frauen sind. Dieses geschlechtsbezogene Tatmotiv unterscheidet sie von anderen Tötungsdelikten.

    Was sind das für Taten, die Frauen betreffen, weil sie Frauen sind?

    Steinl: Wenn wir uns das Phänomen weltweit angucken, dann gibt es ganz unterschiedliche Formen, die unter diesen Begriff fallen.  Dazu zählen zum Beispiel Mitgiftmorde, Ehrenmorde, die wir auch hier kennen, oder die Tötung von weiblichen Babys. In Deutschland hinkt die Diskussion im internationalen Vergleich noch hinterher. Auch eine breite Mobilisierung für das Thema ist in Deutschland bisher nicht gelungen. Während in den letzten Monaten in anderen Ländern Tausende Menschen auf den Straßen gegen Femizide protestiert haben, ist es in Deutschland eine Debatte, die hauptsächlich in feministischen Kreisen geführt wird. Gesamtgesellschaftlich tut sich da wenig.

    Wie sehen Femizid in Deutschland aus?

    Steinl: In Deutschland treten Femizide meistens in Gestalt von sogenannte Trennungstötungen auf. Das ist die Tötung der eigenen Partnerin oder Ex-Partnerin, weil sie sich trennen will oder sich getrennt hat. Frauen werden aufgrund ihres Geschlechts umgebracht, weil die Täter den Frauen nicht zugestehen, ein eigenes selbstbestimmtes, von ihnen getrenntes Leben zu führen. Die Taten sind also Ausdruck eines Besitzanspruchs und einer Vorstellung von geschlechtsbezogener Ungleichwertigkeit.

    Töten die Ex-Partner dann nicht auch aufgrund verletzter Gefühle? Ab wann erkennen Sie da einen patriarchalen Besitzanspruch?

    Steinl: Natürlich können auch verletzte Gefühle eine Rolle spielen und es ist immer eine Einzelfallbetrachtung notwendig. Aber ich finde es wichtig, zu verstehen, dass auch Tötungsdelikte an (Ex-)Partnerinnen, die aufgrund von Enttäuschung oder Verzweiflung begangen werden, doch auch dem Ziel dienen können, die Kontrolle und Macht über die (Ex-) Partnerin wiederzuerlangen.

    Wie viele solcher Taten gibt es in Deutschland?

    Steinl: Wenn wir uns die Zahlen angucken, dann sehen wir in der Kriminalstatistik zur Partnerschaftsgewalt im Jahr 2019 307 Frauen, die Opfer von versuchten oder vollendeten Tötungsdelikten wurden. 117 von ihnen wurden tatsächlich getötet. Das heißt, beinahe jeden Tag versucht mindestens ein Mann, seine Partnerin oder Ex-Partnerin zu töten. Und jeden dritten Tag stirbt eine Frau durch häusliche Gewalt. Ich finde, das zeigt, dass es für viele Frauen auch in Deutschland eine reale Gefahr ist, getötet zu werden oder schwer verletzt zu werden, wenn sie Ihr Leben nicht mehr mit dem bisherigen Partner verbringen will. Diese Taten sind keine Einzelfälle, kein individuelles Problem, sondern als schwerste Form von geschlechtsbezogener Gewalt zu bewerten. Die wirksame Verhinderung von Femiziden wird deshalb auch nur gelingen, wenn wir diese ungleichen Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen angehen.

    Wären ein eigener Straftatbestand „Femizid“ und  härtere Strafen für Gewalt in Partnerschaft eine Lösung?

    Steinl: Ich würde sagen, wenn wir uns das deutsche Strafrecht ansehen, dann ist das Problem nicht unbedingt, dass wir nicht die richtigen Straftatbestände haben. Und auch diese Forderung nach härteren Strafen finde ich nicht so wichtig. Ich sehe das Problem eher bei der Anwendung des geltenden Rechts in diesen Fällen von geschlechtsbezogener Gewalt. Richter und Richterinnen spielen dabei eine ganz zentrale Rolle, denn Gesetze sind immer nur so gut, wie die Personen, die sie anwenden.

    Wie groß ist denn da überhaupt der Interpretationsrahmen. Strafen für Mord, Gewalt sind doch festgelegt?

    Der Interpretationsrahmen betrifft in diesem Fall vor allem die Auslegung der Straftatbestände, also die Frage ob ein Mord vorliegt. Ich denke, dass viele der Probleme bei der juristischen Behandlung von Gewalt gegen Frauen ihre Wurzel auch im Unwissen über die tatsächliche Gestalt des Phänomens haben. Damit sich die Rechtsprechung in diesen Fällen ändert fordert der Juristinnenbund deshalb verpflichtende Fortbildungen zum Thema geschlechtsbezogene Gewalt für Polizei, Staatsanwaltschaft und Justiz. Ein konkretes Beispiel: Im Falle von sexualisierter Gewalt wird von der Rechtsprechung immer noch häufig strafmildernd berücksichtigt, wenn Täter und Opfer vor dem sexuellen Übergriff bereits eine sexuelle Beziehung hatten. Ich finde das höchst problematisch, denn für das Opfer bedeutet es keine Verbesserung, dass es vor der Tat eine sexuelle Beziehung zum Täter gab. Im Gegenteil. Sexualisierte Gewalt durch Partner haben oft schwerwiegende körperliche und psychische Folgen für das Opfer. Und einige psychologische Studien sagen sogar, dass die Auswirkungen noch schwerwiegender sein können als bei fremden Tätern, weil damit eine besondere Traumatisierung einhergeht.

    Entscheiden in Gerichten also zu wenig Richterinnen  über solche Fälle?

    Steinl: Mehr Richterinnen heißt nicht automatisch geschlechtergerechtere Entscheidungen. Auch Frauen sind häufig mit geschlechtsbezogenen Vorurteilen sozialisiert worden. Sie haben die gleichen Vorstellungen und teilweise auch Vorurteile im Kopf, was geschlechtsbezogene Gewalt anbelangt, wie andere Menschen auch. Ich glaube, es liegt nicht so sehr am Geschlecht der Personen, sondern vor allem am Wissen über geschlechtsbezogene Gewalt.

    Zur Person: Dr. Leonie Steinl, 34, Vorsitzende der Strafrechtskommission des Deutschen Juristinnenbunds

    Hier bekommen von Gewalt Betroffene Hilfe:

    Bundesweites Hilfstelefon Gewalt gegen Frauen: 08000116016

    Hilfetelefon Gewalt an Männern: 08001239900

    Nummer gegen Kummer für Kinder und Jugendliche: 116111

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