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Sexueller Missbrauch: Das Schweigen der Männer

Sexueller Missbrauch

Das Schweigen der Männer

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    Sexueller Missbrauch: Erst nach dem Skandal trauen sich viele Opfer, darüber zu sprechen.
    Sexueller Missbrauch: Erst nach dem Skandal trauen sich viele Opfer, darüber zu sprechen.

    Die Zimmerpalme neben dem Fenster hat den Winter gut überstanden. Sattgrün bis in die Spitzen strebt sie zum Licht. "Am Anfang hatte sie nur ein Blatt", sagt Gernot M. (43) und nimmt einen tiefen Zug aus seiner Zigarette.

    "Ich bin der Aldi-Pflanzenretter", erklärt er nach einer kleinen Pause und lacht verlegen in sich hinein. Pflanzen, die übrig geblieben sind und nur noch ein paar Cent kosten, bekommen bei ihm ein Zuhause. Auch die Limette mit den grünen Früchten hat er hochgepäppelt. "Pflanzen haben mir nie wehgetan."

    Aber Menschen. Vor denen hat er Angst. Wenn jemand hinter ihm steht, gerät er in Panik. Und wenn er aufgeregt ist, stottert er. Der große Mann mit den kurz geschorenen Haaren wirkt dann hilflos. Eigentlich ist er ein sportlicher Typ. Nur seine schlaksigen Bewegungen verraten, dass er nicht trainiert ist. Karate und Boxen - das geht nicht mehr, wegen der Gelenke. Den Fußball hatte er von heut auf morgen hingeschmissen und sich mit Kampfsportarten versucht. "Damit ich mich wehren kann."

    Warum, das wusste damals nur er. In seinem Fußballverein interessierte sich niemand dafür. Gernot M. war Schiedsrichter in der B-Jugend. Bis zu jenem Spiel vor 30 Jahren. Der Schiedsrichterbeobachter habe ihn nach dem Abpfiff zur Seite genommen, gelobt und in seine Wohnung eingeladen. Der Bub ging arglos mit. Unter Fußballern fühlte er sich wohl. Hier fand er die Anerkennung, die ihm in der Familie fehlte.

    Sein Vater, ein Choleriker, schlug ihn und verbot ihm vieles. Die Mutter litt an multiple Sklerose und konnte sich nicht um die Kinder kümmern. Aber der Bub hatte ja seinen Verein.

    Das glaubte er jedenfalls. Das Schreckliche, das dann geschah, schildert er nicht im Detail. "Er hat mich missbraucht." Ob er danach weggelaufen ist, wie er heimkam - Gernot weiß es nicht mehr. Angst, Wut, Hass und Ekel blieben zurück und schlimme Bilder in seinem Kopf. Und er hatte niemanden, dem er sich anvertrauen konnte.

    Eine Lehre brach er ab. Er verdiente sein Geld in der Gastronomie und kam mit Drogen in Berührung. Mit 25, nach einer Therapie, schaffte er den Start in ein normales Leben. "Seitdem bin ich clean", versichert er. Er arbeitete sich als Werbekaufmann hoch, heiratete, wurde Vater dreier Kinder. Das Trauma, das ihn belastete, blieb unter der Oberfläche. In der

    Der Zusammenbruch kam im vorigen Sommer. Bei der Augsburger Polizei ist der Selbstmordversuch aktenkundig. Gernot M. wollte sich vom Osram-Steg in den Lech stürzen und hatte auch noch eine Pistole dabei. Ein

    Viele Monate ist er zuletzt alleine zurechtgekommen, zurückgezogen in seiner Wohnung, hatte viel ferngesehen und Kontakte über das Internet gepflegt. Auch zu seiner Firma hält er Verbindung, obwohl er nicht arbeiten kann. Aber jetzt, wo so viel über sexuellen Missbrauch berichtet wird, kommen die Depressionen wieder. Gernot M. weiß, dass er ärztliche Hilfe braucht. Und er will reden, wie so viele in diesen Tagen.

    "Es ist wie ein Dammbruch", sagt Klaus Neumann, Diplompsychologe am Kinderschutzzentrum München. Für viele Betroffene sei die öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema erlösend. "Sie wissen: Ich bin nicht der Einzige, dem so etwas angetan wurde. Ich bin nicht allein." Denn sexuelle Gewalt an Männern sei ein noch größeres Tabu als bei Frauen. "Für einen Mann bedeutete es eine besondere Kränkung", sagt Neumann. Das hänge mit dem alten Rollenverständnis zusammen. "Männer haben stark zu sein. Ein Indianer weint nicht …"

    Er leidet und schweigt. Und er bagatellisiert gerne. Professor Jörg Fegert, Chef der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Ulm, hat herausgefunden, dass die meisten betroffenen Männer glauben, keine psychischen Schäden davongetragen zu haben. Doch im Vergleich zur Gesamtbevölkerung leiden sie häufiger an Alkoholproblemen und körperlichen Beschwerden. Seelische Verletzungen kommen oft erst nach Jahrzehnten zum Vorschein.

    Hartmut G. ist 69. Auch er will über das sprechen, was ihm in einem klösterlichen Schülerheim in Eichstätt widerfahren ist, das nicht mehr existiert. Immer abends, wenn es dunkel wurde, habe der Heimleiter die pubertierenden Buben einzeln zu sich bestellt. Im Lichtkegel der Schreibtischlampe wurden sie peinlich befragt. Zwei Stunden lang mussten sie seiner Schilderung nach intimste Fragen beantworten, während der Pater im Dunkeln saß. "Danach war ich fertig", erinnert sich der pensionierte Lehrer. Eingeschüchtert und schuldbewusst habe er sich davongeschlichen und niemandem ein Sterbenswörtchen verraten. Er schämte sich ja wegen seiner Sünden. Erst als Student erfuhr er, dass andere denselben sexuellen Psycho-Terror durchlitten. "Den Knacks wird man nie mehr los."

    Angezeigt hat er den inzwischen verstorbenen Pater nicht, obwohl ihn ein Freund, ein Pfarrer, dazu aufforderte. "Heute habe ich ein schlechtes Gewissen." Auch Gernot M. kann sich nicht zu einer Anzeige durchringen, obwohl die Chance bestünde, noch nicht verjährte weitere Fälle aufzudecken. Den Namen des Täters weiß er nicht mehr, aber er würde das Haus wiederfinden.

    Die Vielzahl der jetzt bekannt gewordenen Fälle überrascht die Fachleute nicht. "Jetzt muss der Blick nach vorne gerichtet werden", sagt Professor Frevert. Wachsamkeit, ein modernes Beschwerdemanagement, externe Vertrauensleute, von denen die Kinder wissen, dass sie "nicht mit den Tätern unter einer Decke stecken", und ein System, in dem Rückmeldungen abgefragt werden, seien wichtig. "Es geht nicht um die kriminalistische Ausforschung, sondern um das Bewusstsein für die Probleme." Denn es gebe nun einmal pädophile Menschen, die großes pädagogisches Talent haben. Nur mit Offenheit und Transparenz seien die Kinder zu schützen.

    Das Kinderschutzzentrum München, Tel. 089/55 53 56, berät auch anonym. Manuela Mayr

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