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Sekte "Zwölf Stämme": Wer steckt dahinter?

Kreis Dillingen

Vermisstes Mädchen aus Eppisburg: Das ist die Sekte "Zwölf Stämme"

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    Aufnahme einer Polizeiaktion gegen die Sekte "Zwölf Stämme", deren Mitglieder im Hintergrund zu sehen sind.
    Aufnahme einer Polizeiaktion gegen die Sekte "Zwölf Stämme", deren Mitglieder im Hintergrund zu sehen sind. Foto: Ronald Hummel

    Die vermisste Elfjährige aus Eppisburg im Landkreis Dillingen ist also offenbar von ihren leiblichen Eltern geholt worden. Sie war am Samstagnachmittag zum Joggen gegangen und nicht zu ihren Pflegeeltern zurückgekehrt. Ob das Mädchen freiwillig mitgegangen ist, ob sie sich vielleicht sogar mit ihren Eltern verabredet hat, oder ob sie entführt wurde, ist bislang unklar. Auch der genaue Aufenthaltsort der Elfjährigen ist bisher unbekannt. Die Kripo ermittelt. Klar ist nur: Die leiblichen Eltern von Shalomah gehören der umstrittenen Sekte "Zwölf Stämme" an und hatten vor rund acht Jahren nach Prügelvorwürfen gegen die Glaubensgemeinschaft das Sorgerecht für sie verloren. Wollen sie sich nun auf diese Weise rechtswidrig ihr Kind zurückholen? Der Ärger mit den Behörden um die Kinder ist ein Muster, das sich wie ein roter Faden durch den langjährigen Aufenthalt der

    "Zwölf Stämme" – eine fundamentalistische christliche Glaubensgemeinschaft

    Die "Zwölf Stämme" sind eine fundamentalistische christliche Glaubensgemeinschaft. Sie gehen zurück auf die kalifornische Bewegung „Jesus Movement“ Anfang der 70erJahre, einer Folgeerscheinung der Hippie-Bewegung. Als Gründer gilt das Ehepaar Gene und Marsha Spriggs, die das Ziel ausgaben, nach dem unverfälschten Glauben der Urchristen zu leben. Die aus dieser Bewegung entstandene Gemeinschaft der "Zwölf Stämme" lebt heute in Nord- und Südamerika, Australien, Frankreich, Spanien, Portugal und Tschechien. In Deutschland lebten über viele Jahre gut 100 Mitglieder auf dem ehemaligen Gut Klosterzimmern im Landkreis Donau-Ries. Äußerlich fallen die Männer durch lange Haare und Vollbärte auf, die Frauen durch klassische ländliche Kleider, wie sie früher in Nordamerika üblich waren. Ihr Leben in Kommunen ist streng hierarchisch gegliedert.

    "Zwölf Stämme" in Klosterzimmern.
    "Zwölf Stämme" in Klosterzimmern. Foto: Ronald Hummel

    In Schwaben tauchten die "Zwölf Stämme" erstmals im Jahr 2000 auf. Damals kaufte ein Ehepaar aus Bremen das 18 Hektar große Gelände des ehemaligen Zisterzienserinnenklosters für 1,8 Millionen Mark vom Fürstenhaus Oettingen-Wallerstein. Es wollte dort mit seiner Glaubensgemeinschaft – etwa 100 Menschen – leben und arbeiten.

    Die Atmosphäre auf dem Gut schien nahezu idyllisch. Man sah die Kinder unter Bäumen spielen, Wäsche hing beim Trocknen in der Sonne. Es gab einen Hofladen, in dem eigene Produkte verkauft wurden. Männer mit langen Bärten und Frauen mit langen Kleidern saßen auf der Wiese.

    Doch schon kurz darauf gab es Schwierigkeiten. Die Mitglieder der „Zwölf Stämme“ weigerten sich, ihre Kinder auf die staatliche Schule zu schicken, weil dies nicht mit ihrem Glauben vereinbar sei. Sie ignorierten alle Aufforderungen, Bußgelder und Gerichtsurteile, bis die Behörden Zwangsmaßnahmen einleiteten: Zunächst brachte die Polizei die Kinder zur

    Sekte "Zwölf Stämme" durfte Kinder zu Hause unterrichten

    Die Stimmung kippte. War die Bevölkerung anfangs sehr kritisch gegenüber der urchristlichen Sekte, hieß es nun, die Zwangsmaßnahmen dienten nicht dem Wohl der Kinder. Die Bilder in den Medien zeigten Wirkung unter Politikern. Das Kultusministerium knickte ein und genehmigte im Jahr 2006 eine sogenannte private Ergänzungsschule, einen in dieser Form einmaligen Sonderweg, der eigentlich der Schulpflicht widerspricht. Die „Zwölf Stämme“ durften ihre Kinder zu Hause unterrichten mit eigenen Lehrern, eigenem Lehrplan, eigenen Lehrmaterialien. Als Ausnahme wurde genehmigt, dass Sexualkunde und Evolutionstheorie nicht gelehrt werden.

    Zwangsweise Durchsetzung der Schulpflicht: Eine Polizeiaktion bei der Glaubensgemeinschaft "Zwölf Stämme" in Klosterzimmern.
    Zwangsweise Durchsetzung der Schulpflicht: Eine Polizeiaktion bei der Glaubensgemeinschaft "Zwölf Stämme" in Klosterzimmern. Foto: Ronald Hummel (Archivbild)

    Noch ein Jahr zuvor hatte das Schulamt Donau-Ries den Unterricht in Klosterzimmern scharf kritisiert. Die Lehrer genügten den staatlichen Anforderungen nicht, in einigen Fächern gebe es „erhebliche dogmatisch bedingte Abweichungen“. So werde ein Menschenbild vermittelt, das Mann und Frau nicht als gleichberechtigt ansieht und deshalb „nicht auf die Lebenswirklichkeit außerhalb der Gemeinschaft“ vorbereite. Doch die Bedenken wurden um des lieben Friedens willen vom Tisch gefegt. Einige Jahre lang schien es so, als ob die Sonderlösung funktionieren könnte. Eine private Schule unter staatlicher Aufsicht. Doch dann berichteten Aussteiger der Sekte auch gegenüber unserer Redaktion von höchst fragwürdigen Erziehungsmethoden, zu denen Schläge mit einer Rute, Gehirnwäsche und Rassismus zählten. Zunächst hatten die Behörden keine belastbaren Belege für derlei Methoden. Doch dann schleuste sich ein Fernsehreporter inkognito bei der Sekte ein und lieferte Videosequenzen, auf denen Züchtigungen mit Ruten zu sehen sind. Nach anfänglichem Abstreiten räumte die Sekte ein, ihre Kinder mit einer dünnen Weidenrute zu züchtigen. Sie berufen sich dabei auf das Bibel-Zitat "Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn beizeiten". Und sie halten an dieser Erziehungsmethode fest.

    2013 kommt es zu einer Razzia. Rund 40 Kinder werden den Eltern vom Jugendamt weggenommen. Das Sorgerecht wird ihnen entzogen. Die Kinder kommen zu Pflegeeltern in der Region. Einige kehren später zu ihren Eltern zurück. Andere bleiben in Pflegefamilien. Wie das elfjährige Mädchen in Eppisburg im Landkreis Dillingen.

    2018 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass mit dem Entzug des Sorgerechts keine Menschenrechte verletzt worden sind. Die Sekte war da schon aus Gut Klosterzimmern weggezogen. Sie lebt heute in Skalna in Tschechien, rund 15 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt.

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