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Schwangau: Neuschwanstein: Wie können zwei Chinesen einfach verschwinden?

Schwangau

Neuschwanstein: Wie können zwei Chinesen einfach verschwinden?

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    Polizeitaucher haben vergangene Woche erfolglos in der Pöllatschlucht nach den beiden vermissten Chinesen gesucht.
    Polizeitaucher haben vergangene Woche erfolglos in der Pöllatschlucht nach den beiden vermissten Chinesen gesucht. Foto: Benedikt Siegert

    Bevor Sihong und Xiaoxia Chen an einer der meistbesuchten Sehenswürdigkeiten Bayerns verschwinden werden, steigen sie auf Parkplatz P1 aus einem Reisebus, er trägt Sandalen und Jeans, sie einen weißen Pullover zur hellen Hose. Ein paar hundert Meter bergauf sind es von hier bis Neuschwanstein. Doch die beiden chinesischen Touristen werden nie ankommen.

    Sie werden keine Eintrittskarten in die Schlitze der Drehkreuze des Märchenschlosses schieben. Werden nicht hören, was die Schlossführer in 30 Minuten über Ludwig II., seine Träume und sein monumentales Werk erzählen. Sie werden sich auch nicht jenseits des Torbaus in die Schlangen an den Besuchertoiletten einreihen. Ihr Bus fährt an jenem Samstagabend ohne sie ab.

    Suche nach den Chinesen wurde eingestellt

    „Wir haben die Suche eingestellt“, sagt Polizeisprecher Sebastian Adam. Die Taucher sind weg, die Hubschrauberbesatzungen mit ihren Wärmebildkameras, die Polizisten der alpinen Einsatzgruppe. Weit mehr als 100 000 Urlauber aus Asien besuchen jedes Jahr die Königsschlösser im Allgäu, jeder dritte Übernachtungsgast stammt aus China oder Japan, abertausende durchreisende Bustouristen auf Bayern-Blitzvisite sind da nicht mal mitgerechnet. Wie konnten Sihong, 37, und Xiaoxia Chen, 39, direkt unterhalb von Neuschwanstein verloren gehen? Gut eine Woche später stehen hinter dieser Geschichte viele Fragezeichen. Warum zum Beispiel wurden die anderen 26 Mitglieder der Reisegruppe vor dem Rückflug nicht befragt? Warum ließen die beiden Vermissten ihre Pässe beim Reiseleiter zurück?

    Parkplatz P1 in Schwangau also, kurz hinter dem Ortsschild des Weilers Alterschrofen. Unweit des Gebiets, in dem Ludwig II. einst den Kalkstein für die Märchenschloss-Fassade schlagen ließ, hat an jenem Tag der Bus der Chinesen gehalten. So wie die meisten Reisebusse der Europa-Schnelltouristen. Ein Stück die Straße hinauf und näher am Schloss gibt es einen zweiten Busparkplatz, sagt der Wächter. Sechs Euro kostet das Parkticket am Märchenschloss. Diana Pfaff stammt aus dem Bodenseegebiet, sie ist gerade ausgestiegen, ein Wochenendtrip führt die 23-Jährige nach Neuschwanstein. Der Fall Chen hat sie berührt, sagt sie, weil sie selbst chinesische Wurzeln hat.

    Warum haben Sihong und Xiaoxia Chen ihre Pässe nicht mitgenommen, als sie verschwanden? Die 23-Jährige hat dafür eine Erklärung: Chinesische Touristen müssten nach der Ausreise aus dem Reich der Mitte Pfand beim Veranstalter hinterlegen, ein Sparbuch zum Beispiel oder eben den Pass. Dann verabschiedet sie sich in Richtung Ticketcenter.

    Wer Neuschwanstein besuchen will, folgt einfach den Touristenströmen, den vorbei eilenden asiatischen Gruppen, den Familien mit Buggys und Kraxen, dem pausenlosen Klicken von Handys und Spiegelreflexkameras. Sind Sihong und Xiaoxia Chen hier entlang gekommen? Haben sie den „Sommerweg“ genommen, der sich unterhalb des Ticketcenters in Serpentinen durch den Wald bis hoch zum Hauptweg windet? Fragen über Fragen.

    Unterwegs zweigt der Pfad zur Pöllatschlucht ab. Dort sind vergangene Woche die Polizeitaucher ins eiskalte Wasser gestiegen, haben Vorsprünge und Felsen abgetastet. Ihre wasserdichten Ausrüstungsbeutel leuchteten als gelbe Punkte inmitten des Blau-Grün-Beige von Bergwasser, Büschen und Gestein.

    Für Wanderer ist die Schlucht derzeit wegen Steinschlaggefahr gesperrt, ebenso die berühmte Marienbrücke hoch über ihr. Ludwigs Vater, Maximilian II., hat sie als Geburtstagsgeschenk für seine bergsteigende Gemahlin Marie anlegen lassen, sein Sohn baute sie aus. Seit einem Jahr wird die Brücke in schwindelerregender Höhe saniert. Wollten die beiden Chinesen auf eigene Faust in diese Richtung?

    Im Vermisstenfall Sihong und Xiaoxia Chen ist alles anders

    In den Antworten der Allgäuer Polizei klingt Ratlosigkeit durch. Mit zwei verschwommenen Schwarz-Weiß-Fotografien fahndet sie nach dem Ehepaar, mittlerweile im gesamten Schengen-Raum. Ein paar Hinweise seien in den vergangenen Tagen eingegangen, sagt Polizeisprecher Adam, doch Brauchbares war nicht darunter. Verbrechen, Suizid, Unfall, absichtlich untergetaucht – alles ist möglich, nichts ausgeschlossen in den Vermisstenfällen Nummer 21 und 22 der Polizei Füssen in diesem Jahr. Fast immer sind die Gesuchten wieder aufgetaucht. Nur bei Sihong und Xiaoxia Chen ist alles anders.

    Im Polizeipräsidium Schwaben Süd/West, in dessen Einzugsgebiet zwischen Bodensee, Allgäu, Neu-Ulm und Günzburg 930 000 Menschen leben, liegt die Zahl der Vermissten aktuell bei 631. Darunter sind demente Senioren, Schulschwänzer und unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Gerade letztere hätten die Zahlen über vermisste Ausländer nach oben getrieben, sagt Adam. Aber Touristen? Sie verschwinden selten – und noch seltener rund um die Königsschlösser im Allgäu.

    Einer der wenigen Fälle ereignete sich am 16. April. Zwei Amerikaner meldeten einen dritten als vermisst. Wie sich herausstellte, hatte er nur den Bus verpasst und kam einige Stunden später mit einem anderen Transport von selbst zum Hotel.

    Anders als Sihong und Xiaoxia Chen. Nach ihrem Verschwinden hat die Allgäuer Polizei die chinesische Botschaft in München eingeschaltet. Die zurückgelassenen Reisepässe des Paars liegen mittlerweile dort. Doch warum wurden die anderen Mitglieder der Reisegruppe nicht befragt? Nachdem der Reiseleiter am Samstagabend vor Ort Anzeige erstattet hatte, fuhr der Bus mit 26 chinesischen Touristen in ein Hotel in der Tiroler Gemeinde Obsteig. Drei Tage später reiste die Gruppe über Rom und Amsterdam zurück nach Asien zum Startpunkt Xiamen in der Provinz Fujian.

    Hat keiner aus der Gruppe etwas bemerkt? Stellte niemand Fragen, als sich die Chens am Parkplatz unterhalb von Neuschwanstein allein auf den Weg machten – und vor allem nicht mehr zurückkehrten? Polizeisprecher Adam bleibt vage. Er sagt lediglich: Aufgehalten und befragt wurde nach der Vermisstenanzeige niemand mehr. Auf der Internetseite der Polizei heißt es: Keine Anhaltspunkte für „strafbares Verhalten durch Dritte“.

    Die Reisegruppe war am 27. Juni vom Xiamen Gaoqi International Airport zur Europareise aufgebrochen. Ein chinesischer Veranstalter hat die einwöchige Reise geplant und nur ein paar Stunden fürs Märchenschloss freigehalten: Aussteigen, hochlaufen, Fotos vom Schloss machen, Führung, dann weiter mit dem Bus. Zigtausende Asiaten machen so Urlaub, durchqueren innerhalb von Tagen halb Europa. Wie viele insgesamt ins Allgäu kommen, ist kaum zu beziffern. Gunnar Loibl vom Bayerischen Landesamt für Statistik verweist darauf, dass die Zahlen seiner Behörde nur Touristen erfassen, die vor Ort übernachten, nicht aber die Busgruppen.

    Das Märchenschloss Neuschwanstein von König Ludwig

    Das von König Ludwig II. (1845-1886) erbaute «Märchenschloss» Neuschwanstein liegt idyllisch in den Bergen von Schwangau.

    Es ist eines der absoluten Top-Touristenziele in Deutschland: Im vergangenen Jahr beispielsweise kamen mehr als 1,5 Millionen Besucher aus aller Welt zu dem Schloss bei Füssen.

    Geplant war das Bauwerk zunächst als schlichte Ritterburg - doch der eigenwillige Regent ließ auf etwa 1000 Meter Höhe ein Meisterwerk des Historismus bauen.

    Grundsteinlegung von Schloss Neuschwanstein war am 5. September 1869. Zunächst wurde der Torbau errichtet, dessen Obergeschoss dem «Kini» jahrelang als Wohnung diente.

    Dann folgten die weiteren Gebäudeteile, wobei die letzten erst 1892, nach Ludwigs Tod, fertiggestellt wurden.

    Die Innenräume sind reich mit kunsthandwerklichen Darstellungen aus der deutschen Sagenwelt geschmückt. Szenen aus der Tannhäuser-Sage, aus Lohengrin, Tristan und Isolde, dem Nibelungenlied, aber auch aus dem Leben Walters von der Vogelweide zieren Decken und Wände. (dpa)

    Dass speziell bei Chinesen und Japanern der Allgäu-Stunden-Tourismus boomt, bestätigen viele Brancheninsider rund um Neuschwanstein. Die Busse seien auf der Romantischen Straße unterwegs, kommen aus München und fahren weiter nach Österreich und Italien, sagt eine Mitarbeiterin in Hohenschwangau. Die überörtlichen Reiseagenturen, die Asiaten ins Land bringen, haben oft Niederlassungen am Drehkreuz Frankfurt, sagt Thomas Günter, Marketingleiter bei Neuschwanstein Hotels. Doch es geht offenbar auch ohne Mitarbeiter in Deutschland. Im Fall des Ehepaars Chen sei keine deutsche Vertretung bekannt, die Reiseagentur sitze ausschließlich in China, heißt es bei der Polizei. Schulterzucken dagegen bei der Frage, ob es rund um die chinesische Küstenstadt Xiamen Angehörige und Freunde des Paars gibt, die nun privat suchen wollen. Darum kümmere sich die chinesische Botschaft, so der Sprecher.

    In einem anderen spektakulären Vermisstenfall im Allgäu war das so. Als 2013 in den Oberallgäuer Bergen eine 23 Jahre alte Israelin verschwand, reisten ihre Eltern in Begleitung eines Privatdetektivs an. Der Leichnam der jungen Frau wurde Tage darauf gefunden, sie war abgestürzt.

    Sind die beiden Chinesen ebenfalls verunglückt? Das Gebiet rund um Neuschwanstein ist bewaldet und durchzogen von einem Netz an Wanderwegen. Allerdings verstellen Warnschilder seit Monaten die zwei, drei Abzweige vom geteerten Hauptweg in Richtung Schlucht. Auf halber Strecke machen hier die Pferdekutschen Halt, gleich neben dem Souvenirladen, einem Briefkasten und Restaurants. Die Chens? Der Ladenmitarbeiter schüttelt den Kopf, er wisse nichts. Es scheint, als wäre es der Stoff, aus dem rund um Neuschwanstein viele Geschichten sind, angefangen beim mysteriösen Tod Ludwigs II. bis hin zu seinem nach Vorbild mittelalterlicher Sagen ausgestatteten Märchenschloss.

    Kurz vor dem Eingang treffen Kini, Kommerz und Kitsch noch einmal aufeinander. Asiatische Touristen drängen sich vor einer Posterwand zum Selfie-Schnappschuss mit Handy und Verlängerungsstab. Von den Chens bleiben im Allgäu wackelige Schwarz-Weiß-Aufnahmen gespeichert.

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