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SPD-Mitgliederentscheid: Die SPD-Mitglieder sind zerrissen bis ins Hinterzimmer

SPD-Mitgliederentscheid

Die SPD-Mitglieder sind zerrissen bis ins Hinterzimmer

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    Weiter mit der Union regieren? Oder doch vier Jahre in die Opposition? Die Mitglieder des SPD-Ortsvereins Ichenhausen (Landkreis Günzburg) sind da unterschiedlicher Meinung.
    Weiter mit der Union regieren? Oder doch vier Jahre in die Opposition? Die Mitglieder des SPD-Ortsvereins Ichenhausen (Landkreis Günzburg) sind da unterschiedlicher Meinung. Foto: Alexander Kaya

    Leicht nach vorne gebeugt sitzt Manfred Bock da, die Brille auf der Nase, den Finger auf der neuesten Ausgabe der Vorwärts. Er liest, schüttelt den Kopf und schimpft: „Alles Wischi-Waschi!“ Der 75-Jährige blättert weiter in der SPD-Parteizeitung und der darin abgedruckten Fassung des Koalitionsvertrags mit der Union. Bock hat daheim unzählige Passagen angestrichen, die ihm offenbar besonders absurd vorkommen. An diesem Abend will er darüber reden, hier im Hinterzimmer des „Gasthaus zur Eisenbahn“.

    Die Sitzmöbel sind in die Jahre gekommen, die Polster abgewetzt, an denn Fenstern hängen weiß-blau gestreifte Vorhänge, auf dem Tisch liegen diverse rotgefärbte Parteibroschüren. Der SPD-Ortsverein Ichenhausen (Kreis Günzburg) hat zur Diskussion geladen. Es geht, natürlich, um das alles beherrschende Thema in diesen Tagen: den Mitgliederentscheid der Sozialdemokraten. Noch bis Freitag dürfen deutschlandweit gut 463000 Mitglieder darüber abstimmen, ob ihre Partei, die bei der Bundestagswahl im September historisch schlechte 20,5 Prozent geholt hat, erneut in eine Große Koalition mit der Union eintreten soll. Am Sonntagnachmittag wird das Ergebnis verkündet.

    SPD-Mitgliederentscheid „Ich bin dafür, dass wir dagegen sind“

    Für Manfred Bock ist die Sache klar: „Ich bin dafür, dass wir dagegen sind“, sagt der pensionierte Lehrer. „So abfällig und arrogant, wie sich ein Dobrindt oder ein Scheuer zuletzt geäußert haben – die nehmen uns doch nicht ernst und lassen uns am langen Arm verhungern.“ Der in den vergangenen Wochen ausgehandelte Koalitionsvertrag ist in seinen Augen nicht mehr als ein „Sammelsurium an Wünschen, die nie erfüllt werden“. Noch dazu, vier weitere Jahre in GroKo täten der SPD nicht gut.

    Norbert Trautwein sitzt ihm gegenüber. Und kann gar nicht anders, als zu widersprechen: „Wir haben gar keine andere Wahl. Deutschland braucht endlich eine neue Regierung, sonst machen wir uns doch lächerlich.“ Mit seinen 81 Jahren ist der frühere Berufskraftfahrer der Älteste in der Runde. Er fürchtet, dass, sollte es zu Neuwahlen kommen, die SPD noch schlechter abschneidet als zuletzt. Und eine Minderheitsregierung der Union, mit den Sozialdemokraten in der Opposition – wäre das eine Option? „Mit so etwas haben wir in Deutschland doch überhaupt keine Erfahrung. Das geht nicht“, sagt Trautwein, schüttelt den Kopf und greift zum Bierglas.

    Die SPD ist gespalten. Im Bund, in Bayern, in Ichenhausen, eigentlich überall. Vordergründig geht es um die Entscheidung über eine mögliche Regierungsbildung. Doch hintergründig, das wird in den Gesprächen mit der Basis deutlich, geht das Problem viel tiefer. Die Partei habe sich über viele Jahre hinweg immer weiter von ihren Wählern entfernt, sagen manche. Viele sehen in der Agenda-Politik von Kanzler Gerhard Schröder und den damit verbundenen Einschnitten im Sozialsystem den Anfang allen Übels. Dann zwei Legislaturperioden Seit an Seit mit der Union, aus deren Schatten die SPD nie wirklich heraustreten konnte. Und nun das Hin und Her zwischen Opposition und Regierung, die unrühmlichen Hahnenkämpfe an der Parteispitze, die Umfragewerte, die immer weiter fallen.

    In Schwaben sind zuletzt 395 Personen in die SPD eingetreten

    Die SPD müsse sich endlich erneuern, das gehe nicht unter der Fuchtel einer Kanzlerin Angela Merkel, skandieren die Jusos mit ihrem Anheizer Kevin Kühnert. Und tatsächlich fand die „No GroKo“-Bewegung in den vergangenen Wochen viele Anhänger. Wie viele, das ist die spannende Frage dieser Tage.

    Schwabens SPD-Chefin Ulrike Bahr glaub, dass viele Mitglieder noch unentschieden sind. „In meinen Veranstaltungen überwiegen die kritischen Stimmen. Allerdings ist es schwer einzuschätzen, ob das wirklich die Mehrheit ist oder die Kritiker nur lauter sind als die Befürworter.“ 395 Personen sind im Schwaben zuletzt in die SPD eingetreten. Die Augsburger Bundestagsabgeordnete selbst ist eine erklärte GroKo-Kritikerin. Zwar seien „viele gute sozialdemokratische Projekte“ im Koalitionsvertrag enthalten. Doch mit der Erfahrung der vergangenen vier Jahre fehle ihr das Vertrauen, dass sich diese mit der Union umsetzen lassen.

    In Ichenhausen, wo sich mittlerweile acht Genossen im „Gasthaus zur Eisenbahn“ versammelt haben, sind die GroKo-Befürworter leicht in der Überzahl. „Die Volksparteien müssen jetzt gemeinsam marschieren, sonst sehen wir bald alt aus“, sagt Gerlinde A. Schweiger, die Vorsitzende des Ortsvereins. Sie blättert in einer kleinen Broschüre, die die SPD ihren Mitgliedern anlässlich des Votums nach Hause geschickt hat: „Der Koalitionsvertrag auf einen Blick“. Darin werden stichpunktartig die vermeintlich wichtigsten Willenserklärungen aufgelistet. „Für Kinder, Familien, Auszubildende, für Rentner, den Klimaschutz, Europa – für alle wird etwas gemacht“, zählt Schweiger auf, „das ist doch gut.“

    „Das kannst du doch alles vergessen, was da steht“, wirft Manfred Bock, der pensionierte Lehrer ein. Energiewende, Zuwanderung, Zinsen, Steuern, Gesundheit, Pflege – es laufe einiges schief in Deutschland. Viele dieser Probleme seien von der alten GroKo verursacht und könnten von einer neuen nicht gelöst werden. In diesem Punkt bekommt er Unterstützung von einem Mann, mit dem er an diesem Abend öfter mal kräftig – rein argumentativ natürlich – aneinandergerät: Karl Bayer. 77 Jahre und seit 62 Jahren berufstätig, wie er betont. „Das sind doch alles nur Worthülsen“, sagt der Schnauzbartträger mit leicht errötetem Kopf. Auch die so oft und gerne beschworene Erneuerung der Partei in der Opposition. „Das wird nicht passieren, das sieht man doch in Bayern. Da versauert die SPD seit Jahrzehnten in der Opposition.“

    Nahles ist überzeugt, dass es für ein Ja zur GroKo reicht

    In Ulm wirbt die Parteispitze am Sonntag noch einmal für den Koalitionsvertrag. Es ist die letzte von insgesamt sieben Regionalkonferenzen, 550 Genossen aus Bayern und Baden-Württemberg sind ins Congress Centrum gekommen. „Ich bin optimistisch, dass wir eine Mehrheit für ein Ja haben werden“, sagt Andrea Nahles, die designierte SPD-Chefin. Sie verspricht, sich mit voller Kraft einer konstruktiven Parteiarbeit zu widmen. Deswegen werde sie auch nicht in die Regierung eintreten, sondern bewerbe sich um den Parteivorsitz. Die Erneuerung der SPD ist für viele Mitglieder das zentrale Thema. Dass diese auch in einer Großen Koalition gelingen kann, davon ist die Mehrheit der Genossen in Ulm überzeugt. GroKo-Gegner wie die Parteilinke Hilde Mattheis fordern einen Neuanfang in der Opposition. Trotz der unvereinbaren Positionen ist die Atmosphäre bei der Regionalkonferenz sachlich. „Es war eine sehr spannende Diskussion“, sagt Olaf Scholz, der kommissarische SPD-Vorsitzende.

    Ortswechsel. Es ist eiskalt in der Jakobervorstadt in Augsburg. Der Wind pfeift durch die Gassen, Schneereste türmen sich am Straßenrand. Wärme verspricht die evangelische Kirche St. Jakob, im Sommer Anlaufstelle von Pilgern aus der ganzen Welt. Mangels einer passenden Gaststätte im Viertel treffe man sich einmal im Monat hier im Gemeindesaal, erklärt Christian Gerlinger, der Vorsitzende des hiesigen SPD-Ortsvereins. „Ein recht bunter Haufen“, wie er sagt. Da trifft der promovierte Soziologe auf den pensionierten Industriemeister, die Arzthelferin auf den Metall-Gewerkschaftler, der Sozialversicherungsangestellte auf den Studenten.

    „Weiter so“ mit der Union, das wollen die wenigsten

    Mal kämen mehr, heute eher weniger Genossen, sagt Gerlinger fast schon entschuldigend – das Wetter, glatte Straßen, die Grippe. Am Ende sind es neun, die sich in dem dafür eigentlich viel zu großen Saal um einen Tisch gruppieren. Draußen poltert die Straßenbahn vorbei, drinnen wird mitunter leidenschaftlich gestritten. Schnell wird deutlich: Einer Meinung sind auch die Genossen in Augsburg nicht. Ein „Weiter so“ will kaum jemand, aber über die Alternativen ist man sich reichlich uneins. Die einen fürchten sich vor Neuwahlen, sehen weitere vier Jahre mit der Union als das kleinere Übel und als die einzige Möglichkeit, überhaupt sozialdemokratische Akzente in der Bundespolitik zu setzen. „Der Ärger über die eigene Partei ist das eine, vier Jahre lang von außen zuschauen zu müssen etwas anderes“, warnt Gerlinger, Angestellter des Sozialreferats der Stadt Augsburg.

    Die anderen halten das für einen gefährlichen Trugschluss, erkennen im Koalitionsvertrag keine sozialdemokratische Handschrift und wenn dann nur in – um im Bild zu bleiben – mit recht blasser Tinte. Mietpreisbremse? Funktioniere nicht. Bürgerversicherung, eine zentrale SPD-Forderung? Kommt nicht. Sachgrundlose Befristung von Angestellten? Weiterhin möglich.

    „Wollen wir den Sozialstaat kleinteilig erhalten und uns von Mikro-Reförmchen zu Mikro-Reförmchen hangeln?“, fragt Kilian Krumm, der als Gewerkschaftssekretär bei der IG Metall arbeitet. Neben ihm sitzt Saša Bosančić. Opposition sei nicht Mist, sagt der Soziologe, sondern „eine wunderbare demokratische Einrichtung“, in der sich die Partei die Zeit nehmen könne, sich neu aufzustellen und wieder zu der Arbeiterpartei werden, die sie einmal war. Eine Große Koalition stärke zudem nur die politischen Ränder – das zeige nicht zuletzt die Entwicklung in Österreich, wo die rechtspopulistische FPÖ mitregiert.

    Auf dem Tisch vor ihnen liegt eine Karikatur. Darauf zu sehen: das Willy-Brandt-Haus in Berlin und Sprechblasen. „Dicke Luft in der SPD“, steht da. Und dass dagegen nicht mal kostenloser Nahverkehr helfe. „Es ist ein desolates Bild, das die Parteispitze seit Wochen abgibt. Komplett unprofessionell“, meint Gabriele Thoma, Arzthelferin und Augsburger Stadträtin. Zustimmung aus allen Ecken. Martin Schulz & Co. hätten die Partei in eine Situation manövriert, die nach außen wie nach innen gravierende Folgen haben könnte. „So zerrissen wie wir sind, weiß ich nicht, wie und wo wir wieder zusammenfinden sollen“, sagt die 58-Jährige nach der rund anderthalbstündigen Debatte.

    Der Riss quer durch die SPD ist deutlich zu erkennen. Im Willy-Brandt-Haus in Berlin, im Congress Centrum in Ulm, im Gemeindesaal von St. Jakob in Augsburg. Und auch im „Gasthaus zur Eisenbahn“ in Ichenhausen sind sich die Genossen noch immer uneins über den richtigen Weg aus der Misere. Nur in einem stimmen fast alle überein. „Es wird höchste Zeit, dass der 4. März kommt und dann endlich Ruhe ist“, sagt Manfred Bock. Er nimmt die Brille von der Nase, klappt die Parteizeitung zu, lehnt sich zurück und verschränkt die Arme. (mit mru)

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