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Religion: Karwoche: Drei Kreuze vor dem Ulmer Münster

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Karwoche: Drei Kreuze vor dem Ulmer Münster

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    Tausende verfolgen die Kreuzigungsszene auf dem Münsterplatz in Ulm. Die einzigartige Kreuzprozession organisiert Nicola Albarino bereits zum 14. Mal.
    Tausende verfolgen die Kreuzigungsszene auf dem Münsterplatz in Ulm. Die einzigartige Kreuzprozession organisiert Nicola Albarino bereits zum 14. Mal. Foto: Ilse Riedel

    Gerade haben sich Jesus und seine Jünger am Ölberg zum Gebet niedergekniet, da kündigt sich das Unheil schon an. Die Zweige eines kleinen Olivenbaums biegen sich vor der Szenerie des Garten Getsemani im Wind, aus den Lautsprechern ertönen dunkle Töne. Mit angsterfüllten Mienen verharren die Männer. Dann geht alles ganz schnell: Judas verrät Jesus mit dem Kuss auf die Wange, im nächsten Augenblick packen zwei Tempelwächter ihn unsanft an den Armen und zerren ihn von der Bühne. Tief und voll klingen die Stimmen der Männer schon bei der Generalprobe. Am Karfreitag sind sie mitten in Ulm und Neu-

    74 ehrenamtliche Darsteller sind beteiligt

    In der wohl außergewöhnlichsten Kreuzprozession Schwabens, dem „Lebendigen Kreuzweg“, ziehen am Freitagabend ab 18 Uhr insgesamt 74 ehrenamtliche Laiendarsteller durch die Straßen. An einer langen Holztafel auf dem Neu-Ulmer Rathausplatz eröffnen Jesus und seine Jünger das Spektakel mit dem letzten Abendmahl und ziehen zum Gebet auf den Ölberg am Petrusplatz. Der Hohepriester Kaiphas verhört Jesus auf dem Ulmer Marktplatz, am Weinhof wird ihm der Prozess gemacht. Gekreuzigt wird Jesus schließlich auf dem Münsterplatz unter den Blicken vieler tausend Zuschauer, und zwar gemeinsam mit zwei Räubern – eben genauso wie es in der Bibel steht.

    Die große Prozession haben in den vergangenen Jahren jeweils zwischen 15000 und 20000 Menschen verfolgt. Der Initiator Nicola Albarino will von dem Wort „Spektakel“ allerdings nichts hören. Er sagt: „Ich finde das natürlich. Mir geht es darum, meine Religion auf die Straße zu bringen.“ Den „Lebendigen Kreuzweg“ hat Albarino 2004 zum ersten Mal organisiert – damals war die Prozession vor allem als Institution für die italienische katholische Gemeinde von Ulm und Neu-Ulm gedacht. Als gleich bei der Premiere mehr als 5000 Menschen zusahen, war er überwältigt.

    Der Brauch stammt aus dem 14. Jahrhundert

    Mit der Veranstaltung am hohen christlichen Feiertag treffen Albarino und die italienische katholische Gemeinde offenbar den Nerv vieler Gläubiger – und das in einer Stadt wie Ulm, in der Katholiken sogar leicht in der Minderheit sind. Nach Angaben des Bistums Augsburg gibt es nirgendwo sonst eine vergleichbare Prozession am Karfreitag. Zumal die 14 Stationen des Kreuzwegs vom Abendmahl bis zur Kreuzigung Jesu in Süddeutschland üblicherweise nur im Stillen gebetet oder in Kirchen vorgelesen werden. Der Brauch, die Leiden von Jesus Christus in einem Schauspiel öffentlich darzustellen, entstand im 14. Jahrhundert in Italien. Die Franziskaner entwickelten das Kreuzweg-Gehen zu einer Art Volksandacht weiter. So wollten sie die Ereignisse um das Leiden und Sterben Christi den Gläubigen möglichst plastisch vor Augen führen.

    Mit einer solchen Darbietung am Karfreitag lockt die italienische Gemeinde von Ulm und Neu-Ulm seit der Premiere 2004 immer mehr Gläubige an. Und das, obwohl große Teile der Dialoge auf italienisch geführt werden. Mehrmals änderten die Organisatoren schon die Route, weil so viele Menschen auf den kleinen Plätzen keinen Raum mehr hatten, sagt Initiator Nicola Albarino: „Mittlerweile findet die Kreuzigung auf dem Münsterplatz statt – aber viel mehr Leute dürfen es gar nicht werden, denn größere Plätze gibt es hier nicht“, sagt er und lacht.

    Das Wichtigste: Authentizität

    Bis heute führt der 54-Jährige in jedem Jahr Regie über die Dramaturgie des Kreuzwegs. Größten Wert legt Albarino auf die Authentizität. Mit Sorgfalt wählen er und seine zwei Regieassistentinnen jährlich ab September die passenden Textstellen für die Szenen aus dem Evangelium aus und ändern sie vorsichtig ab. „Wir wollen ja nicht die Bibel umschreiben“, scherzt er. Die Besetzung der Rollen nimmt er sehr ernst: „Jesus kann nur jemand werden, der der Figur aus der Bibel optisch ähnelt.“ So wie Marcello Catena, der in den vergangenen 13 Jahren die Figur Jesu verkörpert hat. Nun ist es erstmals ein anderer: Salvatore Tarantello, der zuvor der Räuber am linken Kreuz war. „Jetzt wandert er einfach in die Mitte“, sagt Albarino. Dazu hat sich Tarantello Haare und Bart wachsen lassen. Denn Perücken duldet Regisseur Albarino nicht. Auch Requisiten wie Krüge wählt er selbst aus – und gibt sie bei Handwerkern in seinem süditalienischen Heimatort Venosa in Auftrag. „Sie sollen die Gegenstände so fertigen, wie sie in meiner Kindheit aussahen.“

    Als Albarino aus Italien wegzog, vermisste er den Brauch

    Geht es nach Albarino, sollen die Menschen in Ulm ihre ganz eigenen Schlüsse aus der Leidensgeschichte Jesu für ihr Leben ziehen. Die Lehren aus diesem Teil der Bibel sind auf alle Lebensphasen anzuwenden, ist Albarino überzeugt: „Jeder von uns trägt sein persönliches Kreuz.“ Der Regisseur weiß, wovon er spricht. Bis Albarino, der von allen in der italienischen katholischen Gemeinde nur Direttore genannt wird, seinen großen Traum vom „Lebendigen Kreuzweg“ verwirklichen konnte, brauchte er mehrere Anläufe.

    Schon als kleiner Bub lief er in seinem Heimatort Venosa stets am Karfreitag bei der Prozession mit, einmal verkörperte er einen Jungen, ein andermal einen Soldaten. Als er mit 14 Jahren nach Ulm zog, vermisste er den religiösen Brauch sehr. Zwölf Jahre später, im Jahr 1989, erlebte er den Kreuzweg nach langer Zeit wieder in Venosa – und war völlig beseelt von der Idee, seine Religion in seiner neuen Heimat auf die Straße zu bringen. Doch zurück in Deutschland, zurück in seinem Alltag als Fliesenleger, verfolgte der damals 26-Jährige die Vision nicht weiter. „Die Idee war geboren, aber ich war noch nicht bereit“, sagt er rückblickend. Zu viel war er als Popmusiker in Süddeutschland unterwegs.

    Das Bistum hatte zuerst Bedenken

    Als Albarino im Frühjahr 2000 wiederum den Karfreitag in seiner Heimat verbracht hatte, ließ ihn sein lang gehegter Wunsch nicht mehr los. Er widmete sich erstmals ernsthaft der Planung und wandte sich direkt an die italienische Gemeinde um den Missionar Giuseppe Gilberti. Doch das Bistum hatte Bedenken: Nimmt der Italiener seinen Glauben und die Leidensgeschichte Jesu überhaupt ernst? Handelt es sich um eine würdevolle Darbietung? Oder würde das geistliche Spiel zum Klamauk? Ganze vier Mal sprachen Albarino und Gilberti bei dem damaligen Ulmer Dekan Josef Kaupp vor, erst dann gab das Bistum sein Einverständnis und entwickelte gemeinsam mit den Italienern ein Konzept. „Das war schon richtig so, dass das Bistum so skeptisch war“, sagt Albarino heute. „Schließlich darf der Glaube auch nicht lächerlich gemacht werden.“

    Der Italiener bringt ein Opfer für seinen Traum

    Noch über drei Jahre vergingen, in denen Albarino Bibeltexte anpasste, Darsteller suchte und Gewänder und Requisiten organisierte. Als Darsteller hat er selbst bis heute noch nie teilgenommen – lieber behält der Direttore den Überblick über das Geschehen am Mischpult.

    Mit dem „Lebendigen Kreuzweg“ in Ulm hat er seinen Traum verwirklicht – für den er auch im 14. Jahr noch Opfer bringt: An den Prozessionen in seiner Heimat hat er seither nicht mehr teilgenommen. „Ich habe den Wunsch, aber es geht leider nicht. Ich kann nicht zurück nach Italien, wenn hier der Kreuzweg stattfindet.“ Aufhören will der 54-Jährige dennoch nicht, sagt er: „Es ist zur Tradition geworden, die Leute warten doch darauf.“

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