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Postzug-Räuber: Die Spur führte ins Allgäu

Postzug-Räuber

Die Spur führte ins Allgäu

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    Kripo- und Polizeibeamte stehen auf dem Bahnsteig in Chaddington (Buckinghamshire) neben einem ausgeraubten Zug (Archivbild). Der Postzug war am 8. August 1963 auf der Eisenbahnstrecke Glasgow - London von 17 maskierten Männern überfallen worden, die mit 2,6 Millionen Pfund - heute umgerechnet bis zu 57 Millionen Euro - verschwanden. Acht Tage später wird südlich der britischen Hauptstadt ein Teil der Beute gefunden - und die Rechnung eines Hotels. Und das liegt im Allgäu.
    Kripo- und Polizeibeamte stehen auf dem Bahnsteig in Chaddington (Buckinghamshire) neben einem ausgeraubten Zug (Archivbild). Der Postzug war am 8. August 1963 auf der Eisenbahnstrecke Glasgow - London von 17 maskierten Männern überfallen worden, die mit 2,6 Millionen Pfund - heute umgerechnet bis zu 57 Millionen Euro - verschwanden. Acht Tage später wird südlich der britischen Hauptstadt ein Teil der Beute gefunden - und die Rechnung eines Hotels. Und das liegt im Allgäu. Foto: -

    Es ist selbstverständlich nur ein kurioser Zufall, dass der Dreiklang, mit dem der Ferienort Bad Hindelang seine Internetseite strukturiert, auch als Anleitung für ein Verbrechen gelesen werden kann: „Inspirieren – Informieren – Organisieren“. Denn steht man auf diesem schönen Flecken Erde inmitten der herrlichen Berglandschaft, atmet die reine Luft und hört die Wanderstöcke klacken, fühlt man sich von dunklen Machenschaften so weit entfernt wie, sagen wir, Queen Elizabeth von einer Gefängniszelle.

    Und doch gibt es einen weithin unbekannten Zusammenhang zwischen dem bekanntesten Raubüberfall der Geschichte – dem großen Postzug-Raub in England vor 50 Jahren und dem heilklimatischen Kurort im Oberallgäu. Und, wie könnte es anders sein, er hat mit dem Tourismus zu tun. Einer der Schlüsselfiguren des „Great Train Robbery“, Brian Field, wurde ein Winterurlaub in Bad Hindelang zum Verhängnis.

    In einer der traditionsreichsten Herbergen Hindelangs – dem Hotel Sonnenbichl – sitzt Anita Schneider, eine freundliche Dame von 66 Jahren, in der Wirtsstube. Seit Jahrzehnten ist das Hotel in Familienbesitz. Bis ins Jahr 2000 hat

    Das Ehepaar Field reiste mit einem Jaguar an

    Die Eheleute waren Brian Field, damals 29, und seine deutsche Frau Karin. Field war Manager einer Anwaltskanzlei und hatte offensichtlich Geld. Das Paar kam mit einem Jaguar. Das weiß Anita Schneider noch genau, weil Field es nämlich nicht schaffte, die letzte Steigung zum Hotel mit dem dicken Auto hochzufahren. Schneiders Vater Franz Hartmann zog ihn mit dem Traktor die letzten Meter hoch.

    Nach den Schilderungen der Hotelierstochter hatten die Fields schöne Tage im Allgäu. Sie fuhren gerne Ski, waren immer für eine gepflegte Unterhaltung zu haben, und vor allem wussten sich die beiden abends bestens zu amüsieren. Anita Schneider erinnert sich noch, dass Karin Field des nächtens am Faschingsball vor allem dadurch Aufmerksamkeit erregte, dass sie für damalige Verhältnisse im

    Franz Heckelmiller, früher Skilehrer, heute 75, wird da deutlicher: „Sie trug schwarze Dessous“, berichtet er, „die Hindelanger Skilehrer wurden fast verrückt.“ Heckelmiller hat das Ehepaar Field auf der Skipiste und – wie es früher üblich war – auch bei anderen Unternehmungen betreut. Auch er hat lebhafte Reminiszenzen an das Paar. Brian Field habe sich für einen Skianfänger sehr gut angestellt. „Und er hatte die kräftigsten Oberschenkel, die ich je gesehen habe“, plaudert der Heckelmiller Franz weiter. „Der Brian war ein hervorragender Radfahrer.“ Er glaubt sich sogar zu erinnern, dass Field ihm erzählt habe, er wäre mal bei der Tour de France mitgefahren. „Ein toller Kerl!“ Wer in Bad Hindelang im Februar 1963 mit dem Ehepaar Field zu tun hatte, erinnert sich mit viel Sympathie.

    Einer der Posträuber schlug dem Lokführer eine Eisenstange auf den Kopf

    Ein halbes Jahr nach dem Allgäuer Urlaubsaufenthalt des Ehepaars Field: Es ist der frühe Morgen des 8. August 1963. Das Bahnhaltesignal „Sears Crossing“ nahe der Ortschaft Cheddington, Grafschaft Buckinghamshire, 30 Meilen (rund 48 Kilometer) nordwestlich von London. Eine Bande von wahrscheinlich mehr als einem Dutzend Leute macht sich bereit. Ein Mann klettert an einem Metallgerüst hoch und stellt das Bahnsignal auf Rot. Der Postzug von Glasgow nach

    Die Beute soll umgerechnet bis zu 57 Millionen Euro betragen haben

    Dort stürmen weitere Gangster den zweiten Waggon. Sie überwältigen die eingeschüchterten Postbeamten und brechen das Schloss zum hinteren Teil des Waggons auf. Dort liegen 128 Postsäcke, prall gefüllt mit Geldscheinen. In wenigen Minuten laden die Räuber 120 Säcke auf zwei bereitstehende Land Rover und einen Lastwagen. Sie erbeuten 2 631 684 englische Pfund. Je nach Berechnungsmethode sind das heute bis zu 57 Millionen Euro.

    Der Überfall dauert knapp 15 Minuten. Die Telefonleitungen hat die Bande gekappt. So wird es 4.30 Uhr, bis die Polizei den ersten Funkspruch absetzt: „You won’t believe it, they’ve just stolen a train“ („Ihr werdet es nicht glauben, aber da haben gerade welche einen Zug geklaut“), soll er gelautet haben.

    In diesen Minuten kommen die Gangster in ihrem Versteck an: der einsam gelegenen Leatherslade Farm nahe Oakley, etwa 20 Kilometer nordöstlich von Oxford. Sie trinken Bier und spielen Monopoly, während Scotland Yard die größte Polizeiaktion Englands startet.

    In Bad Hindelang genießen die Menschen zu dieser Zeit den Bergsommer. Die Nachrichten aus England werden mit Spannung verfolgt. Auf die Idee, dass einer der Täter wenige Monate zuvor Urlaub im Allgäu gemacht haben könnte, kommt natürlich niemand.

    Scotland Yard tappt im Dunkeln. Erst als die Belohnung nach und nach auf 200 000 Pfund erhöht und die Bevölkerung gebeten wird, verdächtige Bewegungen auf Höfen im Umkreis des Tatorts zu melden, kommt Schwung in die Ermittlungen. Ein Landwirt meldet die Leatherslade Farm als verdächtig. Am 13. August schauen sich zwei Polizeibeamte das Haus an. Es ist verlassen. Aber im Keller liegen Dutzende von Postsäcken und zurückgebliebenes „Kleingeld“. Das Versteck der Räuber ist gefunden. Tags darauf gibt es die ersten Verhaftungen.

    Acht Tage nach dem „großen Ding“ ist John Ahern mit dem Motorrad auf dem Weg zur Arbeit. Auf einer Lichtung im Wald nahe Dorking, südlich von London, entdeckt Ahern eine Sporttasche. Sie ist prall gefüllt mit Geldscheinen aus dem Postraub. Die Polizei findet noch einen Koffer mit Geld nahe der Lichtung. Insgesamt 100.100 Pfund.

    In der Sporttasche: eine Rechnung vom Hotel Sonnenbichl

    Und in der Sporttasche machen die Ermittler eine weitere spannende Entdeckung: eine Rechnung. Vom Hotel Sonnenbichl. In Bad Hindelang. Ausgestellt auf „Herr und Frau Field“. Im Februar 1963.

    Dieser kleine Zettel bringt die Polizei auf die Spur eines der Mittäter des bekanntesten Eisenbahnraubs der Geschichte. Einen Monat später, am 15. September, wird Brian Field festgenommen.

    „Die Rechnung muss meine Mutter per Hand geschrieben haben, es gab damals keinen Computer und keine elektronische Kasse bei uns“, sagt Anita Schneider. Sie schüttelt amüsiert den Kopf.

    Nach den Erkenntnissen der englischen Ermittler war Brian Field eines der entscheidenden Mitglieder der Bande. Er nahm zwar nicht selbst am Raubzug teil, hatte aber zwei Schlüsselfunktionen: Wahrscheinlich durch seine Tätigkeit in der Anwaltskanzlei John Weather & Co. hatte er auch Verbindungen in die Unterwelt. So wurde er Kontaktmann zu einem Informanten, der „Ulsterman“ genannt wird. Dieser Mann, der nie gefasst wurde, scheint die entscheidenden Informationen zum Raub geliefert zu haben: Wann fährt der Zug? Wie viel Geld hat er an welchem Tag geladen?

    Außerdem hat Brian Field über den Strohmann und zufälligen Namensvetter Leonard Field wenige Tage vor dem Überfall die Leatherslade Farm für 5.500 Pfund kaufen lassen. Abgewickelt wurde das Geschäft über die Kanzlei Weather, Fields Arbeitgeber.

    Posträuber Field war womöglich "ein krummer Anwalt"

    Später wurde bekannt, dass Field möglicherweise das war, was die Engländer einen „crooked solicitor“ nennen – ein „krummer Anwalt“, der seinen Job vor allem dazu nutzte, Verbrechern Informationen zu geben und dafür abzukassieren. Dafür spräche, dass Field schon als junger Mann Jaguar fuhr, während Kanzleichef John Weather einen alten Ford steuerte.

    Anita Schneider lächelt. Es war ihr nie klar, ob Brian Field nun Rechtsanwalt oder Anwaltsgehilfe oder was auch immer war. „Aber er konnte gut reden, war ein gewitzter und charmanter Bursche.“

    Es gehört zu dem Phänomen „Postzug-Raub“, dass man die Verbrecher später als „Gentleman-Gangster“ verklärte. Die Höhe der Beute, die clevere Planung und Durchführung des Coups, die gewagte Flucht und die Tatsache, dass ein Großteil der Beute nicht gefunden wurde, trugen dazu bei. Der Kriminalfall gilt beim britischen Establishment und bei den Ermittlern als offene Wunde. Die Gauner genießen bis heute hohe Popularität in der Bevölkerung.

    Der Kopf der Bande, Bruce Reynolds – er starb im Februar 2013 –, und Ronald Biggs wurden gar so etwas wie Stars. Biggs vor allem durch seine spektakuläre Flucht per Strickleiter aus dem Gefängnis und seine Eskapaden. Er unterzog sich mehreren Gesichtsoperationen und entkam nach Brasilien. Dort stöberte ihn Scotland Yard auf, doch Biggs entging der Auslieferung, weil er mit einer Bardame ein Kind gezeugt hatte. Er nahm Lieder mit den Punkbands „Sex Pistols“ und „Die Toten Hosen“ auf und verkaufte sich selbst für ein Abendessen. 2001 kehrte er nach England zurück und musste ins Gefängnis. 2009 wurde er wegen seines schlechten Gesundheitszustandes begnadigt.

    Brian Filed kam 1979 bei einem Verkehrsunfall ums Leben

    Solche außergewöhnlichen Wendungen erfuhr das Leben von Brian Field nicht. Am 26. März 1964 wurde er wegen Verschwörung schuldig gesprochen. Die hohe Strafe von 25 Jahren Haft wurde im Berufungsverfahren auf fünf Jahre reduziert. Seine Frau Karin trennte sich. 1967 wurde er freigelassen. Er änderte seinen Namen in Brian Carlton und heiratete eine Waliserin namens Sian. Am 27. April 1979 kamen die beiden in ihrem Porsche bei einem Verkehrsunfall ums Leben.

    Die 91-jährige Tante von Anita Schneider ist sich übrigens sicher, dass Brian Field nach dem Gefängnisaufenthalt noch einmal Urlaub in Bad Hindelang gemacht hat. Es muss ihm da gefallen haben.

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