Seit Monaten war sie nicht mehr da. Doch am Mittwoch, kurz vor halb Zehn vormittags, betritt Diana K., 30, wieder den Schwurgerichtssaal. Die Polizistin war im Oktober vor zwei Jahren dabei, als ihr Kollege Mathias Vieth, 41, im Augsburger Siebentischwald erschossen wurde. Sie sah ihren Partner sterben, geriet selbst ins Visier der Verbrecher, wurde durch einen Streifschuss verletzt. Nun muss die Beamtin damit leben, dass einer der mutmaßlichen Täter, Raimund M., 60, wohl nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden kann.
M. bleibt in einer Zelle im Keller des Augsburger Strafjustizzentrums
Raimund M. wird am Mittwoch schon gar nicht mehr in den Gerichtssaal gebracht. Selbst dafür, so sieht es der medizinische Gutachter Ralph-Michael Schulte, sei der Angeklagte derzeit zu krank. M. bleibt in einer Zelle im Keller des Augsburger Strafjustizzentrums. Richter, Verteidiger, Staatsanwälte und Nebenkläger gehen kurz hinunter, um sich ein Bild von dem parkinsonkranken mutmaßlichen Mörder zu machen – auch Diana K. geht mit. Sie sieht einen stark zitternden, heulenden Angeklagten.
Der Mord am Augsburger Polizisten Mathias Vieth
Der Augsburger Polizeibeamte Mathias Vieth wird am frühen Morgen des 28. Oktober 2011 im Augsburger Siebentischwald von unbekannten Tätern erschossen.
Der Streifenbeamte und seine Kollegin wollen an diesem Freitagmorgen gegen drei Uhr auf einem Parkplatz am Augsburger Kuhsee ein Motorrad mit zwei Männern kontrollieren.
Die beiden Verdächtigen flüchten sofort in den nahen Siebentischwald, die Beamten nehmen mit ihrem Streifenwagen die Verfolgung auf.
Im Wald stürzen die Motorradfahrer. Dann kommt es zu einem Schusswechsel zwischen Beamten und Tätern. Der 41-jährige Polizeibeamte wird trotz Schutzweste tödlich am Hals getroffen, seine Kollegin durch einen Schuss an der Hüfte verletzt.
Die Täter flüchten. Eine anschließende Großfahndung, an der sich mehrere hundert Polizeibeamte beteiligen, bleibt ohne Erfolg.
Die Augsburger Polizei richtet noch am gleichen Tag eine Sonderkommission ein. Der Soko "Spickel", benannt nach dem Augsburger Stadtteil, in dem die Tat geschah, gehören zunächst 40 Beamte an.
Zwei Tage nach dem Polizistenmord geben die Ermittler bekannt, dass das Motorrad der beiden Täter in der Nacht vom 10. auf den 11. Oktober 2011 im Stadtgebiet von Ingolstadt gestohlen worden war. Dabei wurde die rund 15 Jahre alte Honda kurzgeschlossen.
Drei Tage nach dem tödlichen Schusswechsel rückt die Polizei erneut mit einem Großaufgebot im Augsburger Spickel an. Taucher von Polizei und Feuerwehr suchen in den Kanustrecken des Eiskanals nach Gegenständen.
Am 3. November wird Mathias Vieth bestattet. Am gleichen Tag stockt die Polizei die Soko "Spickel" auf 50 Beamte auf. Zugleich wird die Belohnung, die zur Aufklärung des Polizistenmordes ausgesetzt ist, auf 10.000 Euro erhöht.
Ein Abgleich von DNA-Spuren, die am Tatort gesichert werden konnten, mit der bundesweiten DNA-Datenbank ergibt laut Polizei keinen Treffer.
Am 7. November findet im Augsburger Dom die offizielle Trauerfeier für Mathias Vieth statt. Auch Bayerns Innenminister Joachim Herrmann nimmt an ihr teilt.
Zehn Tage nach dem Augsburger Polizistenmord greift die Sendung "Aktenzeichen XY" den Fall auf. Zwar gehen daraufhin mehrere Hinweise ein, eine heiße Spur ist aber nicht darunter.
Dezember 2011: Die Belohnung für Hinweise, die zur Ergreifung der Täter führen, wird auf insgesamt 100.000 Euro erhöht.
Am 29. Dezember 2011 nimmt die Polizei in Augsburg und Friedberg zwei Verdächtige fest. Es handelt sich um die Brüder Rudi R. (56) und Raimund M. (58). Schnell wird bekannt: Der Jüngere hat bereits 1975 einen Augsburger Polizisten erschossen.
Nach der Festnahme entdecken die Fahnder etliche Waffen und auch Sprengstoff. Belastet wird einer der Verdächtigen durch DNA-Spuren, die am Tatort gefunden wurden.
Auf die Spur der beiden Männer kamen die Ermittler über ein Fahrzeug. Der Wagen war in Tatortnähe beobachtet worden. Im Zuge der Ermittlungen stellte sich heraus, dass die beiden Brüder des Öfteren mit diesem Wagen unterwegs waren.
Mitte Januar ergeht auch Haftbefehl gegen die Tochter von Raimund M.. Bei ihr wurden Anfang Januar drei Schnellfeuergewehre und acht Handgranaten gefunden, die ihr Vater und dessen Bruder Rudi R. versteckt haben sollen.
Im Juli 2012 wird die Tochter von Raimund M. verurteilt. Das Gericht spricht sie wegen Verstößen gegen das Waffen- und Kriegswaffengesetz, wegen Geldwäsche, Hehlerei und Diebstahl schuldig.
August 2012 Die Augsburger Staatsanwaltschaft erhebt Anklage gegen die Brüder Raimund M., 60, und Rudi R., 58, wegen Mordes am Polizisten Mathias Vieth. Außerdem listet die Anklage fünf Raubüberfälle auf.
Es zeichnet sich ein Mammutprozess ab. Das Landgericht Augsburg setzt mehr als 49 Verhandlungstage an.
21. Februar 2013: Der Mordprozess gegen die Brüder beginnt unter großen Sicherheitsvorkehrungen - und mit einem Eklat. Rudi R. beschimpft den Staatsanwalt als "Drecksack".
August 2013: Das Gericht hat den Mordkomplex abgearbeitet und beginnt mit der Beweisaufnahme zu den Raubüberfällen. Viele Beobachter rechnen mit einem Mordurteil.
September 2013: Ein Gutachter stellt fest, dass sich M.s Gesundheitszustand nach 15-monatiger Isolationshaft so verschlechtert hat, dass er verhandlungsunfähig ist.
November 2013: Das Gericht setzt den Prozess gegen M. aus. Er bleibt vorerst in Haft. Gegen seinen Bruder Rudi R. wird normal weiterverhandelt.
Februar 2014: Rudi R. wird zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt. Das Gericht sieht bei ihm eine besondere Schwere der Schuld und ordnet die anschließende Sicherungsverwahrung an.
September 2014: Der neue Prozess gegen Raimund M. beginnt.
Februar 2015: Der Bundesgerichtshof bestätigt das Augsburger Urteil gegen Rudolf R.
Kann es sein, dass dieser Mann nicht doch ein großes Schauspiel vorführt? Dass Raimund M., einst ein guter Tennisspieler, bei Weitem nicht so krank ist, wie er vorgibt? Immerhin ist er nach Überzeugung der Kriminalpolizei ein Mann mit zwei Gesichtern. Einer, der im Tennisclub von Friedberg den biederen Bürger gab – der aber auch über Jahre hinweg mit seinem Bruder Rudi R., 58, mehrere brutale Überfälle begangen haben soll. Der erfahrene Gutachter Ralph-Michael Schulte, der in Justizkreisen hohes Ansehen genießt, ist sich sicher, dass er nicht getäuscht wird. „Das kann ich ausschließen“, sagt er. „Ein exzellenter Schauspieler könnte das vielleicht einige Minuten spielen.“
Die Parkinson-Erkrankung habe sich drastisch verschlechtert
Gutachter Schulte hat den Angeklagten seit Ende September mehrmals untersucht. Etwa 20 Stunden lang hat er Raimund M. gesehen, rund 100 Tests hat er mit ihm gemacht. Seine Bilanz: M. ist schwer krank. Die Parkinson-Erkrankung habe sich drastisch verschlechtert, er zittere stark. Zudem habe er Konzentrationsstörungen, eine Depression und zeige Symptome einer Demenz. M. habe Probleme, kurze Zahlenreihen wiederzugeben oder einfache Bilder nachzuzeichnen. Müsse er in einen leeren Kreis eine Uhrzeit eintragen, bekomme er die Stellung der Zeiger gerade noch hin. „Aber mit den Zahlen Eins bis Zwölf kommt er nicht klar.“
Gegen Rudi R. wird heute weiterverhandelt
Gut eineinhalb Stunden lang gibt Gutachter Schulte Auskunft. Dann sieht auch Staatsanwalt Hans-Peter Dischinger keinen Grund mehr, an der derzeitigen Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten zu zweifeln. Und für alle im Saal wird deutlich: Es ist etwas gründlich schiefgelaufen im Justizsystem, dass M. nun wahrscheinlich nie mehr der Prozess gemacht werden kann.
Am Mittag beschließt das Gericht, das Verfahren gegen die Brüder zu teilen. Gegen Rudi R. wird heute weiterverhandelt. Eine Entscheidung, ob das Verfahren gegen Raimund M. vorläufig eingestellt wird, verkündet das Gericht noch nicht. Nächste Woche sollen die Prozessbeteiligten informiert werden. Theoretisch besteht so bis Dienstag die Chance, den Prozess gegen M. fortzusetzen – dann endet die gesetzliche Frist. Doch damit rechnet das Gericht nicht mehr. „Es ist nicht zu erwarten, dass der Angeklagte bis 19. November verhandlungsfähig wird“, sagt der Vorsitzende Richter Christoph Wiesner.
Die Gefängnisse hätten „versagt“, kritisiert Verteidiger Ahmed
Im Gegenteil. Gutachter Schulte sagt: „Wenn eintritt, was ich langsam, aber sicher befürchte, wird er auch haftunfähig.“ Dann käme M. frei. Auf Nachfrage von M.s Verteidiger Adam Ahmed sagt Schulte, dass seine Therapievorschläge von den Gefängnissen in Straubing und München nur teilweise umgesetzt worden seien. Auch habe von den Anstalten nie jemand bei ihm nachgefragt. Mit einer richtigen Therapie, glaubt Schulte noch immer, hätte man M. in einigen Wochen so fit bekommen, dass er wieder verhandlungsfähig geworden wäre.
Das war Ende September. Ob das nun noch klappt, scheint fraglich. Die Gefängnisse hätten „versagt“, kritisiert Verteidiger Ahmed. Sein Mandant sei körperlich und psychisch verfallen. Und Anwalt Werner Ruisinger ist überzeugt, „dass Herr M. nie mehr als Angeklagter in diesem Prozess erscheinen wird“.