Blickt man beispielsweise bis zum Beginn der Neuzeit zurück, also ins Jahr 1500, so kann man sagen, dass das – letztlich absichtslose – Umhergehen im Freien in deutschen Landen über lange Zeit natürlich nur das Privileg einer äußerst kleinen Schicht war. Jedenfalls war der Begriff „spazieren“ erst kurz vorher über das Italienische („spaziare“) zu uns gelangt. Der allergrößte Teil der Menschen hatte aber auch in den Folgejahrhunderten weder nördlich noch südlich der Alpen für solche Grillen die nötige Weile. Er musste sich für seinen Lebenserhalt strecken und mühen. Kräfte dem Müßigwandeln zu widmen, das war dem Adel vorbehalten.
Nun, bei allem Ärger, den uns derzeit ein Virus gesundheitlich und gesellschaftlich bereitet, bleibt uns vielleicht der Trost, dass wir heute zumindest dieser einen adeligen Beschäftigung nachgehen dürfen – und vielleicht auch sollten. Einer Beschäftigung, die nichts kostet, den Geist weitet, gesund ist – und somit auch gut für unser Immunsystem ist. Was in diesen Tagen kein Fehler sein dürfte. Sogar eine noch sehr kleine Wissenschaft ist um das Thema Spaziergang entstanden. Einer, der sich der sogenannten Promenadologie verschrieben hat, ist Bertram Weisshaar.
Der Spazierradius lässt sich leicht erweitern
Der 58-Jährige stammt zwar aus dem Württembergischen, lebt aber schon seit vielen Jahren in Leipzig. „Im Grunde genommen bin ich schon als Kind immer umhergestreift, ich kannte um unser Dorf herum jeden Quadratmeter“, erzählt er. Doch das Ganze passierte zunächst eher unbewusst, aus dem Instinkt heraus, sich bewegen zu wollen. Ein Bedürfnis, das dem einen ganz natürlich, dem anderen wieder eher befremdlich, vielleicht sogar unsinnig erscheint.
„Das Thema Spaziergangswissenschaft kam in mein Leben durch den Soziologen Lucius Burckhardt.“ Der Schweizer (er lebte von 1925 bis 2003) gilt als Begründer der Promenadologie. Er hatte schon 1976 erstmals mit Studenten der Universität Kassel (dort wirkte Burckhardt jahrelang) seinen ersten „Urspaziergang“ im Schlosspark Riede nahe der nordhessischen Stadt begangen. In Kassel hatte denn auch Weisshaar studiert. Seine Diplomarbeit als Landschaftsplaner wurde von Burckhardt betreut. Weisshaar ist also ein Schüler des Promenadologen – und er wandelt auch heute noch gern auf dessen Spuren.
„Derzeit gehen wegen Corona natürlich viele Menschen sehr viel spazieren“, sagt Weisshaar im Gespräch mit unserer Redaktion. „Viele nehmen dabei oft den gleichen Weg.“ Doch das muss nicht sein. Man kann seinen Spazierradius sozusagen gezielt erweitern. Mit leichten Mitteln. Mit einem Blick auf eine Karte der eigenen Stadt oder Region. Dort finden sich manchmal Wegebeziehungen, an die man vielleicht noch nicht gedacht hat. Bedeutende Fundstücke sind etwa Flussläufe, Waldessäume sowie Hügel und Anhöhen. Freilich weist nicht jede Topografie gleich solche Schätze auf. Doch manche Wegebeziehungen können selbst ein Wohngebiet in ein spannendes Terrain verwandeln.
Neben dem Blick in die Landkarte hilft Google Maps, Spazierschätze vor der Haustüre zu heben. „Die Art und Weise, wie wir uns fortbewegen, prägt unser Bild von der Welt mit“, sagt Weisshaar. „Wenn ich zu Fuß gehe, können Hirn und Füße Schritt halten. Fahre ich hingegen Auto, strömen mehr Eindrücke auf mich ein, als ich verarbeiten kann. Da fällt dann vieles hinten herunter. Je schneller wir uns also bewegen, desto ärmer wird letztlich unser Eindruck von der Welt“, philosophiert der Mann, der 2001 sein Atelier eröffnet hat und etwa mit Workshops, geführten Wanderungen, aber auch mit seinem 2018 veröffentlichten Buch „Einfach losgehen“ seinen Lebensunterhalt bestreitet.
Promenadologe: Ein Spaziergang fördert die Gesundheit
Wie lange soll man denn überhaupt spazieren gehen? „Grundsätzlich ist jeder Schritt gut, eine halbe Stunde wäre aber schon sinnvoll.“ Der entspannende Effekt des Spazierens entfaltet sich für ihn erst ab einer Stunde und deutlich darüber hinaus. „Wer viel beruflich mit dem Auto unterwegs ist, wird vielleicht sagen, er hat dafür keine Zeit.“ Aber es sei schon viel gewonnen, wenn man stets 300 Meter abseits des Ziels parke. „Dann geht man fünf Minuten – und mit hin und zurück sind schnell wieder 1000 Schritte zusammengekommen.“ Er selbst versuche jeden Tag 10.000 Schritte zu gehen. Ausdrücklich rät er aber beim Thema Musikhören und Spaziergang zur Vorsicht: Nicht nur in Leipzig gibt es immer wieder tödliche Unfälle, weil ein Fußgänger wegen der Stöpsel im Ohr etwa die Straßenbahn nicht gehört hat und überfahren wird. Weisshaar ist froh, dass in Deutschland der Zugang zur Natur im Regelfall frei ist. „Das ist ein hohes Gut.“ Dass freie Bewegung ein hohes Gut ist, zeigen derzeit schmerzlich auch die Corona-Einschränkungen. Gut, dass der Spaziergang trotzdem möglich ist. Wie gesagt: Ein Spaziergang sorgt für Erdung – und er ist gut für die Gesundheit. Also: Wer kann, der sollte gehen. Vielleicht gleich heute.
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