Rund 37.000 Realschüler in Bayern stehen vor einer wichtigen Entscheidung: Pause, Ausbildung oder doch länger in die Schule gehen? Gerade sind Abschlussprüfungen. Wie schon viele Jugendliche vor ihnen stellen sie sich diese Frage, nur heuer ist vieles anders. Die Corona-Krise wirbelte die Pläne vieler Menschen durcheinander. Aber auch die Pläne derjenigen, die gerade erst ins Berufsleben starten möchten? Nein, sagt der Realschullehrerverband. Es sind vielmehr die Jüngeren, die das Nachsehen haben könnten.
Noch bis diesen Freitag brüten Schüler über ihren Abschlussprüfungen, die durch die Corona-Krise entsprechend unter Sicherheitsvorkehrungen stattfinden: Zwei Wochen später als geplant, 1,5 Meter Abstand, und die Schüler tragen den Mundschutz, bis sie sich am Tisch niedergelassen haben. Ungewohnt, aber allzu große inhaltliche Änderungen mussten die Jugendlichen heuer in ihren theoretischen Prüfungen nicht hinnehmen. Ganz anders sah es bei den praktischen Prüfungen vor wenigen Wochen, etwa in Werken oder Hauswirtschaftslehre, aus. "Die Inhalte wurden nicht verändert", sagt Jürgen Böhm, Vorsitzender des Verbands Bayerischer Realschullehrer.
Die praktischen Prüfungen konnten wegen Corona nicht wie gewohnt ablaufen
Dafür musste aber der Ablauf angepasst werden: Mehr Zeit zum Kochen, kleinere Gruppen und auch das Abschlussessen des Hauswirtschaftskurses ist entfallen. Böhm sieht heuer für die Schüler aber keine Nachteile, ganz im Gegenteil: Von der 1:1-Betreuung im digitalen Unterricht nach der Schulschließung und den kleineren Unterrichtsgruppen hätten diese sogar profitieren können. "Sie sind gut vorbereitet und vielleicht sogar fokussierter als andere Jahrgänge", sagt er. Zum Vergleich: Die Abiturienten haben heuer mit 2,25 einen besseren Schnitt als in den Vorjahren erreicht. Nach Böhms Ansicht hätten sich die Schüler schnell an die neue Situation gewöhnt. Er spricht daher bewusst von einem starken Jahrgang. Auch die Ausbildungsplätze seien für die Abschlussklassen nicht gefährdet, ist der Vorsitzende sicher. Denn: Ein Großteil der Verträge seien schon vor Beginn der Pandemie geschlossen worden.
Bisher können sich bayerische Realschüler ihre Ausbildung aussuchen
Bislang haben Realschüler sowieso ein komfortables Ausgangsniveau: Nach Angaben der Bayerischen Metall- und Elektroindustrie kommen in Bayern in allen Branchen trotz Corona-Krise auf jeden Bewerber etwa 1,5 Stellen – damit liegt der Freistaat etwas über dem bundesweiten Schnitt. Das stützen auch die Ergebnisse einer Umfrage der Industrie- und Handelskammer (IHK) für den Bezirk Schwaben im Juni. Demnach ist die Bereitschaft der Unternehmen, weiterhin auszubilden, klar zu erkennen. Rund 70 Prozent der Unternehmen planen darüber hinaus, heuer ihre Azubis zu übernehmen.
Das Corona-Update vom 9. Juli
All das gilt zunächst nur für dieses Jahr. Die Auswirkungen der Corona-Krise könne man erst in den kommenden Jahren absehen, sagt Böhm. Er sieht daher gar nicht den aktuellen Abschlussjahrgang, sondern vielmehr die Jüngeren im Nachteil, die Folgen der Krise zu spüren. Zum einen im kommenden Schuljahr, so der Vorsitzende, da sie "noch den verpassten Lernstoff von diesem Jahr nachholen" müssen. Und zum anderen dann im Anschluss auf dem Arbeitsmarkt. Denn: Es sei nicht sicher, welche Betriebe in Zukunft noch ausbilden können. Böhm nennt als Beispiel die von der Corona-Krise hart getroffene Gastronomie: "Ist es im nächsten Jahr noch möglich, eine Kochausbildung zu beginnen?" Böhm appelliert daher eindringlich an Unternehmen, trotz den Folgen der Pandemie weiterhin auszubilden.
Bereits jetzt gibt es erste Anzeichen, dass sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt verändern könnte. "Die Nachfrage für die Berufsoberschule ist seit Beginn der Corona-Krise in einzelnen Regionen gestiegen", sagt Markus Domeier, Referent für Fach- und Berufsoberschulen (FOS/BOS) im Verband der Lehrer an Beruflichen Schulen in Bayern. Und das über alle Branchen hinweg. Azubis, die in ihren Betrieben nicht übernommen werden, holten nun einen höheren Schulabschluss nach.
Wie sieht der Ausbildungsmarkt der Zukunft aus?
Wie könnte die Corona-Krise die Situation auf dem Ausbildungsmarkt in Zukunft verändern? Wie die Umfrage der Bayerischen Metall- und Elektroindustrie zeigt, hat die Corona-Krise die ohnehin schon in vielen Branchen herrschende Rezession verstärkt. Eine mögliche Entwicklung könnte daher sein, dass umso mehr Schüler einen höheren Bildungsabschluss an der FOS anstreben, um etwaigen Unsicherheiten auf dem Arbeitsmarkt zu entgehen, sagt Domeier. Der Trend ist aber nicht neu. Schon vor der Corona-Krise hätten sich sich immer mehr Schüler für den höheren Abschluss entschieden. Rund 60 Prozent der Realschüler beginnen heuer eine Lehre, etwa 40 Prozent gehen an die FOS. "Vor fünf Jahren waren es noch 33 Prozent", sagt der FOS-Referent.
Die Gründe für diese Entwicklung seien vielfältig. Einerseits locke die Jugendlichen das wachsende Lehrangebot an den Fachoberschulen. Zum anderen hätten einigen Schüler so auch die Chance, wichtige Lebensentscheidungen hinauszuschieben – "Verlegenheitsentscheidung" nennt Domeier dies.
Hinzu komme der gestiegene Anspruch der Schüler. Immer weniger seien bereit, körperlich belastende Ausbildungen zu beginnen. Und falle die Traumausbildung weg, gäben sie sich nicht mehr mit ihrer Zweitwahl zufrieden, sondern wichen aus an die FOS. Mit dem Abschluss in der Tasche studierten dann viele an der Hochschule. Die Folge: Schon seit Jahren klagen Unternehmen über zu wenige Bewerber. Das zeigt sich auch in diesem Jahr. Im Vergleich zum Vorjahr wollen rund sieben Prozent weniger Jugendliche eine Ausbildung beginnen. Der aktuell ohnehin geburtenschwache Jahrgang verstärkt die Entwicklung. Viele Lehrstellen bleiben unbesetzt.
Lesen Sie hierzu auch den Kommentar: Die jüngeren Schüler dürfen nicht vergessen werden
- Klassenfahrt abgesagt? Eltern bleiben auf Stornokosten sitzen
- Lehrerverbands-Präsident fordert verpflichtende Leistungstests für Schüler
- Aktion für benachteiligte Kinder: Homeschooling soll gerechter werden
Wir wollen wissen, was Sie denken: Die Augsburger Allgemeine arbeitet daher mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zusammen. Was es mit den repräsentativen Umfragen auf sich hat und warum Sie sich registrieren sollten, lesen Sie hier.