Startseite
Icon Pfeil nach unten
Bayern
Icon Pfeil nach unten

Schlammlawine: Oberstdorfer: "Bei mir floss der Schlamm durch das Erdgeschoss"

Schlammlawine

Oberstdorfer: "Bei mir floss der Schlamm durch das Erdgeschoss"

    • |
    Schlamm ist meterhoch durch die Tür ins Haus der Familie Hammel in Oberstdorf gelaufen – feiner, zäher, brauner Schlamm, der kein Durchkommen ermöglicht.
    Schlamm ist meterhoch durch die Tür ins Haus der Familie Hammel in Oberstdorf gelaufen – feiner, zäher, brauner Schlamm, der kein Durchkommen ermöglicht. Foto: Ralf Lienert

    Tanja Kreittner steht hinter dem Haus, das bis gestern ihr Zuhause war. Um 16 Uhr hat am Sonntag eine Schlammlawine alles verschüttet, was aus dem Gebäude ein Heim gemacht hatte. Seitdem heißt es: Aufräumen und retten, was zu retten ist.

    Tanja Kreittner ist erschöpft, die gelbe Regenjacke von Schlammspritzern verdreckt. Ihr Gesicht zeigt kaum eine Regung, nur die Augen lassen erahnen, was in der 46-Jährigen vorgeht. Der Garten ist von so viel Schlamm bedeckt, dass die Frau mit ihren Füßen auf Höhe des Fenstersimses steht.

    Was ist eine Mure?

    Eine Mure kommt üblicherweise im Gebirge vor. Es ist allerdings nicht nur der alpine Raum betroffen. Auch kleinere Bergketten wie die Schwäbische Alb sind bedroht.

    Die Mure ist eine Mischung aus Wasser und verschiedenen festen Materialien. Neben Erde kann solch eine Lawine auch Hölzer und Gesteinsschutt aufnehmen und mit ins Tal reißen.

    Nach Angaben des Bayerischen Landesamtes für Umwelt kann eine Mure letztlich bis zu 60 Kilometer pro Stunde schnell werden. Wenn sich die Schlammlawine in Bewegung gesetzt hat, ist sie manchmal so kraftvoll, dass sie größere Felsen mitreißt und Straßen sowie Gebäude zerstört.

    Auslöser ist häufig Wasser, das entweder bei der Schneeschmelze oder infolge starken Regens in größerer Menge vorkommt. Das Wasser weicht den "mürben" (Mure) Boden auf und löst ihn an steilen und schuttreichen Hängen ohne geschlossene Vegetation vom Untergrund.

    Technik kann helfen: In Lichtenstein-Unterhausen auf der Schwäbischen Alb installierten Forscher der Universität Bonn für ein Projekt über Erdrutsche ein System, das die Bodenfeuchtigkeit als wesentlichen Faktor misst und so frühzeitig Alarm schlagen kann. dpa

    Ein Blick ins Haus zeigt das Ausmaß der Verwüstung: Der Raum ist angefüllt mit durcheinandergeworfenen Möbeln wie ein Container auf dem Wertstoffhof. Anders als beim Sperrmüll ist hier alles schlammdurchtränkt. Wer hineingeht, steht knöcheltief im Dreck, bis auf Brusthöhe sind die Wände matschbraun, die Arbeitsplatte in der Küche ist von einer dicken Schicht Schlamm bedeckt. Auf einem Regal stapeln sich CDs, eine Erinnerung an die Zeit vor der Schlammlawine.

    Herangeschwemmte Felsbrocken, so groß wie Röhrenfernseher

    Man kann den Blick kaum von dem Desaster abwenden. Wenn er dann wieder auf die 46-Jährige fällt, gibt es nichts mehr, was man sagen könnte. Sie steht draußen zwischen herangeschwemmten Felsbrocken, die so groß sind wie Röhrenfernseher. „Das alles kam den Bach hinterm Haus runter“, sagt sie und schaut in den ein Meter breiten Graben, der jetzt unschuldig leer am Garten entlang verläuft. Im Sommer führt er nicht mal Wasser. Jetzt hat er ein ganzes Wohngebiet verwüstet.

    Auf der Straße vor Kreittners Haus arbeiten Feuerwehrmänner, Anwohner und Freiwillige zusammen, um die Schäden zu beseitigen. „Auch Flüchtlinge sind gekommen, um anzupacken“, sagt Kreittner. Aus allen Gärten führen Feuerwehrschläuche, aus denen das braune Wasser nur so sprudelt. Müde Helfer werfen kaputten Hausrat über Hecken in Container: Koffer, Ordner und vieles mehr liegt jetzt darin. Die Straße hinunter laufen Wellen verschmutzten Wassers.

    Icon Galerie
    29 Bilder
    In Oberstdorf hat Starkregen eine Schlammlawine ausgelöst. Polizei, Einsatzkräfte und Anwohner beginnen mit den Aufräumarbeiten.

    Am schlimmsten hat es das Gebäude von Norbert Hammel, 75, getroffen. Ob und wann der ehemalige Oberstdorfer Polizeichef sein Haus wieder bewohnen kann, steht noch in den Sternen. Gestern Vormittag stand er mit dem Landrat und dem Kreisbrandrat vor seinem Grundstück. Zaun und Sträucher haben die Wassermassen weggerissen. Hammel schildert gefasst und sachlich das Geschehen der Nacht. „Schauen Sie, bei mir floss der Schlamm in einem Meter Höhe durch das Erdgeschoss.“

    Die Solidarität in Oberstdorf ist beeindruckend

    Wenn man Helfer auf der Straße anspricht, erhält man kaum Auskunft. Sie wollen keine Pause machen, sondern weiterarbeiten, den Dreck so schnell wie möglich wegschaffen. Die Solidarität im Ort ist beeindruckend. Das sieht auch Robert Engstler so. Der Polizist steht am Eingang zum Wohngebiet Dummelsmoos. Er hält Schaulustige fern und verweist Freiwillige an die Feuerwehr. „Am Morgen gab es viel Katastrophen-Tourismus. Es kommen aber auch enorm viele Helfer.“ Die rücken zum Teil mit Kübeln an, mit Schaufeln und nur einem Ziel: „Wir wollen helfen.“ So auch Wolfgang Burba. Als der selbstständige Raumausstatter am Sonntag von der Katastrophe hörte, sagte er alle Termine ab und trommelte mehrere Freunde zusammen, um mit ihnen loszulegen. Aus einem Garten schaufelten sie Schlamm, der ihnen bis zu den Waden reichte.

    Auch Markus Steiner hilft mit. Er wohnt in einer Seitenstraße, die nicht ganz so schlimm verwüstet worden ist. Der Spengler hat den Eingang zu seiner Straße mit Dachpappe-Rollen blockiert, um den Schlamm abzuhalten. Er erinnert sich mit Schaudern an die Geräusche, die die Lawine am Tag zuvor begleitet hatten: „Das war ein Mordskrach: Felsbrocken, Baumstämme und Schlamm kamen die Straße runtergeschossen.“

    Der Schock kommt, wenn man darüber nachdenkt

    Ein Stück weiter oben an der Straße steht eine Anwohnerin in ihrer Garage. Fassungslos blickt sie auf die verwüsteten Häuser und Gärten ihrer Nachbarn. Ihr eigenes Grundstück blieb verschont: Es liegt auf der Innenseite einer Kurve. Die Schlammlawine sei mit solch einer Geschwindigkeit an ihr vorbei die Straße hinuntergeschossen, dass sie sich an den äußeren Rand der Kurve drücken musste.

    Ihre Nachbarin habe ihr von ihrem Balkon aus ohnmächtig zugerufen: „Bei uns läuft der Keller voll Wasser!“ Jetzt ist die 70-Jährige wieder vor ihrer Garage und hält sich die Hand vor den Mund. „Ich habe wirklich Glück gehabt.“

    Vor ihrem Haus steht ein Feuerwehrmann, der schmutziges Wasser aus einem Keller pumpt. „Die meisten Menschen hier sind recht gefasst“, sagt er und wischt sich Regentropfen vom dreckigen Gesicht. „Solang man etwas tut, ist es okay. Der Schock kommt bei den Betroffenen erst, wenn sie Zeit haben, drüber nachzudenken.“

    Schuld am Murengang in Oberstdorf war Starkregen

    Manfred Baldauf konnte wieder in sein Haus zurückkehren. Die ganze Nacht über hatte der 59-Jährige mit Bekannten, Freunden und Nachbarn Sandsäcke gefüllt, um sein Haus vor den Wassermassen zu schützen. Einige der Helfer brachten den Schlamm mit Eimern nach draußen. „Bis zu 30 Zentimeter stand der Dreck bei mir im Keller“, berichtet Baldauf. Er war vor allem von der Hilfsbereitschaft beeindruckt. Noch am Sonntagabend kamen zahlreiche Mitglieder des Ski-Clubs Oberstdorf zu Baldaufs Anwesen und packten mit an. Andere meldeten sich, weil sie ihre Ferienwohnungen für die Geschädigten zur Verfügung stellten wollten.

    Schuld an dem ganzen Desaster war ein plötzlicher Starkregen, der am Sonntagnachmittag auf das Rubihorn einprasselte. Und zwar „knapp 60 Liter pro Quadratmeter innerhalb einer Dreiviertelstunde“, erklärt Karl Schindele, Leiter des Wasserwirtschaftsamts Kempten. Mehrere kleine Wasserläufe wurden zu gefährlichen Wildbächen, die Geröll, Schlamm und Wasser mit ins Tal rissen. Staustufen und Rückhaltewände bremsten die Flutwelle am Faltenbach ab, ehe ihre Ausläufer in das Wohngebiet unterhalb und neben der Erdinger Arena strömten.

    Rund 400 Einwohner waren evakuiert worden

    In der Arena findet traditionell jedes Jahr das Auftaktspringen der Vierschanzen-Tournee statt. Der Schlamm hatte dort zum Teil mehrere Meter hoch gestanden. Zudem wurden Fundamente der Tribüne freigelegt. Vier Häuser waren nach Angaben der Feuerwehr gestern noch unbewohnbar, da dort der Schlamm bis ins Erdgeschoss reichte. Rund 400 Einwohner waren nach dem Murenabgang vorübergehend in Sicherheit gebracht worden. Um etwa 200 von ihnen – darunter mehrere Urlauber, die nicht mehr in ihre Unterkünfte gelangten – kümmerten sich Mitarbeiter der Touristen-Information und des Roten Kreuzes im Oberstdorf Haus. Die meisten durften gegen 22 Uhr wieder zurück in ihre Häuser.

    21 Menschen waren der Empfehlung der Gemeinde gefolgt, zunächst nicht heimzukehren, weil ihre Häuser keinen Strom hatten. Sie übernachteten bei Bekannten, in Pensionen und Ferienhäusern, die von der Gemeinde organisiert wurden. An dieser Situation änderte sich auch gestern nichts.

    Montagmittag gab Bürgermeister Laurent Mies Entwarnung: Bis auf einen Feuerwehrmann, der sich im Rahmen des Einsatzes leicht verletzt hatte, sei niemand körperlich zu Schaden gekommen. Die betroffenen Bereiche am Faltenbach und Am Dummelsmoos konnten wieder angefahren werden. Die Gefahr durch den Murenabgang sei gebannt – zumal die Ursache besagter Starkregen gewesen sei. „Solche extremen Wetterereignisse geschehen in immer kürzeren Abständen“, meint der Oberallgäuer Landrat Anton Klotz. Er schätzt die Höhe des Schadens auf einen einstelligen Millionenbetrag.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden