Kürzlich war Andrea Strasser sogar im Fernsehen. Für Bilder wirft sie sich ohne Anweisung des Fotografen in die richtige Pose. Interviewfragen beantwortet sie aus dem Stegreif, sagt Sätze wie: „Ich bin Teil der Mobilität von morgen.“ Andrea Strasser ist ein Medienprofi geworden – alles nur, weil sie ihr Auto verkauft hat und heute öffentliche Verkehrsmittel nutzt. Man könnte jetzt lamentieren, was das über den Stellenwert des nachhaltigen Fortbewegens im Autoland Deutschland aussagt. Oder man kann sich fragen, warum sich plötzlich alle so für die 47-jährige Augsburgerin interessieren.
Ganz einfach: Sie ist einer der ersten Fahrgäste, die die Augsburger Mobilitätsflatrate gebucht haben. Straßenbahn, Bus, Carsharing und Leihräder, alles aus einer Hand. Das gibt es bisher nur in Augsburg. Die Flatrate, angeboten von den Stadtwerken (SWA), wird deutschlandweit als mögliche Rettung der Innenstädte und Autobahnen vor dem Kollaps diskutiert. Und während täglich mehr als 9000 Menschen von Augsburg nach München pendeln, schaut der Münchner Stadtrat in die andere Richtung und prüft, ob man das Augsburger Modell übernehmen könnte. Das jedenfalls fordert die CSU-Fraktion. Will sie die Zustimmung der Münchner, sollte sie eine Umfrage kurz nach Feierabend am Mittleren Ring starten: zur Haupt-Stauzeit am Stau-Schwerpunkt – am besten mittwochs, dem Tag mit den statistisch meisten Staus. 745.000 waren es im Jahr 2018 deutschlandweit, mehr als 2000 Staus pro Tag.
Ein Vierteljahr stand Strassers Auto ungenutzt am Straßenrand
Immerhin Andrea Strasser ist jetzt raus aus der Stau-Statistik. In der Straßenbahnlinie 2 gleitet sie am Rathaus vorbei zur Zentrale der Stadtwerke im Domviertel, wo sie ihr Carsharing-Auto abholen möchte. Vor etwas mehr als einem Jahr, erzählt die 47-Jährige und drückt den roten Halteknopf, hat sie sich als Testerin für die neue Mobilitätsflatrate angemeldet und ihren acht Jahre alten Audi verkauft. Vorher habe sie getestet, wie lange sie in der Stadt ohne Auto auskommen könnte. Ein Vierteljahr lang stand es ungenutzt am Straßenrand. „Ich bin nur ab und zu hingegangen, um zu sehen, ob jemand dagegen gefahren ist“, erinnert sich die Verwaltungsfachangestellte. Nur zum TÜV musste sie dann notgedrungen doch mit dem Auto fahren.
Heute muss sie zu einem Gartencenter vor den Toren Augsburgs. Zwei Freundinnen warten schon am vorgebuchten Auto. Mit ihrer SWA-Kundenkarte entsperrt sie den silbernen Opel. Die zierliche Frau gönnt sich heute den Kombi, Weihnachtsdeko einkaufen. „Da braucht man einen großen Kofferraum“, sagt sie lachend.
Strasser ist viel unterwegs, fährt per Tram in die Arbeit, abends zur Chorprobe, besucht Freundinnen im Landkreis. Deswegen hat sie das größere von zwei Flatrate-Paketen gebucht. Ein Frei-Ticket für die öffentlichen Verkehrsmittel und kostenloser Fahrrad-Verleih sind immer dabei. Unterschiede gibt es beim Carsharing: Im kleinen Paket für 79 Euro monatlich dürfen Kunden 15 Stunden oder 150 Kilometer mit dem Auto fahren, das große für 109 Euro beinhaltet eine Zeitbeschränkung von 30 Stunden, aber kein Kilometerlimit. Die 30 Stunden nutze sie nicht immer aus, sagt Andrea Strasser. Aber das stört sie nicht. „Mir ist die Gewissheit wichtiger, dass ich bei Wind und Wetter mobil sein kann.“
Verkehrsexperte: Eine Mobilitätsflatrate alleine reicht nicht
Sebastian Pretzsch findet die Augsburger Idee „super“. Er erforscht am Dresdner Fraunhofer-Institut Mobilitätskonzepte der Zukunft. „Es erleichtert den Umstieg vom PKW, wenn den Kunden mehrere Verkehrsträger in einem Angebot zur Verfügung stehen“, erklärt Pretzsch. Dass sich damit alle Probleme auflösen wie Kohlendioxid in einem Ozean, diese Hoffnung zerschlägt der Mobilitätsforscher. „Eine Flatrate kann einen Beitrag dazu leisten, dass die Leute ihr Auto stehen lassen. Aber das wird nicht reichen. Die Leistung muss überzeugen, und dazu gehört auch ein Ausbau des ÖPNV-Angebots.“ Sollte das keine Entlastung bringen, müsse man langfristig darüber nachdenken, Parken in den Innenstädten zu verteuern, den Parkraum künstlich zu verknappen oder den Pkw-Verkehr zu sanktionieren. Andere Länder seien da weiter. „Skandinavische Länder haben eine Maut in Innenstädten eingeführt, in London gibt es großflächige autofreie Zonen. Dort ist zugleich das ÖPNV-Angebot deutlich attraktiver. In Deutschland sind wir noch nicht ganz so weit.“
In München, so erfährt man es aus der Stadtverwaltung, prüfe man bei der Planung neuer Stadtteile durchaus, den Schlüssel für vorgegebene Pkw-Stellplätze zu reduzieren – im Neubaugebiet Freiham im Westen der Stadt zum Beispiel. Geplant ist gleichzeitig, das Tarifgebiet des Münchner Verkehrsverbunds in den nächsten fünf Jahren zu erweitern. Zehn Landkreise und Städte wollen beitreten. In Zukunft könnten die Fahrgäste dann mit einem Ticket von Garmisch-Partenkirchen über Landsberg bis Rosenheim und Landshut fahren. So würde das Problem eingedämmt, dass viele Orte auf dem Land von Verbindungen in die Städte weitgehend abgeschnitten sind. Der Freistaat unterstützt die Pläne mit einer Grundlagenstudie, die helfen soll, Verbindungen besser anzupassen und Fahrgastbedürfnisse auszuwerten. Jeder Landkreis könne eine solche Zusammenlegung mithilfe des Freistaats prüfen lassen, heißt es aus dem Verkehrsministerium. Erst kürzlich hätten etwa die Kreise Dillingen und Donau-Ries beschlossen, „die Sinnhaftigkeit eines Beitritts zum Augsburger Verkehrsverbund untersuchen zu lassen“.
Im Allgäu sind es nicht nur einheimische Pendler, sondern vor allem die Autos von Touristen, die Urlaubsorte verstopfen – in Füssen etwa, wo sich eine kilometerlange, stinkende Blechschlange durch die ganze Stadt windet, wenn mal wieder der Grenztunnel nach Tirol zu ist. Deutlich mehr als die Hälfte der Allgäuer fühlt sich vom touristischen Verkehr gestört, wie eine Studie der Hochschule Kempten ergab. Die schier endlose Parkplatzsuche regt ebenso viele auf. Das Oberallgäu will all das seinen Bürgern ersparen: Ab April 2020 soll es dort das 100-Euro-Ticket geben, mit dem die Nutzer ein ganzes Jahr lang Bus und Bahn fahren können. Ziel ist, bis Ende 2020 ein einheitliches Tarifsystem über das ganze Allgäu hinweg zu schaffen. Bisher scheitert das noch an Diskrepanzen mit der Bahn und an Unstimmigkeiten zwischen den einzelnen Städten und Kreisen.
Kempten, Ulm und Neu-Ulm prüfen Pläne für eine Seilbahn
In Kempten umfasst das „Mobilitätskonzept 2030“ insgesamt 160 Punkte. Sie sollen helfen, die kreisfreie Stadt in zehn Jahren klimaneutral zu machen. Gerade haben sie Kemptens erste Fahrradstraße eröffnet. Auf der blau markierten Fahrbahn dürfen Radfahrer nebeneinander fahren, haben immer Vorfahrt, die Autofahrer müssen sich der Geschwindigkeit der Radler anpassen. Markus Wiedemann, Verkehrsexperte der Stadt, sieht die Sache nicht verklärt: „Damit der Verkehr klimafreundlich sein kann, muss man erst einmal die Städte neu denken.“ Entscheidend sei auch, das Bewusstsein der Menschen zu ändern. Und dann schwebt den Kemptenern noch ein kühner Plan vor: eine Seilbahn, die Teile des Busverkehrs ersetzen und in die Luft verlegen könnte. Doch nicht nur im ski- und damit seilbahnerprobten Allgäu wird das – ziemlich kontrovers – diskutiert.
Köln und Koblenz haben die Schwebebahn schon, auch Ulm und Neu-Ulm könnten sich Gondeln als Verkehrsmittel der Zukunft vorstellen. Was das kosten würde, ist aber noch völlig unklar. Die Nachbarstädte wollen eine Machbarkeitsstudie in Auftrag geben. Dazu gehört etwa die Frage, auf welcher Flughöhe die Gondeln unterwegs sein könnten. Die Ulmer sehen die Seilbahn als mögliches Verkehrsmittel für die Landesgartenschau 2030. Deshalb wird eine Verbindung von der Innenstadt hoch zur Wilhelmsburg untersucht, die eine wichtige Rolle bei der Gartenschau spielen soll. Als zweites Projekt erwägt man eine Gondel-Strecke vom Neu-Ulmer Stadtteil Ludwigsfeld zum Ulmer Hauptbahnhof. Nächstes Jahr sollen erste Ergebnisse vorliegen.
Künftig soll es eine App für alle Verkehrsmittel geben
Die Augsburgerin Andrea Strasser braucht solche hochfliegenden Ideen nicht. Sie ist mit ihren Freundinnen im Gartenmarkt angekommen, das Auto wartet draußen auf dem Parkplatz. Vier Stunden lang hat sie es gebucht. Auf ihrem Handy zeigt die Flatrate-Nutzerin, wo sie den Wagen später überall abstellen könnte. 80 Stationen blinken auf einer Schwaben-Karte auf, Strasser sieht genau, welche der 200 Autos wo verfügbar sind. Um herauszufinden, wie sie vom Carsharing-Punkt per Tram nach Hause in die Innenstadt käme, muss sie eine andere App öffnen. Abends will sie noch zum Fischessen in die Fußgängerzone. Das ginge mit dem Fahrrad. Wo es welche gibt, zeigt eine dritte App. „Mich stört das nicht“, sagt Strasser. Andere schon.
Verkehrsforscher Sebastian Pretzsch ist überzeugt davon, dass eine Flatrate, die Erfolg haben will, auf einen Blick verständlich sein muss – in einer App. Daran arbeite man, sagt Jürgen Fergg, Sprecher der Stadtwerke. Anfang 2020 sollen Kunden das neue System auf ihr Handy laden können. Knapp 200 Nutzer hätten die Flatrate bisher gebucht, sagt Fergg. Nicht allzu beeindruckend in einer Stadt mit 292.000 Einwohnern. Gleichzeitig steige aber die Nachfrage beim Carsharing. „Viele probieren wohl zunächst das Carsharing aus, um sich dann für das passende Paket zu entscheiden.“ Immerhin ein Fünftel der Flatrate-Kunden ist vom überzeugten Autofahrer zum ÖPNV-Nutzer geworden. „20 Prozent der Neukunden hatten vorher weder ein ÖPNV-Abo noch Carsharing. Sie sind also aus dem Stand auf öffentlichen Verkehr umgestiegen.“
Andrea Strasser, Nutzerin der ersten Stunde, hat ihren Einkauf abgeschlossen: einen Stoff-Nikolaus, ein Glas mit Adventsdeko, Vogelfutter. Die Tüten ihrer Freundinnen sind auch verstaut. Der Verkehr in die Stadt läuft flüssig. Strasser weiß: Eine Stunde später und es wäre Rush Hour, die Straßen voll. „Wenn nicht mehr Leute umdenken, kommt der Verkehrskollaps“, ist sie sich sicher.
Dass ein paar Umweltbewusste allein wenig ändern können, hat sie vor ein paar Wochen gemerkt. Sie machte einen Ausflug nach München, natürlich im Carsharing-Auto. Auf der Rückfahrt verschob sie am Handy alle paar Minuten den Rückgabezeitpunkt. Am Ende hatte sie drei Stunden im Stau verbracht.
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