Startseite
Icon Pfeil nach unten
Bayern
Icon Pfeil nach unten

Nach der Flut: Chaos in Niederbayern: "So eine Sauerei! Wer war denn das?"

Nach der Flut

Chaos in Niederbayern: "So eine Sauerei! Wer war denn das?"

    • |
    Ein Mann steht in Simbach am Inn auf einer vom Hochwasser teilweise weggespülten Straße.
    Ein Mann steht in Simbach am Inn auf einer vom Hochwasser teilweise weggespülten Straße. Foto: Peter Kneffel, dpa

    Untertürken ist ein beschauliches Dorf. In diesen Tagen aber wirkt es wie aus einer anderen Welt. So unwirklich ist das Bild, das sich nach dem verheerenden Unwetter dort zeigt. Straßen, die an einer Abbruchkante plötzlich enden; eine Garage, der ein ganzes Eck fehlt; ein Haus, das in der Mitte durchtrennt ist. Nur eine Hälfte steht dort noch, die andere hat die Flut mitgerissen. Mitsamt seiner Bewohnerin.

    Eine Freundin verloren - trotzdem muss es weitergehen

    „Das ist das Allerschlimmste: Was da drüben passiert ist.“ Manfred und Roswitha Willeitner stehen in ihrem verwüsteten Garten und blicken über die Straße auf die Ruine. Die beiden haben nicht nur eine Nachbarin verloren, auch eine Freundin. Trotzdem muss es weitergehen. Das eigene Haus, der halbe Ort ist verwüstet, es muss aufgeräumt werden. „Bis gestern standen wir dermaßen unter Strom, da ging es“, sagt

    Viele im niederbayerischen Flutgebiet kommen nun an ihre Grenzen. Auch Petra Konrad war am Morgen bei ihrem Hausarzt und hat sich Medikamente geben lassen. In Lederslippern steht sie im Dreck von Triftern vor ihrem Haus. Um sie herum rattern Generatoren, das Stromnetz funktioniert noch nicht. „Ich konnte nicht mehr, ich war einfach am Ende“, sagt sie. Die 67-Jährige mit dem schmalen Gesicht und den kurzen Haaren schaut ins Leere, ihre Unterlippe zittert. „Die Spritze hilft mir, dass ich ruhiger bin und das alles ansehen kann.“ Das Erdgeschoss ihres Hauses wurde völlig überflutet. „Zu dritt haben wir uns gegen die Haustür gestemmt. Aber keine Chance. Das Wasser sprengte das Sicherheitsglas, mein Mann rief nur noch: Nach oben!“

    Seitdem wird aufgeräumt. Es gebe so viel Arbeit, dass sie sich nicht in die Schlange am Landratsamt stellen wolle, um die 1500 Euro Soforthilfe abzuholen, sagt Konrad. Andere haben das schon getan. Innerhalb der ersten Stunde holten 150 Betroffene das Bargeld ab, mit dem die nötigsten Anschaffungen erledigt werden können, berichtet eine Mitarbeiterin des Amtes. Petra Konrad und ihr Mann schöpfen stattdessen Wasser aus ihrem Keller. Die Nacht haben sie bei der Tochter verbracht, ohne Strom und Trinkwasser ist das Haus kaum bewohnbar; ganz abgesehen vom verwüsteten Erdgeschoss. Bekannte bringen nun Essen und Getränke vorbei, eine Freundin der Tochter kam mit Kaffee und selbst gebackenem Kuchen. Auch andere Helfer melden sich: „Tochter, Schwiegersohn und Enkel kommen, sogar der Ex-Schwiegersohn. Die Hilfsbereitschaft ist wirklich sehr groß.“

    Auch Asylbewerber packen in mehreren Orten mit an. Der Bayerische Rundfunk berichtet von einer Gruppe Flüchtlinge, die extra aus dem Chiemgau nach Simbach am Inn gereist ist, um zu helfen. In Triftern steht am Freitag der 28-jährige Afrikaner Magol Nediaye. „Ich selbst wohne in Vilshofen, aber mein Kollege kommt aus Triftern und ist betroffen.“ Deshalb wolle er mit anpacken.

    Berge kaputter Möbel

    In den engen Gassen türmen sich Berge kaputter Möbel, dazwischen ein paar Schlittschuhe und pinkfarbene Preiszettel, die auf einen Ausflug zum Flohmarkt hinweisen. Menschen mit Thermoskannen gehen von Haus zu Haus und verteilen Kaffee an die zahlreichen Helfer, die Feuerwehr bringt belegte Semmeln, die Freiwillige abgegeben haben. Durch die offenen Türen der Häuser zeigt sich überall dasselbe Bild: verdreckte Böden, an den Wänden lehnen Schaufeln und Besen.

    In einer braun überzogenen Einfahrt steht ein Postbote und reicht Briefe über einen Zaun. Auch er trägt Gummistiefel. „Gestern habe ich auch noch geholfen“, sagt Markus Hilse. „Aber es hilft ja nichts, die Post muss ja verteilt werden.“ Manche Straßen, sagt er, lasse er aber aus, um nicht im Weg zu sein.

    Der Altbach, der in Triftern über die Ufer trat, fließt weiter nördlich durch Anzenkirchen. Inmitten des verwüsteten Ortskerns steht das Haus von Franz Thiel. Nachdem am Mittwoch um zehn Uhr abends das Wasser abgeflossen war, ging für den 63-Jährigen die Arbeit los. „Am Anfang bin ich nur im Kreis gelaufen. Es gab so viel zu tun, und ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte.“ In seinem Hof hat die Flut ein zwei Meter tiefes Loch ausgeschwemmt. „Zum Glück hat mein Schwiegersohn ein Bauunternehmen. Mit seinem Bagger haben wir es nun wieder zuschütten können.“ Parkett und Küche hat Thiel bereits herausgerissen. Sie waren völlig aufgequollen. Welcher Verlust ihn am meisten schmerzt? „Die Fotos, da ist so viel weggekommen.“ Aber auch ganz alltägliche Dinge fehlen: „Ich kann mich nicht mal mehr rasieren.“ Das Wasser stand in seinem Erdgeschoss bis zum Türrahmen. So richtig begreifen kann er immer noch nicht, was passiert ist. „Das kommt erst langsam“, sagt er mit brüchiger Stimme. Aber seinen Humor, da legt er Wert darauf, wolle er trotzdem nicht verlieren. Als er sein verschlammtes Bad samt Toilette zeigt, sagt er scherzend: „Ja so eine Sauerei! Wer war denn das?“

    Die schlimmsten Hochwasser der vergangenen Jahre

    Juni 2013: Überflutungen in ganz Mitteleuropa: das Hochwasser kostet in Deutschland und seinen Nachbarländern 25 Menschen das Leben. Der Rückversicherer Swiss Re errechnet einen Gesamtschaden von zwölf Milliarden Euro. In Deutschland sind Regionen im Norden und Osten besonders heftig betroffen, Zehntausende werden evakuiert.

    Januar 2011: Im nördlichen Abschnitt der Elbe erreicht das Hochwasser vielerorts Rekordhöhen. Doch die Deiche halten. Hunderte Helfer sind zwischen Lauenburg in Schleswig-Holstein und Wittenberge in Brandenburg unterwegs, um eine Überflutung zu verhindern.

    August 2010: Extreme Regenfälle führen im Dreiländereck von Deutschland, Tschechien und Polen zu heftigem Hochwasser und Überschwemmungen. Am polnischen Witka-Stausee bricht ein Damm,  zusätzliche Wassermassen gelangen in die Neiße. Mindestens zehn Menschen ertrinken. Von den Schäden ist besonders Sachsen betroffen.

    März/April 2006: Wegen des Elbe-Hochwassers wird in Teilen Sachsens Katastrophenalarm ausgerufen. Auch in anderen ostdeutschen Ländern gilt die höchste Alarmstufe. In Norddeutschland erreichen die Elbe-Fluten an mehreren Orten neue Höchststände jenseits der Werte des sogenannten Jahrhunderthochwassers von 2002.

    August 2002: Nach sintflutartigen Regenfällen rollt eine verheerende Elbe-Flutwelle von Tschechien nach Norddeutschland. In Dresden erreicht das Hochwasser einen Rekordhöchststand. Allein in Sachsen sterben mindestens 20 Menschen. In Bayern sind besonders Regensburg und Passau von einer Flutwelle der Donau betroffen.

    Juli 1997: Nach starken Regenfällen hält das Hochwasser der Oder die Menschen in Brandenburg, Tschechien und Polen in Atem und verursacht Schäden in Milliardenhöhe. Bei einem der größten zivilen Katastropheneinsätze bemühen sich bis Anfang August 45 000 Helfer, darunter 30 000 Bundeswehrsoldaten, die aufgeweichten Deiche mit Millionen von Sandsäcken zu sichern.

    In Untertürken freuen sich Manfred und Roswitha Willeitner über die vielen Helfer. An jeder Ecke ihres Grundstücks sieht man Freiwillige bei der Arbeit. Drei Burschen stehen im Bach und versuchen, einen Traktoranhänger mit Schaufeln zu bergen. Als Manfred Willeitner, 59, in seinem Garten vom Chaos erzählt, wird er von einer Fremden mit pinkfarbenem Pullover unterbrochen: „Ich will euch helfen, wo kann ich anpacken?“ In der Küche findet sich Arbeit. „So etwas ist einfach toll“, sagt Willeitner. „Wenn wir das alles allein stemmen müssten – ich würde mir einen Strick kaufen.“

    Flut in Niederbayern: Siebtes Opfer stirbt im Krankenhaus 

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden