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Nach Amokalarm: Memmingen will zurück zur Normalität

Nach Amokalarm

Memmingen will zurück zur Normalität

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    In der Lindenschule in Memmingen begann das Amok-Drama.
    In der Lindenschule in Memmingen begann das Amok-Drama. Foto: Ralf Lienert

    Das Einschussloch auf dem Boden im Eingangsbereich der Mensa wird von einem braunen Hochflorteppich verdeckt. Ein paar Meter weiter essen die Schüler der Ganztagesklassen zu Mittag. Es gibt Putenleberkäse mit Kartoffelsalat. Der Schulalltag scheint an der Memminger Lindenschule wieder eingekehrt zu sein. „Es gibt praktisch keinen Unterschied zu vorher“, sagt Beratungslehrer Matthias Frankenberger. Dabei ist es erst dreieinhalb Wochen her, dass ein bewaffneter 14-jähriger Schüler an der Mittelschule einen Schuss abgegeben und damit einen Amok-Alarm ausgelöst hatte. Anschließend verschanzte er sich mit zwei scharfen Waffen auf einem Sportplatz im Memminger Stadtteil Steinheim, wo er zahlreiche weitere Schüsse abfeuerte. Erst nach mehreren Stunden gab der Schüler auf. Verletzt wurde niemand. Wie sich später herausstellte, stammen die Waffen aus dem Tresorraum des Vaters.

    Beratungslehrer: Der Fall ist kein Gesprächsthema mehr

    Einige Schüler, die in Frankenbergers Klasse gehen, waren gerade in der Mensa, als der 14-Jährige mit den Waffen auftauchte. Ein Gesprächsthema ist der Vorfall laut Frankenberger trotzdem „überhaupt nicht mehr“. Auch das Betreuungsangebot der Schule in der Ferienzeit habe niemand wahrgenommen. Rektor Franz M. Schneider führt diese „unaufgeregte Situation“ darauf zurück, dass man bereits einen Tag später „offensiv “ mit dem Thema umgegangen sei. „Für mich war klar, dass der Unterricht am nächsten Morgen stattfinden muss, um so schnell wie möglich wieder in den Schulalltag zurückzufinden.“ Die Schüler hatten die Möglichkeit, sich mit Schulpsychologen und Mitarbeitern des Kriseninterventionsteams auszutauschen. „Wir haben deswegen auch an diesem Tag wieder ein Essen in der Mensa angeboten. Es waren fast mehr Betreuer als Schüler dort“, beschreibt der Rektor.

    Wieder eingekehrte Ruhe nicht gefährden

    Das Interesse der Medien an der Schule habe bereits zwei, drei Tage nach dem Amok-Alarm schlagartig nachgelassen. „Seit den Pfingstferien gab es keine Anfrage mehr“, so Schneider. Seine Schüler stehen seit dieser Zeit unter seinem ganz besonderen Schutz. „Es wäre nicht gut, wenn man sie jetzt wieder dazu befragen würde.“ Das ist in seinen Augen der richtige Weg, um die wieder eingekehrte Ruhe nicht zu gefährden. Eine Unsicherheit bleibt aber: „Es ist nicht vorhersehbar, wie die Schüler reagieren werden, wenn an einem anderen Ort etwas Ähnliches passiert.“

    Schüler verschoss 70 Patronen

    Am Steinheimer Sportplatz zeugen nur noch die Einschusslöcher an den Werbetafeln am Spielfeldrand von den Ereignissen des 22. Mai. Rund 70 Patronenhülsen hatte die Polizei dort sichergestellt. Delphine Herbrik erinnert sich genau an diesen Tag. Mit ihrem dreijährigen Sohn, der damals eigentlich Fußballtraining haben sollte, saß sie rund drei Stunden lang im Keller der Vereinsgaststätte, sie hatte sich dort in Sicherheit gebracht. „Richtige Angst“ habe sie in diesem Moment eigentlich nur um ihren älteren Sohn, der acht Jahre alt ist, gehabt, der gemeinsam mit seinem Fußballtrainer und weiteren Teamkameraden über ein nahe gelegenes Maisfeld geflüchtet war. „Nach etwa einer halben Stunde hat mich dann mein Mann angerufen und gesagt, dass mit unserem Sohn alles in Ordnung ist“, sagt die 44-jährige Steinheimerin. Auch als sie Schüsse hörte, sei sie nicht in Panik geraten. „Es war ein komisches Gefühl, ich habe mich in dieser Zeit eigentlich nur gefragt, wie lange das noch dauern wird.“ Auch ihr dreijähriger Sohn sei ruhig geblieben. „Er ist halt noch sehr jung. Er hat nicht verstanden, was da passiert“, sagt die Mutter.

    Viele Kinder traumatisiert

    Sein achtjähriger Bruder habe in den beiden darauffolgenden Nächten allerdings sehr schlecht geschlafen. Auch zum Fußballtraining zwei Tage später wollte er zunächst nicht mehr. „Er hat gefragt, was passiert, wenn der Junge wieder auftaucht.“ Schließlich sei er aber doch mit seinen Eltern zum Sportplatz gefahren. „Freiwillig“, wie seine Mutter betont. „Wir hätten ihn auch jederzeit nach Hause gefahren. Aber das war nicht nötig.“  Innerhalb ihrer Familie wird das Thema so gut wie nicht mehr angesprochen. Zwei Wochen lang war sie in der Zwischenzeit mit ihrem Mann und den beiden Söhnen im Urlaub auf Korsika. Die Reise war schon länger geplant. „Da kommt man auf andere Gedanken“, sagt Herbrik. „Mich interessiert nur, wie es mit dem 14-Jährigen weitergeht. Denn irgendwie tut er mir schon leid“, so die 44-Jährige.

    Anwohner des Sportplatzes: Erst später hat es "klick" gemacht

    Oliver Föhr stand am Tag des Amok-Alarms nur einige Meter vom Steinheimer Sportplatz entfernt. Der katholische Diakon aus dem Memminger Stadtteil Amendingen war damals für den Kriseninterventionsdienst (KID) als Notfallseelsorger im Einsatz. Auch er hatte die Schüsse des 14-Jährigen gehört. Er hat sie bis heute nicht vergessen. Als er kürzlich einen historischen Markt besuchte und im Hintergrund plötzlich Böllerschüsse aus den Kanonen donnerten, sei er zusammengezuckt, erzählt der Gemeindeseelsorger. „Ich hatte kurze, blitzende Bilder vor Augen, die mir das Ereignis von damals sofort wieder ins Bewusstsein gerufen haben.“ In Gesprächen mit Eltern und anderen Betroffenen erfuhr er, dass einige von ihnen ähnliche, wiederkehrende Erinnerungen haben, die durch laute äußere Reize ausgelöst werden können. Föhr nennt ein weiteres Beispiel: „Anwohner des Sportplatzes haben mir erzählt, dass es erst bei ihnen ,klick‘ gemacht hat, als sie in den Medien die Bilder von den Einschusslöchern in der Werbebande gesehen haben.“ Erst da sei ihnen bewusst geworden, dass der 14-Jährige scharf geschossen hat. „Das hat einige im Nachhinein natürlich schon belastet.“

    Pfingstferien ein Segen

    Und trotzdem: Bereits ab dem Pfingstwochenende habe der Gesprächsbedarf über den Amok-Alarm in der Stadt merklich nachgelassen. „Für einige waren die Pfingstferien wohl ein Segen.“ Erst kürzlich hat der Gemeindeseelsorger nach dem Gottesdienst von einer betroffenen Familie erfahren, „dass der Junior nun wieder gut schläft“. Föhr selbst ist bereits wieder an anderer Stelle im Einsatz. „Es ist gut für die eigene Psyche, wenn wieder was Neues kommt.“

    Stadtverwaltung: Rückkehr zur Tagesordnung

    In der Memminger Stadtverwaltung „ist man wieder zur Tagesordnung zurückgekehrt“, erklärt Oberbürgermeister Ivo Holzinger. „Es war damals ohne Frage eine gefährliche Situation, die aber durch die Besonnenheit der Einsatzkräfte Gott sei Dank unblutig beendet wurde“, sagt der Rathauschef. Verdrängen will Holzinger den Vorfall allerdings keineswegs. Er verweist auf das Gauschützenfest in Steinheim am vergangenen Wochenende. Als Gastredner ging Kultusminister Ludwig Spaenle dort auch auf die Ereignisse vom 22. Mai und die psychische Belastung für die Betroffenen ein. Holzinger sagt, er findet es gut, dass solche Dinge angesprochen werden.

    Stärkere Kontrolle bei Antrag auf Waffenbesitz

    Welche Konsequenz die Stadtverwaltung aus dem Vorfall ziehen wird, sei derzeit noch nicht klar. „Wir werden unaufgeregt mit Polizei, Staatsanwaltschaft und Schule besprechen, ob es weitere Erkenntnisse gibt.“ Eines ist für Holzinger klar: „Wir wollen in Zukunft bei einem Antrag auf Waffenbesitz noch genauer hinschauen.“ Denkbar seien auch „zwei, drei Stichproben mehr“, wenn es bei einem größeren Waffenarsenal um die Kontrolle des Tresorraums geht.

    Ermittlungen gegen den Vater laufen weiter

    Die Ermittlungen gegen den 53-jährigen Vater wegen Verstößen gegen das Waffen- und Sprengstoffrecht dauern indes an. Bei einer Hausdurchsuchung hatte die Polizei neben zwölf Lang- und 15 Kurzwaffen, die der Sportschütze legal besaß, auch mehr Sprengstoff zum Abfüllen der Patronen als erlaubt sowie eine manipulierte Waffe sichergestellt.

    Internetseite des Schützenvereins gesperrt

    Die Internetseite seines Vereins – der „Königlich privilegierten Feuerschützengesellschaft 1414“ – ist noch immer gesperrt. Besucher der Homepage hatten am Tag nach dem Amok-Alarm im Gästebuch die Schützen beschimpft. Wann die Seite wieder online geht, ist nicht bekannt. Vom Verein selbst ist niemand für eine Stellungnahme zu erreichen. Auch Gauschützenmeister Helmut Klatt will keine Angaben machen. „Ich habe zu den Mitgliedern Kontakt. Der Verein hat meine volle Unterstützung“, sagt er und verweist auf den Bayerischen Sportschützenbund in München. Er allein dürfe keine Auskunft geben. In

    Nun ja. Die Stimmung bei den Schützen in Memmingen beschreibt Helmut Klatt dagegen schon – und zwar als harmonisch. „Und das ist auch gut so.“ Die aktiven Schützen würden kaum mehr über das Thema diskutieren. Der Gauschützenmeister ist sich sicher: „Jeder weiß, damit umzugehen"

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