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NSU: Urteil im NSU-Prozess ändert wenig am Leid der Angehörigen

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Urteil im NSU-Prozess ändert wenig am Leid der Angehörigen

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    Die Opfer (von oben links im Uhrzeigersinn): Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kilic, Michèle Kiesewetter, Halit Yozgat,  Mehmet Kubasik, Theodoros Boulgarides, Ismail Yasar, Mehmet Turgut.
    Die Opfer (von oben links im Uhrzeigersinn): Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kilic, Michèle Kiesewetter, Halit Yozgat, Mehmet Kubasik, Theodoros Boulgarides, Ismail Yasar, Mehmet Turgut. Foto: Polizei-Handouts/Norbert Försterling, dpa

    Abdulkerim Simsek hat die fünf Jahre durchlitten. Hat verfolgt, wie das Gericht sich durch die Details der Anklage gegen Beate Zschäpe und ihre vier mutmaßlichen NSU-Helfer gearbeitet hat. Wie die Richter sich weit in die Verästelungen vergruben. Und wie sie die Fragen der Nebenkläger und ihrer Rechtsanwälte immer wieder verwarfen, abblockten, wie sie an den Behörden scheiterten, an einer Mauer des Schweigens.

    Ihn lässt die Vorstellung nicht los, was sein Vater durchlitten haben muss in den Stunden nach den Schüssen auf seinen Kopf und seinen Oberkörper, bis ihn Passanten zufällig fanden. Er kann nicht glauben, dass Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos durch puren Zufall auf den Blumenstand von Enver Simsek gestoßen sind, damals im September 2000. „437 Tage“, sagt er, habe das Gericht verhandelt. „437 Tage ist diese für uns wichtige Frage nicht beantwortet worden.“

    „Die fünf Jahre waren eine Enttäuschung“

    Neben Simsek sitzt Gamze Kubasik. Auch sie hat ihren Vater verloren; auch ihr Vater starb, weil Böhnhardt und Mundlos seinen Tod beschlossen hatten. Der Schmerz, der Verlust, sagt Gamze Kubasik, werde sie bis zum Tod begleiten. „Der NSU hat meinen Vater ermordet. Aber die Ermittler haben seine Ehre kaputt gemacht. Sie haben ihn ein zweites Mal ermordet.“ Auch sie hat sich durch den Prozess gequält. „Die fünf Jahre waren eine Enttäuschung“, sagt sie. „Ich hatte auf Antworten gehofft. Ich bin total enttäuscht.“ Sie habe geglaubt, sie könne nach dem Prozess alles abschließen. Doch das, sagt sie, sei ein Irrtum gewesen.

    Es ist nicht so, dass Abdulkerim Simsek und Gamze Kubasik schon gewusst hätten, zu welchem Urteil die Richter heute im NSU-Prozess kommen werden. Sie glauben auch nicht, dass Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben und die drei anderen zu gut wegkommen könnten. Es geht ihnen nicht um das, was heute passiert. Es geht ihnen um das, was im Verfahren nicht geschehen ist.

    Für viele ist der NSU-Fall noch lange nicht beendet

    Sebastian Scharmer, Anwalt von Gamze Kubasik, hat am Tag vor dem Prozessbeginn das Verfahren intoniert. Jetzt, am Tag vor dem Urteil, moderiert er das Ende an. Die Trio-These sei hinfällig. „Der NSU war ein Netzwerk, das aus weit mehr Menschen bestand als nur aus den fünf Angeklagten. Alle anderen aber laufen immer noch frei herum.“ Dass das Gericht sich damit nicht habe beschäftigen dürfen, sei falsch. „Wir wissen, dass es im Kern um die fünf Angeklagten gegangen ist. Es ging aber auch um die Frage nach der Größe und der Gefährlichkeit des NSU.“ Dass bei den verantwortlichen Behörden ein Einsehen feststellbar sei, dass sie dort Konsequenzen gezogen hätten, Scharmer verneint das. „Dort wurde vertuscht und gelogen, und das durch das gesamte Verfahren hindurch.“ Deshalb könne das Gericht mit dem Urteil zwar ein Kapitel schließen. „Beendet ist der Fall NSU damit aber noch lange nicht. Dafür sind zu viele Fragen offen.“

    Die Sorge ist groß bei den Angehörigen der Opfer wie bei ihren Anwälten, dass mit dem Ende des Verfahrens „auch das Ende der Aufklärung der Hintergründe kommt“, sagt Rechtsanwältin Seda Basay. Sie steht Abdulkerim Simsek zur Seite. Und sie drängt darauf, dass die Behörden endlich alle Akten freigeben. Noch unterliegen etliche Dokumente der Geheimhaltung.

    Im Zeitraffer: Zentrale Verhandlungstage des NSU-Prozesses

    Es war eine akribische, oft zähe Suche nach der Wahrheit im Münchner NSU-Prozess. Sie dauerte mehr als fünf Jahre und mehr als 430 Verhandlungstage. Die wichtigsten davon im Rückblick:

    6. Mai 2013: Der Prozess gegen die mutmaßliche NSU-Terroristin Beate Zschäpe und die vier Mitangeklagten Ralf Wohlleben, André E., Carsten S. und Holger G. beginnt. Am 14. Mai wird die Anklage verlesen.

    4. Juni 2013: Carsten S. beginnt seine Aussage. Er räumt ein, eine Waffe für den «Nationalsozialistischen Untergrund» besorgt zu haben. Zwei Tage später räumt Holger G. ein, dem NSU geholfen zu haben.

    1. Oktober 2013: Der Vater des Mordopfers Ismail Yozgat tritt als Zeuge auf: Er wirft sich auf den Boden, um die Position seines sterbenden Sohns zu beschreiben. Am Tag darauf appelliert dessen Mutter eindringlich an Zschäpe, zur Aufklärung beizutragen.

    16. Januar 2014: Der Polizist Martin A., der beinahe das elfte Todesopfer des NSU geworden wäre, sagt im Prozess als Zeuge aus.

    16. Juli 2014: Das Hickhack um Zschäpes Verteidiger beginnt: Sie gibt an, sie habe kein Vertrauen mehr in ihre Pflichtverteidiger. Wenig später schmettert das Gericht ihren Antrag auf neue Anwälte ab.

    6. Juli 2015: Der Krach geht weiter - deshalb ordnet das Gericht Zschäpe einen vierten Pflichtverteidiger bei: Mathias Grasel. Ihre Alt-Verteidiger scheitern mit Versuchen, von den Mandaten entbunden zu werden. Einmal zeigt Zschäpe die drei sogar an - erfolglos.

    9. Dezember 2015: Zschäpe äußert sich erstmals vor Gericht: Am 249. Verhandlungstag verliest ihr neuer Anwalt Grasel eine Aussage. Darin räumt sie ein, von den Banküberfällen ihrer Freunde Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gewusst zu haben. Sie gesteht, die letzte Fluchtwohnung des Trios in Zwickau in Brand gesteckt zu haben. Aber von den Morden und Anschlägen will sie immer erst im Nachhinein erfahren haben.

    16. Dezember 2015: Auch Wohlleben bricht sein Schweigen. Er bestreitet, eine der Mordwaffen, die "Ceska", beschafft zu haben.

    29. September 2016: Nach dreieinhalb Jahren ergreift Zschäpe zum ersten Mal persönlich das Wort - für eine kurze Erklärung: Sie bedauere ihr «Fehlverhalten» und sie verurteile, was ihre Freunde Mundlos und Böhnhardt den Opfern «angetan haben».

    17. Januar 2017: Der Psychiater Henning Saß bescheinigt Zschäpe volle Schuldfähigkeit; sie sei möglicherweise noch immer gefährlich.

    3. Mai 2017: Der von Zschäpes Vertrauensanwälten benannte Gutachter Joachim Bauer attestiert Zschäpe verminderte Schuldfähigkeit. Doch das Gericht lehnt Bauer später wegen befürchteter Parteilichkeit ab.

    25. Juli 2017: Die Bundesanwaltschaft beginnt mit ihrem Plädoyer.

    12. September 2017: Bundesanwalt Herbert Diemer fordert lebenslange Haft und anschließende Sicherungsverwahrung für Zschäpe und teils lange Haftstrafen für die Mitangeklagten. Am 13. September erlässt das Gericht Haftbefehl auch gegen André E.

    15. November 2017: Nach zwei Monaten Stillstand wegen zahlreicher Befangenheitsanträge beginnen die Plädoyers der Nebenkläger - mit Frontalangriffen auf Zschäpe, aber auch auf die Bundesanwaltschaft.

    24. April 2018: Die Verteidiger-Plädoyers beginnen: Zschäpes Vertrauensanwälte weisen den Anklagevorwurf zurück, die heute 43-Jährige sei Mittäterin an den Morden und Anschlägen des NSU gewesen, und fordern am Ende eine Haftstrafe von unter zehn Jahren.

    3. Juli 2018: Zschäpe und drei der vier Mitangeklagten äußern sich in persönlichen Schlussworten. Zschäpe distanziert sich noch einmal von den NSU-Verbrechen. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl kündigt das Urteil für den 11. Juli an.

    11. Juli 2018: Nach mehr als fünf Jahren fällt das Urteil gegen Zschäpe. Sie wird vom Oberlandesgericht München zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Ihr Verteidiger Wolfgang Heer kündigt an, Revision gegen das Urteil einzulegen...

    ... Die Mitangeklagten bekommen ebenfalls Haftstrafen: Ralf Wohlleben wird als Waffenbeschaffer für den NSU zu zehn Jahren Haft verurteilt. Holger G. zu drei Jahren, André E. zu zwei Jahren und sechs Monaten und Carsten S. zu drei Jahren Jugendstrafe.

    Für die Angehörigen hat auch Angela Merkel nicht Wort gehalten

    Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte den Opfern im Februar 2012 versprochen, alles werde aufgeklärt. „Sie hat es nicht eingehalten“; attestiert Gamze Kubasik, die auf ein weiteres Treffen mit Merkel keinen Wert mehr legt. Für ihre Anwälte ist jetzt vor allem eines wichtig, und das bringt dann die Kanzlerin doch wieder ins Spiel: Die Bundesrepublik müsse „umgehend ein Vernichtungsmoratorium“ für alle Behörden erlassen. Es dürfe nicht passieren, dass weitere Akten aus dem NSU-Komplex im Schredder verschwinden.

    Wir berichten ab 8 Uhr im Liveticker vom Tag des Urteilsspruchs gegen Beate Zschäpe. Hier gelangen Sie zum Ticker.

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