Carsten S. macht den Anfang. Er ist der erste Angeklagte, der im NSU-Prozess aussagt. Vorsichtig tastet sich der 33-Jährige voran, erzählt seine Geschichte. Anfangs schaut er oft auf ein Blatt Papier, auf das er biografische Daten notiert hat. Dabei geht es zunächst nur um Persönliches - die Anschläge des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU), die mögliche Beteiligung von Carsten S. spielt erstmal noch keine Rolle.
Es ist die Geschichte eines schwulen Jungen aus der Provinz, der in Jena Anschluss sucht - und ihn in der rechten Szene findet. Carsten S. war etwa 13 Jahre alt, als er merkte, "dass etwas nicht stimmt". Bei einem Aufklärungsheftchen, das in der Schule verteilt wurde, interessierten ihn die Bilder von nackten Jungen mehr als die von Mädchen. Als er eine Bemerkung darüber macht, schauen ihn alle an. "Da habe ich gemerkt, dass ich einen Fehler gemacht hab'", erzählt Carsten S.
Ab da habe er versucht, "mich normal zu verhalten und mich anzupassen". Keine Fehler zu machen. Und gerade deshalb macht er schließlich einen großen Fehler, der ihn Jahre später wieder einholt. In die rechte Szene geriet er, weil er sich in der Berufsschule in einen Jungen verguckt hatte - und der war rechts. Auf ihrer Stube im Lehrlingswohnheim hörten sie die "Zillertaler Türkenjäger". "Das fanden wir damals lustig, das haben alle mitgehört." Carsten S. sucht Kontakt zur Szene, übernimmt Aufgaben, wird bei den "Jungen Nationaldemokraten" (JN) aktiv, der Jugendorganisation der rechtsextremen NPD.
Entschluss zum Ausstieg
Ende 1999, Anfang 2000 dann der Entschluss zum Ausstieg. S. sollte Landesvorsitzender der JN werden. "Dann komme ich nicht mehr raus", habe er gedacht. Und er erinnert sich an eine Bemerkung von Ralf Wohlleben, der damals eine Größe in der Neonazi-Szene war: "Mich würde es ankotzen, wenn jemand über mich behaupten würde, dass ich schwul wäre", soll Ralf Wohlleben gesagt haben. Da sei ihm klargeworden: Das sind nicht meine Leute, erzählt Carsten S. Sehr offen erzählt er von seinem Coming-out, auch von seiner Therapie, von psychosomatischen Problemen. Beate Zschäpe sitzt direkt vor ihm. Sie dreht sich nicht um, zwischendurch betrachtet sie ihre Fingernägel.
Ralf Wohlleben sitzt zwei Plätze neben ihm, manchmal schaut er hinüber zu seinem ehemaligen Kameraden, regungslos, seinen Mund zu einem Strich gepresst. Nachdem Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in den Untergrund gingen, machte Wohlleben Carsten S. zu seinem Verbindungsmann, um Kontakt zu halten. Für S. war das eine Auszeichnung. Er besorgte eigens dafür ein Handy. Vorher habe er das mit RW besprochen. "Sowas habe ich nicht selbst entschieden."
Terroristen wollten deutsche Waffe
Er erledigte ein paar kleinere Aufträge - dann wünschten sich die drei eine Waffe. "Eine Handfeuerwaffe möglichst deutschen Fabrikats mit Munition" hätten die drei gewollt, erzählt Carsten S.
Ob sie gesagt hätten, zu welchen Zweck sie die Waffe wollten?, fragt der Vorsitzende Richter. "Nein." - "Haben Sie nachgefragt?" - "Nein. Ich denke, daran würde ich mich erinnern aber ich habe nicht nachgefragt." - "Haben Sie sich Gedanken gemacht?"
Carsten S. zögert. "Ich versuche das auch in Erinnerung zu bekommen, aber es ist..." Er bricht ab, macht eine Pause. Er habe geglaubt, dass nichts passieren würde, sagt er dann. "Ich hatte so ein positives Gefühl, was die drei anging, dass die in Ordnung wären, so in die Richtung."
Carsten S. trug den Wunsch an Ralf Wohlleben weiter. In seinem Auftrag, so erzählt er, besorgte er die Waffe in einem rechten Szeneladen. Zwar kein deutsches Fabrikat, aber mit Schalldämpfer. "Es gibt nichts anderes", habe der Ladenbesitzer gesagt. Er habe dann die Waffe zunächst Wohlleben gezeigt und sie später nach Zwickau gebracht. Dort hätten ihn "die beiden Uwes" am Bahnhof abgeholt. Beate Zschäpe sei nur kurz zu dem Treffen gekommen und dann wieder gegangen. Anschließend habe er Böhnhardt und Mundlos die Waffe übergeben. Nach allem, was die Ermittler wissen, war es die Pistole der Marke "Ceska", mit der die beiden Neonazis neun Menschen ermordeten. dpa