Der Vater des Kasseler Mordopfers Halit Yozgat schilderte unter Tränen und verzweifelten Klagen wie er seinen 21-Jährigen Sohn in seiner Blutlache fand. Es war einer der emotionalsten Verhandlungstage im NSU-Prozess am Dienstag. Ein hessischer Verfassungsschutzbeamter, der zur Tatzeit am Tatort war, verärgerte das Gericht mit seinen Aussagen.
Vater des neunten Mordopfers der NSU-Terroristen 2006 im Internetcafé erschossen
Halil Yozgat war das neunte Mordopfer des rechtsextremen NSU. Er wurde am 6. April 2006 in seinem Kasseler Internetcafé erschossen. Den Mord durch zwei Kopfschüsse sollen die 2011 durch Suizid verstorbenen NSU-Mitglieder Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos begangen haben. Vor dem Oberlandesgericht München muss sich als einzige Überlebende der Terrorzelle Beate Zschäpe verantworten.
Vater sprang voll Trauer und Wut bei Zeugenvernehmung auf
Der Vater des Mordopfers wandte sich direkt an Zschäpe und die vier mitangeklagten mutmaßlichen NSU-Unterstützer. "Mit welchem Recht haben Sie das getan? Warum haben Sie mein Lämmchen getötet?", fragte Ismael Yozgat. Immer wieder sprang er voll Trauer und Wut bei seiner Zeugenvernehmung auf. Besonders dramatisch schilderte der 58-Jährige, wie er seinen Sohn anzusprechen versuchte. "Er hat keine Antwort gegeben!", schrie der Zeuge verzweifelt auf Türkisch, und dann immer wieder "Keine Antwort!"
Wie Yozgat sagte, war die Familie bis zum Auffliegen des NSU fünfeinhalb Jahre lang falschen Verdächtigungen wegen des Mordes ausgesetzt. "Alle haben uns feindselig angeschaut, sowohl die Deutschen, als auch die Türken. Alle haben uns schlecht behandelt."
Zeuge vom hessischen Verfassungsschutz war während des Mordes im Internetcafé
Als einen der Zeugen vom Tatort befragte das Gericht den hessischen Verfassungsschutzbeamten Andreas T. Dieser befand sich während des Mordes in einer Kabine des Internetcafés und hat nach eigener Darstellung nichts von dem Mord mitbekommen. Von der Staatsanwaltschaft geführte Ermittlungen gegen T. wurden ohne Ergebnis eingestellt.
Die Angeklagten im NSU-Prozess
Das sind die Beschuldigten im Münchner NSU-Prozess:
Beate Zschäpe: Sie tauchte 1998 gemeinsam mit Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt unter, um einer drohenden Festnahme zu entgehen. Die drei Neonazis aus dem thüringischen Jena gründeten eine Terrorgruppe und nannten sich spätestens ab 2001 Nationalsozialistischer Untergrund (NSU).
Ralf Wohlleben: Der ehemalige Thüringer NPD-Funktionär mit Kontakten zur militanten Kameradschaftsszene soll Waffen für das Trio organisiert haben. Der 40-Jährige wurde am 29. November 2011 verhaftet. Nach Ansicht der Ermittler wusste er von den Verbrechen - er ist wegen Beihilfe zum Mord angeklagt.
Carsten S.: Der 35-Jährige hat gestanden, den Untergetauchten eine Pistole mit Schalldämpfer geliefert zu haben. Er ist wie Wohlleben wegen Beihilfe zum Mord angeklagt.
Andre E.: Der gelernte Maurer (35) war seit dem Untertauchen 1998 einer der wichtigsten Vertrauten des Trios und soll die mutmaßlichen Rechtsterroristen zusammen mit seiner Frau regelmäßig besucht haben. E. ist als mutmaßlicher Unterstützer der Gruppe angeklagt.
Holger G.: Der 40-Jährige gehörte wie Wohlleben und die drei Untergetauchten zur Jenaer Kameradschaft. Er zog 1997 nach Niedersachsen um. G. spendete Geld, transportierte einmal eine Waffe nach Zwickau und traf sich mehrfach mit dem Trio. Auch G. ist als mutmaßlicher Unterstützer der Gruppe angeklagt.
Der Beamte war damals für verdeckte Ermittlungen im Bereich des Islamismus und des Rechtsradikalismus verantwortlich. T. schilderte, dass er für wenige Minuten in das Internetcafé gegangen sei, um auf einem Flirtportal zu chatten. Er habe beim Verlassen des Cafés Yozgat nicht angetroffen, erfolglos nach ihm gesucht und schließlich die Gebühr für das Internet-Surfen auf die Theke gelegt.
Verfassungsschutzbeamter meldete sich nicht bei Polizei
Was nach dem NSU-Desaster geschah
Nach dem Auffliegen der rechtsextremen Terrorzelle "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) im November 2011 begann in Deutschland eine mühsame politische Aufarbeitung der Geschehnisse. Nach und nach kamen Detail s zu den Verbrechen ans Licht - und die haarsträubenden Pannen bei der Aufklärung.
13. November 2011: Der Bundesgerichtshof erlässt Haftbefehl gegen die mutmaßliche NSU-Terroristin Beate Zschäpe.
16. Dezember 2011: Als Folge der Ermittlungspannen im Fall NSU wird das Gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus eröffnet. Dort sollen sich die Sicherheitsbehörden ständig über Gefahren aus der rechten Szene austauschen.
27. Januar 2012: Im Bundestag nimmt ein Untersuchungsausschuss zum Fall NSU seine Arbeit auf.
16. Februar 2012: Auch im Landtag von Erfurt startet ein Untersuchungsausschuss, weil das NSU-Trio aus Thüringen stammte.
17. April 2012: Ein Untersuchungsausschuss im Dresdner Landtag macht sich an die Aufarbeitung - in Sachsen war das Trio jahrelang untergetaucht.
2. Juli 2012: Der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, bittet nach den Pannen bei der Aufklärung der NSU-Morde um seine Entlassung.
3. Juli 2012: Auch Thüringens Verfassungsschutz-Präsident Thomas Sippel muss sein Amt aufgeben.
5. Juli 2012: Ein weiterer Untersuchungsausschuss geht im Landtag in München an die Arbeit - in Bayern hatten die NSU-Terroristen die meisten Morde begangen.
11. Juli 2012: Sachsens Verfassungsschutz-Präsident Reinhard Boos tritt zurück.
13. September 2012: Die Pannen rund um die NSU-Morde zwingen auch Sachsen-Anhalts Verfassungsschutz-Chef Volker Limburg aus dem Amt.
19. September 2012: Eine neue Neonazi-Datei geht in Betrieb. Die Sicherheitsbehörden aus Bund und Ländern sammeln darin Informationen über gewaltbereite Rechtsextremisten und deren Hintermänner.
8. November 2012: Die Bundesanwaltschaft erhebt Anklage gegen Zschäpe.
14. November 2012: Berlins Verfassungsschutz-Chefin Claudia Schmid tritt von ihrem Posten zurück.
7. Dezember 2012: Die Innenminister von Bund und Ländern einigen sich auf Reformen beim Verfassungsschutz: Dazu gehören eine zentrale Datei für Informanten des Inlands-Geheimdienstes und einheitliche Kriterien zur Führung dieser V-Leute. Der Informationsaustausch der Ämter in Bund und Ländern soll besser werden.
14. Dezember 2012: Der Schock über die NSU-Verbrechen hat die Debatte über ein NPD-Verbot neu entfacht. Die Länder preschen vor und beschließen im Bundesrat, vor dem Bundesverfassungsgericht ein Verbotsverfahren gegen die rechtsextreme Partei einzuleiten.
20. März 2013: Das Bundeskabinett entscheidet sich dagegen, einen eigenen Verbotsantrag gegen die NPD zu stellen.
März 2013: Das Oberlandesgericht München steht wenige Wochen vor Prozessbeginn in der Kritik: Das Gericht hatte die Presseplätze nach dem Windhund-Prinzip vergeben. Alle türkischen und griechischen Medien gingen leer aus.
4. April 2013: Eklat um den NSU-Prozess: Die türkische Zeitung "Sabah" reicht eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein.
13. April 2013: Die Verfassungsschützer ordnen an, mindestens drei weitere Plätze für ausländische Medien zu schaffen. Das OLG verschiebt den Prozess daraufhin auf den 6. Mai - die Plätze werden im Losverfahren neu vergeben.
Hinter dieser Theke muss zu diesem Zeitpunkt Yozgat erschossen gelegen haben - T. gab an, nichts gesehen zu haben. Nach seiner Schilderung erfuhr er erst drei Tage später über einen Zeitungsbericht von dem Mord. Er habe angenommen, dass er am Mittwoch und nicht am Tattag Donnerstag in dem Internetcafé gewesen sei. Aus diesem Grund sei er nicht zur Polizei gegangen und habe sich nicht als Zeuge bereit gestellt.
Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl hielt dem Zeugen vor, es dränge sich der Verdacht auf, dass dieser sich aus dem Fall raushalten wollte und sich deshalb nicht gemeldet habe. Auf wiederholtes Nachfragen gab T. nur an, wohl aus einem schlechten Gewissen gegenüber seinem Arbeitgeber und seiner Frau wegen des Internetflirts schnell geglaubt zu haben, dass er am Mittwoch in dem Café gewesen sei. Er mache sich seit 2006 auch immer wieder Gedanken, wie er zu dieser Fehleinschätzung gekommen sei. afp/AZ