Mit gemischten Gefühlen blicken viele Angehörige der Mordopfer des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) auf den 17. April. Dann beginnt in München der Prozess gegen die mutmaßliche Neonazi-Terroristin Beate Zschäpe und vier Helfer der Terrorzelle. An diesem Tag werden die Familien, die ihre Liebsten verloren haben, erstmals der Hauptangeklagten ins Gesicht sehen.
"Es ist eine seelische Herausforderung für sie, diesen Prozess zu begleiten", sagt die Ombudsfrau der Bundesregierung, Barbara John. Sie steht fast täglich im Kontakt mit den meist türkischstämmigen Hinterbliebenen. Mehr als 20 von ihnen wollen zum Prozessauftakt am 17. April nach München kommen. "Sie erhoffen sich auch Klarheit."
Semiya Simsek ist die Tochter des ersten Mordopfers Enver Simsek und Nebenklägerin. Das sei für ihre Familie der "letzte Kraftakt". Sie erwarten "wirkliche Aufklärung" und Gerechtigkeit. "Und ich erhoffe mir auch, dass sich die Politik an ihrem Versprechen messen lässt: dass wirklich mit Hochdruck an der Aufklärung gearbeitet wird, so wie Kanzlerin Angela Merkel das gesagt hat", sagt Simsek.
NSU-Mitglieder sollen zehn Menschen getötet haben
Die Mitglieder des NSU sollen zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen umgebracht haben. Über Jahre wurden die Täter vor allem in den Familien selbst gesucht. Seit dem Auffliegen der rechten Terrorzelle Ende 2011 kamen durch die Arbeit der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse mehrere Pannen bei den Sicherheitsbehörden ans Licht.
Zschäpe ist das einzige noch lebende Mitglied des NSU. Ihr wird Mittäterschaft bei allen Verbrechen der Terrorgruppe vorgeworfen. Die anderen Mitglieder und mutmaßlichen Mörder, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, nahmen sich 2011 das Leben, umstellt von der Polizei.
Die juristische Aufarbeitung der NSU-Morde
Der Prozess: Er begann im Mai 2013 vor dem Oberlandesgericht München und kann, so wird geschätzt, bis zu zweieinhalb Jahre dauern.
Die Angeklagten: Auf der Anklagebank sitzen die 38-jährige, in Jena geborene mutmaßliche Rechtsterroristin Beate Zschäpe sowie vier Helfer der Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU).
Die Anklage: Dem NSU werden zehn Morde in den Jahren 2000 bis 2007 angelastet. Acht der Opfer waren türkischer Abstammung, ein Mann war Grieche.
Letztes Opfer war die Heilbronner Polizistin Michèle Kiesewetter.
Alle wurden kaltblütig erschossen, aus nächster Nähe. Hinzu kamen zwei Sprengstoffanschläge mit 23 Verletzten.
Die mutmaßlichen Täter und NSU-Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die sich kurz vor ihrer Festnahme töteten, entkamen immer unerkannt.
Beate Zschäpe, so die Anklage, soll Mitglied der Terrorgruppe gewesen sein.
Das Gericht: Der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts wird auch Staatsschutzsenat genannt. Er ist mit fünf Berufsrichtern besetzt.
Der Senat ist zuständig bei Anklagen wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit und Offenbarung von Staatsgeheimnissen.
2012 hatte er zum Beispiel einen Freispruch gegen einen Journalisten aufgehoben, der den Schauspieler Ottfried Fischer mit einem Sex-Video zu einem Interview genötigt haben soll.
Außerdem werden dort sämtliche Terrorprozesse in Bayern verhandelt. Der Strafsenat verhandelt auch Revisionsverfahren.
Der Vorsitzende: Richter Manfred Götzl hat seine Karriere 1983 als Staatsanwalt begonnen. Er ist dafür bekannt, dass er sich strikt, fast bürokratisch an Regeln hält.
In sieben Jahren als Schwurgerichtsvorsitzender kassierte der Bundesgerichtshof nur ein einziges seiner Urteile.
Nebenkläger: Das Gericht hat 71 Nebenkläger eingeplant, darunter vor allem Angehörige der Mordopfer. (dpa/AZ)
Der Berliner Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler vertritt im Prozess zwei Familien als Nebenkläger. "Es geht ihnen um Gerechtigkeit und Aufklärung", sagt Daimagüler über die türkischstämmigen Frauen, die Vater oder Ehegatten verloren haben. Sie seien aufgeregt, spannungsgeladen sowie entsetzt über die Enthüllungen der vergangenen Monate und die Zugangsprobleme türkischer Medien zum Prozess. "Die Mutter einer meiner Mandantinnen spricht nur rudimentär Deutsch, sie ist darauf angewiesen, aus den türkischen Medien informiert zu werden."
Enttäuscht seien die Familien, dass es keine öffentliche Debatte gab, wie sie die Bundeskanzlerin bei der Trauerfeier vor einem Jahr angekündigt habe, sagt Daimagüler. "Wir müssen über Rassismus reden."
Seine Mandantinnen wollen zum Auftakt des Prozesses kommen, sagt Daimagüler. "Sie wollen sehen, dass das Ganze kein schwarzes Loch ist, dass da Menschen aus Fleisch und Blut hinter den Taten stehen", sagt er über die Hinterbliebenen - sie wollten verstehen, was damals geschah und warum es sie traf. "Sie wollen Gerechtigkeit, indem die Täter für ihre Taten sühnen, also verurteilt werden, und sie wollen Aufklärung, dass sie endlich wissen, wer die Hintermänner waren und welche Rolle möglicherweise die Verfassungsämter da gespielt haben."
Viel Vertrauen verloren gegangen
Es ist viel Vertrauen verloren gegangen in den betroffenen Familien und darüber hinaus. Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, sagt: "Es ist wichtig, dass wir das Vertrauen wieder zurückgewinnen." Gerade das Vertrauen in Polizei und Verfassungsschutz sei fast auf den Nullpunkt gesunken.
Für die Angehörigen, die zum Prozess nach München kommen, werde es bei Bedarf auch psychologische Betreuung geben, sagt John, die lange Jahre in Berlin Ausländerbeauftragte war. Zwischen ihr und den Familien habe sich ein großes Vertrauensverhältnis aufgebaut. Sie unterstützt diese in vielen Fragen und trägt Dinge an die Bundesregierung weiter, die die Familien auf dem Herzen haben.
NSU-Prozess "letzte große Hoffnung"
Lange Jahre durften die Angehörigen nicht Opfer sein, sagt Daimagüler. Ihre rechtschaffenen Ehemänner und Väter habe die Polizei für Verbrecher gehalten. "Was sie erlebten, war, dass Nachbarn die Straßenseite wechselten und sich Freunde abwendeten." John sagt, die Familien fragten sich, warum die Morde nicht verhindert werden konnten und alles erst durch einen Zufall entdeckt wurde.
Unterm Strich seien noch viele Fragen offen, sagt Daimagüler. "Daher ist dieser Strafprozess natürlich unsere letzte große Hoffnung, dass wir wirklich zu einer umfassenden Aufklärung kommen."