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NS-Geschichte: Der „Todesengel von Auschwitz“

NS-Geschichte

Der „Todesengel von Auschwitz“

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    Josef Mengele, der "Todesengel von Auschwitz".
    Josef Mengele, der "Todesengel von Auschwitz". Foto: dpa

    Günzburg Im Frühjahr 1985 läuft die weltweite Fahndung nach Dr. Josef Mengele auf Hochtouren. Der Haftbefehl lautet auf „vieltausendfachen Mord an Juden, Zigeunern, Slawen und anderen Deportierten“, begangen von Mitte 1943 bis Anfang 1945 im NS-Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Auf rund zehn Millionen D-Mark summieren sich die Belohnungen, die von Behörden und Privatpersonen auf die Ergreifung des „Todesengels von Auschwitz“ ausgesetzt sind – die höchste Prämie der Kriminalgeschichte. Ein paar Monate lang ist der nach dem Krieg untergetauchte SS-Lagerarzt der meistgesuchte Mann der Erde.

    Die Frankfurter Staatsanwaltschaft, die seit 1959 unter dem Aktenzeichen 4JS 340/68 gegen den Kriegsverbrecher ermittelt und einer Fülle von Hinweisen aus aller Welt nachgeht, wähnt sich dem gebürtigen Günzburger endlich ganz dicht auf den Fersen. Die Ermittler vermuten, dass sich Mengele in Paraguay aufhält – beschützt von Leibwächtern und einflussreichen Freunden. In jenem südamerikanischen Land also, in dem etliche Nazi-Schergen Unterschlupf gefunden haben. Man habe einen „physischen Beweis“, dass Mengele noch am Leben sei, sagt ein Ermittler.

    Und Simon Wiesenthal, der Leiter des Jüdischen Dokumentationszentrums in Wien, ist sich sicher, dass Mengele („dieses Symbol der Massenvernichtung“) nun doch noch gefasst werden kann. Es kommt ganz anders.

    Briefe aus Brasilien im Tapetenschrank entdeckt

    Den entscheidenden Hinweis liefert eine Hausdurchsuchung in Günzburg, der Heimatstadt Mengeles, die in jenen Monaten des Jahres 1985 unter dem „monströsen Schatten“ (so der damalige Oberbürgermeister Rudolf Köppler) ihres berüchtigten Sohnes leidet und von der internationalen Presse als Hort unbelehrbarer Nazis und zahlreicher Mengele-Helfer vorgeführt wird – ein Zerrbild, das dem Ruf der Stadt und der von Josef Mengeles Vater gegründeten und mittlerweile von seinen Neffen geführten Landmaschinenfabrik Mengele schweren Schaden zufügt. Wahr hingegen ist, dass die Familie – wie sich später herausstellt – den Flüchtigen finanziell unterstützt hat und ein kleiner verschwiegener Kreis früherer Schulkameraden einiges wusste. Vor allem Hans Sedlmeier, der langjährige Prokurist der – 1987 verkauften – Firma, ist im Visier der Fahnder.

    Am 31. Mai 1985 findet die Staatsanwaltschaft in einem Tapetenschrank seines Hauses zahlreiche Briefe Mengeles, auf denen – säuberlich getippt – die Adresse einer im brasilianischen São Paulo lebenden Familie namens Bossert steht. Die Bosserts führen die Mengele-Jäger an ein Grab in Embu, das am 6. Juni unter den Augen der Weltöffentlichkeit geöffnet wird. Mengele sei, wie die Bosserts beteuern, bereits im Februar 1979 beim Baden im Atlantik ertrunken und in Embu beerdigt worden. Eine mit Gerichtsmedizinern besetzte Expertenkommission kommt nach einer Analyse der sterblichen Überreste zu dem Schluss, dass es sich bei dem unter falschem Namen beigesetzten Mann tatsächlich um Mengele handelt.

    Letzte Zweifel und Ungereimtheiten bleiben. Sind die Ermittler womöglich einem Täuschungsmanöver aufgesessen? Und warum hat die Familie den Tod Mengeles sechs Jahre lang verschwiegen? Erst sieben Jahre nach dem Sensationsfund von Embu gelingt dem Frankfurter Oberstaatsanwalt Eberhard Klein ein Beweis, der „über jeden vernünftigen Zweifel“ (Klein) erhaben ist und die anhaltenden Spekulationen um Mengeles Fortleben beendet. Eine Erbgut-Analyse mithilfe einer Blutprobe von Mengeles Sohn Rolf klärt die Identität des Toten von Embu „zu maximal 99,94 Prozent“. Der SS-Verbrecher, der 1949 über Genua nach Südamerika geflüchtet war und seine letzten 18 Jahre in Brasilien verbracht hatte, wird für tot erklärt.

    Unauffällig und in einem kleinen Haus am Ortsrand von São Paulo hat er gelebt, behütet von den Bosserts, unterstützt von seinem Fluchthelfer und Geldboten Sedlmeier. Die von seinem Sohn gestreuten Informationen über den Opernfreund und Blumenliebhaber Mengele wirken wie die Karikatur eines Massenmörders – eines Massenmörders, der nie Reue gezeigt hat und weiter seinen wirren Phantasien über die Überlegenheit der „arischen Rasse“ und der genetischen Züchtung von Menschen nachhing.

    Furchtbare Experimente im Vernichtungslager

    Was bleibt von Mengele, ist das Grauen über seine Verbrechen und die Eiseskälte, mit der er während seiner eineinhalb Jahre in Auschwitz den „Herr über Leben und Tod“ (so eines seiner Opfer) spielte. In Günzburg, wo er heute vor hundert Jahren zur Welt kam, galt der „Beppo“ genannte junge Mann aus gutem Hause als charmanter, umgänglicher Typ und hoffnungsvoller Wissenschaftler. Mengele muss dann während seiner Ausbildung zum Anthropologen und während der Kriegsjahre als Truppenarzt so sehr in den Bann des nationalsozialistischen Rassenwahns gefallen sein, dass er das Mordhandwerk in Auschwitz mit beispielloser Skrupellosigkeit und innerer Gleichgültigkeit betreiben konnte. Er selektierte an der Rampe, schickte Zehntausende mit einer Handbewegung ins Gas. Er quälte und tötete Menschen mit furchtbaren Experimenten – bevorzugt Zwillinge und Kleinwüchsige. Gelegentlich mit einem Lied auf den Lippen und Bonbons in der Tasche, scheinbar bemüht um das Wohl seiner Opfer, weshalb er auch der „Todesengel“ genannt wurde.

    Er nutzte „lebend frisches Material“ für die angebliche Erforschung von Erbkrankheiten. Nachweislich 1500 Zwillingspaare hat Mengele in seinem Labor für seine Zwecke missbraucht – nur 80 bis 100 überlebten die Torturen. Der Name Josef Mengele ist zum Inbegriff eines besessenen, gewissenlosen Forschers geworden, der ohne jede Moral Menschen opfert.

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