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München: Eine Weltstadt mit Schmerz - München nach dem Amoklauf

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Eine Weltstadt mit Schmerz - München nach dem Amoklauf

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    Im Juli hatte ein Amokschütze am Olympia-Einkaufszentrum in München neun Menschen getötet und sich dann selbst erschossen.
    Im Juli hatte ein Amokschütze am Olympia-Einkaufszentrum in München neun Menschen getötet und sich dann selbst erschossen. Foto:  Karl-Josef Hildenbrand, dpa (Archiv)

    Einige Kunden wird Sevil Koc-Kinzel nie mehr in ihrem Friseursalon begrüßen können. Sie wird nie mehr mit ihnen über Formen und Farben diskutieren, über das Wetter und das Oktoberfest; nie mehr am Ende fragen, ob sie etwas Gel ins Haar schmieren soll.

    Nur ihre Gesichter, die kann sie jeden Tag noch sehen, auf den Fotos, die zwischen Teddybären und Grablichtern vor dem Olympia-Einkaufszentrum liegen. Dem OEZ, wie die Münchner sagen. Vor fast fünf Monaten, am 22. Juli, hat ein 18-jähriger Amokläufer hier im Stadtteil Moosach neun Menschen getötet. Und noch immer liegen die Fotos der Opfer an diesem Ort. Was sind schon fünf Monate?

    Bald ist Weihnachten

    Sevil Koc-Kinzel, dunkle Augen, braune Brille, steht an der Kasse ihres Salons und vergibt Termine. Ihre schwarzen feinen Haare reichen ihr bis zur Schulter. Im Hintergrund surrt der Föhn und klappert eine Schere. Bald ist Weihnachten, da möchte natürlich jeder zum Fest schön sein.

    Der 22. Juli 2016, ein Freitagabend. Koc-Kinzel wird diesen Tag nie vergessen. „Wir waren gerade mit unseren Kunden beschäftigt, als Leute an unserem Geschäft vorbeigerannt sind und schrien: Raus, der schießt!“ Sie macht einen Schritt aus ihrem Geschäft heraus. „Da“, sagt sie und zeigt auf den Gang, wo gerade Menschen an den Schaufenstern entlangschlendern. „Von da sind die Schüsse gekommen.“

    Dann sei alles ganz schnell gegangen. Kollegen und Kunden rannten durch den Nordausgang des Einkaufszentrums zu einem nahe gelegenen Parkplatz, auf dem sich bereits Polizisten positioniert hatten. „Wir dachten, dort sind wir am sichersten“, erzählt Koc-Kinzel. Das waren sie.

    Die Kunden kommen wieder ins OEZ

    Und doch hat das Drama die Friseurin schwer mitgenommen. Sie erlitt einen Hörsturz. Heute, sagt sie, gehe es ihr besser. Und die Kunden, die teilweise monatelang das OEZ gemieden haben, kämen in der Vorweihnachtszeit auch langsam wieder. Jetzt, wo an jedem Pfeiler des zweistöckigen Einkaufszentrums ein mannshoher Plastik-Christbaum steht, festlich geschmückt mit goldenen Kugeln und Lichterkette. Von der Decke baumeln große goldene Sterne. In einem Schaufenster am Eingang grinst ein lebensgroßer Weihnachtsmann aus Bauklötzen die Besucher an. Wie es zu dieser Jahreszeit in einer Shoppingmeile üblich ist.

    Vor ein paar Wochen hat OEZ-Manager Christoph von Oelhafen in einem Interview gesagt, er habe immer noch den Eindruck, dass weniger Kunden zum Einkaufen kommen als vor dem Attentat. Nachfragen kann man in diesen Tagen nicht, er macht gerade Urlaub.

    Wegen Amoklauf sind Luftballons verboten

    Bei allen Versuchen, wieder zur Normalität zurückzukehren, hat das Management in einem Punkt doch etwas geändert: Luftballons sind derzeit verboten. Sollte einer platzen, könne das die Mitarbeiter wieder an den Amoklauf erinnern, hat von Oelhafen dies begründet. Er sagt: „Wir wollen nach und nach erreichen, dass das OEZ wieder als das wahrgenommen wird, was es früher war.“ Als ein Einkaufszentrum, in dem schon die Großeltern eingekauft haben.

    Wenn das so einfach wäre. Was sind schon fünf Monate?

    In einer Malecke sitzen Mütter an der Seite ihrer Kinder, sie basteln zusammen Papier-Christbäume. Kaum vorstellbar, dass genau hier im Juli Menschen um ihr Leben gerannt sind. Was genau an jenem Tag passiert ist, weiß die Mitarbeiterin eines Bekleidungsgeschäfts, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, nur aus Erzählungen und den Medien. Ausgerechnet an diesem Tag hatte sie frei. Welch ein Zufall. Welch ein Glück.

    Damals hat die junge Frau mit den langen blonden Haaren und den rot geschminkten Lippen gleich an ihre Kollegin denken müssen, die zu diesem Zeitpunkt im Laden stand. „Ich habe mehrfach versucht, sie anzurufen, vergeblich“, sagt sie. Erst am Tag darauf, am Samstagvormittag, kam die erlösende Nachricht: Der Kollegin geht es gut. Sie hatte ihr Handy im Laden liegen lassen, als sie durch den Notausgang ins Freie geflüchtet war. Dem anfänglichen Schock ist Zuversicht gewichen: „Man muss positiv denken. So etwas kann überall passieren.“

    Horror professionell aufarbeiten oder verdrängen

    Manche Mitarbeiter haben den Horror mit professioneller Hilfe aufgearbeitet. Andere versuchen wiederum, durch Verdrängen mit dem traumatischen Ereignis fertig zu werden. Fragt man beispielsweise den Kellner eines Cafés, bekommt man als Antwort: „Es hat keinen Sinn, darüber zu reden. Das ist Vergangenheit“, sagt er und wischt mit einem feuchten Lappen über den Tresen.

    Gleiches in einem Lebensmittelgeschäft. Eine Verkäuferin schüttelt den Kopf und wendet sich wieder der Kundschaft zu. In einem Brillengeschäft lassen Mitarbeiter, die an jenem Freitag Dienst hatten, über ihre Kollegen ausrichten: „Wir wollen nicht mehr darüber sprechen.“

    Als Hubertus Andrä in den Tagen nach dem Amoklauf von Pressekonferenz zu Pressekonferenz eilte, als er vor einem Berg an Fragen stand, weil wenn jemand das Unerklärliche erklären kann, dann doch er – da gab es so kurze Momente, in denen der Eindruck entstand, ihm reicht es jetzt auch. Der Münchner Polizeipräsident hat dann trotzdem tapfer Antworten gegeben, selbst zu einem Zeitpunkt, als so vieles noch unklar war. Solche Tage gehen ja auch an einem Sicherheitsprofi nicht spurlos vorüber.

    Ein Jahr mit unglaublich vielen Einsätzen

    Gestern Mittag sitzt er in Dienstuniform im Münchner Presseclub zwei Dutzend Journalisten gegenüber. In zwei Wochen ist Silvester. Ein guter Zeitpunkt, um auf das Jahr zurückzublicken. Einem Jahr mit unglaublich vielen Einsätzen. Natürlich geht es auch um den Amoklauf. Der so prägend war für die ganze Stadt.

    Da sitzt Andrä also und erzählt. Darüber etwa, wie er von der Schreckensnachricht erfahren hat: „Ich war mit Führungskräften am Tegernsee, als ein Kollege einen Anruf bekommen hat, in München seien Schüsse gefallen.“ Umgehend haben sie sich ins Auto gesetzt und sind zum Tatort gefahren.

    Der Polizeipräsident plaudert mit gefalteten Händen und ruhiger, fester Stimme. Das ganze Land hat ihn so kennengelernt, als damals die Pressekonferenzen live im Fernsehen übertragen wurden. Neben ihm sitzt der Polizeisprecher Marcus da Gloria Martins. Tagelang war vor allem er das Gesicht und die Stimme der Münchner Polizei. Kameras, Mikrofone und Scheinwerfer waren auf ihn gerichtet.

    Medienrummel wegen Amoklauf

    Gestern ist das anders: Er überlässt seinem Chef das Wort. Nur als da Gloria Martins auf seine Leistung in der Nacht des Amoklaufs und auf den Medienrummel um ihn angesprochen wird, antwortet er knapp: „Die eigentliche Dienstleistung passiert auf der Straße.“ Das muss reichen.

    2300 Polizisten waren an jenem Tag im Einsatz, darunter Spezialeinheiten und Beamte aus anderen Bundesländern, ja sogar aus dem Ausland. Andrä sagt heute: „Der Einsatz im OEZ hat uns ganz massiv gefordert.“

    Und dann waren da noch all die anderen Einsätze. Angefangen hat es schon in der Silvesternacht mit einer Terrorwarnung, stundenlang war der Hauptbahnhof gesperrt. Im Herbst kam dann die Wiesn. Dann die anderen Einsätze, die Fußballspiele etwa. Andrä sagt: „Die Einsatzbelastung war und ist enorm hoch, aber die Motivation der Kollegen auch.“ Er geht davon aus, dass es im kommenden Jahr nicht besser oder leichter wird. Da kämen dann noch die politischen Veranstaltungen im Vorfeld der Bundestagswahl dazu, die ganzen Kundgebungen. Jetzt erst einmal Silvester. Ein kribbeliger Termin mit Blick auf die Geschehnisse vor einem Jahr in Köln.

    Und das alles, wo doch die Amoknacht von Moosach selbst nach knapp fünf Monaten noch nicht ganz aufgearbeitet ist. Mit betroffenen Kollegen sprechen, ihre Erfahrungen und Eindrücke aufnehmen, Twitter-Nachrichten auswerten – all das braucht eben Zeit.

    Die Bilder vom Amoklauf gehen nicht aus dem Kopf

    Der Amoklauf in München – kein anderes Ereignis hat die Stadt 2016 so geprägt. Verständlich, dass es viele am liebsten ganz aus ihrem Leben streichen würden. So wie die Verkäuferin eines Schmuckladens im OEZ. Die Bilder im Kopf, sie seien ständig da, sagt sie und fügt hinzu: „Ich will mir den Tag nicht in Erinnerung rufen.“

     Entsprechend ist sie auch nicht zum Plaudern aufgelegt. Dann sagt sie noch, dass die Kollegin, die an dem Tag Dienst hatte, nicht mehr da sei. Und auch ihr Leben habe sich geändert. „Ich meide den Haupteingang und die Straße davor. Und in den McDonald’s werde ich nie wieder gehen.“ Weil: „Der ist immer brechend voll. Ich kann das nicht verstehen.“

    Bei McDonald's begann der Amoklauf

    Der McDonald’s. Hier, schräg gegenüber des Einkaufszentrums, begann der Amoklauf. Hier starben die ersten fünf Menschen. Das Video, das den Täter zeigt, wie er aus dem Schnellimbiss stürmt, seine Waffe zückt und auf Passanten schießt, lief im Fernsehen rauf und runter. Nach der Tat blieb die Filiale erst einmal geschlossen. Anfang Oktober öffnete sie wieder – in rundum neuer Aufmachung.

    Die Inneneinrichtung in Holzoptik wirkt modern. Im Eingangsbereich wählen die Kunden ihr Menü mithilfe eines elektronischen Bestellsystems aus. Natürlich erinnert hier nichts mehr an die Gewalttat. Reden will auch niemand mehr darüber.

    Mehrere Gedenkstätten

    Und doch lässt sich das alles nicht ausblenden. Mehrere kleinere Gedenkstätten, die noch immer vom McDonald’s bis zu den Treppen der U-Bahn-Station reichen, erinnern an die Opfer. Grablichter und heruntergebrannte Teelichter bedecken den Gehweg, rotes und weißes Wachs klebt auf den Pflastersteinen. Verwelkte Blumen stehen in Vasen auf dem Boden. Ein Bild wie vor fünf Monaten. Die Anteilnahme, sie ist geblieben. Dazwischen haben Angehörige Bilderrahmen mit den Fotos der getöteten Jugendlichen drapiert, außerdem ein Foto der letzten SMS-Nachricht an eines der Opfer. Um 1.32 Uhr schrieb ein Freund: „Ich mach mir langsam Sorgen um dich. Wo bist du? Melde dich bei mir bitte. Ich hab Angst.“ Zwei Sträuße weißer Rosen umrahmen die kleine

    Kerzen, Blumen und Plakate vor dem Einkaufszentrum

    Auf der anderen Straßenseite, direkt vor dem OEZ, sieht es nicht anders aus: Kerzen, Blumen und Plakate liegen vor den Stufen, die ins Einkaufszentrum führen. Plastikfolien umhüllen Fotos, um sie vor der Witterung zu schützen. Der Regen hat das Fell der Teddybären verfilzt. Im Sekundentakt rasen Autos vorbei. Das Leben hält nicht an.

    Einige Passanten bleiben dann doch stehen. Der Blick einer älteren Dame fällt auf das Foto eines Jugendlichen. „Alle waren so jung. Sie hatten noch ihr ganzes Leben vor sich“, murmelt sie. Dann geht sie mit gesenktem Kopf weiter.

    Was sind schon fünf Monate?

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