Heimtücke und "hinrichtungsgleiche" Morde: Am zweiten Tag des NSU-Prozesses hat die Bundesanwaltschaft nach stundenlangem juristischem Gezerre ihre Anklage mit drastischen Tatbeschreibungen verlesen. Aus rechtsextremistischen Motiven sollen die Terroristen des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) demnach zehn ihnen völlig unbekannte Menschen ermordet haben. Am helllichten Tag betraten die Täter die Läden ihrer arg- und wehrlosen Opfer und schossen ihnen ohne Vorwarnung aus nächster Nähe in den Kopf.
Die gestorbenen NSU-Mitglieder Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos sowie die Hauptangeklagte im Prozess, Beate Zschäpe, hätten ihre Opfer - vornehmlich türkischer Herkunft - willkürlich ausgewählt, sagte Bundesanwalt Herbert Diemer am Dienstag vor dem Oberlandesgericht (OLG) München. Ziel der Terrorzelle: die Verunsicherung ausländischer Mitbürger - und die Schwächung des Vertrauens in den Staat. Diemer sprach nach dem Prozesstag von einem "einheitlichen, aufeinander eingeschworenen Tötungskommando aus drei Personen".
Keine sichtliche Regung bei Zschäpe
Zschäpe hörte aufrecht sitzend und ohne sichtliche Regung zu. Die 38-Jährige, diesmal im hellgrauen Hosenanzug und mit Pferdeschwanz, wirkte angespannter als beim Prozessauftakt in der Vorwoche. Sie ist der Mittäterschaft angeklagt - ihr droht lebenslange Haft wegen zehnfachen Mordes.
Detailliert schilderte der Bundesanwalt die einzelnen Morde: wie Böhnhardt und Mundlos neun Geschäftsmänner türkischer und griechischer Herkunft mit der Pistole der Marke "Ceska" erschossen und eine Polizistin ermordeten. Von einigen Opfern machten sie Fotos.
Anklage: Zschäpe maßgeblich beteiligt
Böhnhardt und Mundlos nahmen sich später selbst das Leben, um der Verhaftung zu entgehen. Zschäpe sei an Planung und Vorbereitung der Morde maßgeblich beteiligt gewesen, argumentierte Diemer. "Als Gründungsmitglied einer Kerngruppe, die ihre nationalsozialistisch geprägten rassistischen Vorstellungen unterschiedslos teilte und deren einzige Zweckbestimmung die Tötung von Menschen war, wusste die Angeklagte dies und wollte auch in jedem Einzelfall den Erfolg."
Den Vorwurf der Mittäterschaft gründet die Bundesanwaltschaft vor allem darauf, dass Zschäpe Böhnhardt mehrmals bei der Anmietung von Wohnmobilen begleitet und sich an der Beschaffung von Waffen beteiligt habe. "Wir sehen sie als gleichberechtigtes Mitglied eines Tötungskommando", sagte Oberstaatsanwältin Anette Greger und sprach von "verabscheuungswürdigen Taten".
Über die Morde hinaus macht die Anklage den NSU verantwortlich für zwei Sprengstoffanschläge in Köln, bei denen mindestens 23 Menschen schwer verletzt wurden. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl zog in Erwägung, das Verfahren in einem der Fälle abzutrennen, denn gerade hier könnten sich noch viele Nebenkläger melden - dies würde das Hauptverfahren zu stark belasten. Schon jetzt ist die Zahl der Nebenkläger insgesamt auf 86 gestiegen, vertreten durch 62 Anwälte.
Die Mitangeklagten Ralf Wohlleben und Carsten S. sollen die "Ceska" beschafft haben, mit der Böhnhardt und Mundlos töteten. Ihnen wirft die Bundesanwaltschaft Beihilfe zu neun Morden vor. André E. sei dem NSU unter anderem bei der Beschaffung von Wohnmobilen behilflich gewesen. Holger G. habe Dokumente und Ausweise beschafft, um den drei NSU-Terroristen ein Leben in der Illegalität zu ermöglichen, sagte Diemer.
Anträge von Verteidiger und Opfer-Vertreter
Verteidiger und Opfer-Vertreter hatten zuvor diverse, sich teils entgegenstehende Anträge gestellt, und sie setzten dieses Prozedere auch nach der Anklage-Verlesung fort. Zschäpes Verteidiger forderten eine Aussetzung des Verfahrens und einen Neustart in einem größeren Saal. Die Nebenklage-Vertreter wollten die zügige Verlesung der Anklage und warfen der Verteidigung Prozessverschleppung vor. Nicht angesprochen wurde der am Montag bekanntgewordene Antrag eines Nebenklägers, das Kreuz im Gerichtssaal abzuhängen.
Den Antrag von Zschäpes Anwälten lehnte das Gericht ab. "Strafverfahren finden in, aber nicht für die Öffentlichkeit statt", sagte der Vorsitzende Richter Manfred Götzl, der sich mehrfach Wortgefechte mit Zschäpes Verteidiger Wolfgang Heer lieferte. Bis zum Nachmittag wurde die Sitzung mehr als ein halbes Dutzend Mal unterbrochen, oft schon nach wenigen Minuten. Nach dem Prozesstag gaben sich die Zschäpe-Anwälte dann allerdings ungewohnt wortkarg und wollten sich nicht äußern.
Sechs Opfer-Angehörige nahmen laut OLG am Dienstag an dem Verfahren teil - am ersten Prozesstag (6. Mai) waren es noch 26 gewesen. Die Opfer-Angehörigen erwarten vom NSU-Prozess nicht nur einen Nachweis der Schuld der Angeklagten - sondern auch Aufklärung darüber, welche weiteren Unterstützer es gab und welche Rolle V-Leute, verdeckte Ermittler und andere Mitarbeiter der Nachrichtendienste spielten. "Die Anklage war noch mal belastend für die ganze Familie. Es ist jetzt wichtig, dass in der Sache verhandelt wird", sagte Opferanwalt Sebastian Scharmer.
Auch der Andrang des Publikums ebbte am zweiten Verhandlungstag ab. Vor dem Gericht warteten nur einzelne Besucher auf frei werdende Plätze. Das Verfahren war am Dienstag nach einwöchiger Unterbrechung fortgesetzt worden. Grund waren inzwischen abgelehnte, am ersten Verhandlungstag gestellte Befangenheitsanträge gegen Richter Götzl.
Beate Zschäpe: Im gepanzerten Konvoi zum NSU-Prozess
Zum zweiten Verhandlungstag war die Hauptangeklagte Zschäpe am Morgen wieder mit einem gepanzerten Fahrzeug aus der Justizvollzugsanstalt Stadelheim zum OLG gefahren worden. Rund 350 Beamte sollten im Einsatz sein. Anders als am ersten Prozesstag waren laut Polizei keine Demonstrationen angekündigt. Auch aus dem rechten Lager gebe es keine Hinweise auf Aktionen. dpa/lby/AZ