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Memmingen: Prozess-Beginn: Schüsse eines 14-Jährigen, die niemand versteht

Memmingen

Prozess-Beginn: Schüsse eines 14-Jährigen, die niemand versteht

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    Sondereinsatzkräfte laufen am Dienstag (22.05.2012) nahe dem Sportplatz von Memmingen/Steinheim (Schwaben). Ein Schüler, der in einer Schule einen Schuss abgegeben hatte, hatte sich in der Nähe verschanzt. Archivbild
    Sondereinsatzkräfte laufen am Dienstag (22.05.2012) nahe dem Sportplatz von Memmingen/Steinheim (Schwaben). Ein Schüler, der in einer Schule einen Schuss abgegeben hatte, hatte sich in der Nähe verschanzt. Archivbild Foto: Karl-Josef Hildenbrand dpa

    Normalerweise sind die Sachen feinsäuberlich verpackt, rund ein Dutzend beschriftete, braune Päckchen, verteilt auf zwei beschriftete, braune Kartons. Ordentlich und unscheinbar sieht das dann aus, als wäre eine gute Umzugsfirma am Werk gewesen.

    Auch heute sieht es ordentlich aus, wie der Inhalt der Päckchen auf dem Tisch arrangiert ist. Unscheinbar sind die nebeneinander angeordneten Gegenstände allerdings nicht. In der blank polierten, knapp 30 Zentimeter langen Klinge des Bajonetts spiegelt sich das Deckenlicht. Daneben: eine schwarze Luftpistole, Marke Walther, eine belgische FN mit Holzgriff, Kaliber 22 lfB, sowie eine Ceska Zbrojovka, Modell 75 – eine halbautomatische Pistole, Kaliber 9 mm. Eine „ordentliche Ausrüstung“ sei das, sagt der Leitende Oberstaatsanwalt Johann Kreuzpointner in leicht bitterem Tonfall.

    Es ist der 22. Mai 2012, als die Waffensammlung, die nun im Dachgeschoss des Landgerichts Memmingen liegt, von Spezialkräften der Polizei sichergestellt wird. Der Tag, an dem ein 14-Jähriger mit den Waffen seines Vaters in die Memminger Lindenschule geht und einen Amok-Alarm auslöst. Und auch wenn die Staatsanwaltschaft dazu bislang offiziell keine Angaben macht: Es spricht vieles dafür, dass es vor allem die CZ 75 ist, die gefährlichste der drei sichergestellten Pistolen, aus der an jenem Tag die meisten Schüsse fallen – zunächst einer in der Mittelschule, später viele weitere auf einem Sportplatz im Stadtteil Steinheim. Ein am Lauf befestigter gelber Zettel weist darauf hin, dass die Waffe von Experten des Landeskriminalamtes (LKA) untersucht worden ist. 

    Die Anklage lautet auf versuchten Totschlag in zwölf Fällen

    Am morgigen Dienstag beginnt vor der großen Jugendkammer des Landgerichts Memmingen der Prozess gegen den heute 15-Jährigen. Angeklagt ist er unter anderem des versuchten zwölffachen Totschlags. Fünf Verhandlungstage sind angesetzt, knapp 80 Zeugen hat die Staatsanwaltschaft benannt, zudem fünf Sachverständige. Denn obwohl der Tathergang weitgehend unbestritten ist, sind zu den Hintergründen zwei wesentliche Fragen offen, die das Gericht nun klären muss. Zum einen: Was treibt einen 14-Jährigen zu solch einer Tat? Und: Hat er in Kauf genommen, dass bei den Schüssen jemand zu Schaden kam?

    In der Memminger Lindenschule verdeckt nach wie vor ein brauner Hochflorteppich das Einschussloch im Boden des Eingangsbereichs zur Mensa. Er liegt da wie ein Pflaster auf einer Wunde. „Wir haben ihn extra nicht weggenommen“, sagt Rektor Franz Schneider. „Wir wollen schließlich kein Gedenk-Loch.“

    Am 22. Mai ist es etwa 12.30 Uhr, als der Rektor den Notfallplan in Kraft setzt, weil in der Schule ein Schuss gehört wurde. Lehrer verbarrikadieren sich daraufhin mit ihren Schülern in den Klassenzimmern, später durchkämmen Polizisten die Mittelschule – Bilder, die unwillkürlich an Winnenden oder Emsdetten erinnern.

    In den ersten Tagen nach der Tat hat Schneider dann viel gesprochen, vor allem mit der Presse. Über den Notfallplan, der damals so gut funktioniert habe, und über jenen 14-jährigen Schüler, den er selbst unterrichtet hat und den er nach eigenen Worten eigentlich „sehr schätzte“.

    Heute spricht Schneider eher ungern über damals, und wenn er es doch tut, dann hört man deutlich die Sorge heraus, dass die ganzen Geschehnisse wieder hochkochen könnten. Obwohl mehrere Schüler in den ersten Tagen Hilfe in Anspruch genommen hätten, habe man die Situation an der Schule schnell beruhigen können, sagt Schneider. Doch die Erzählungen von Klassengesprächen und Elternbriefen, Einzelgesprächen mit Psychologen, Pädagogen und Beratungslehrern, Gesprächskreisen und Supervisionsgruppen lassen erahnen, wie kraftraubend die Zeit nach der Tat war.

    Hinzu kommt, dass nicht alle Beteiligten die Vorgänge gleich gut verarbeitet haben. Noch immer gebe es einige wenige Lehrer und Schüler, die Hilfe in Anspruch nehmen, sagt Schneider: „Bei manchen ist es doch tiefer reingegangen, als es von außen den Anschein macht.“ Einige von ihnen sind nun im Prozess als Zeugen geladen.

    Gegen 20 Uhr, kurz bevor es dunkel wird, greift die Polizei an jenem 22. Mai zu drastischeren Mitteln. Seit rund zweieinhalb Stunden haben die Einsatzkräfte hinter Fahrzeugen und Holzstapeln zugesehen, wie sich der Junge, der sich nach dem Vorfall in der Lindenschule auf dem Sportplatz verschanzt hat, eine Waffe an den Kopf hält und aus einer anderen rund 70 Schüsse abfeuert. Nun schießen sie zurück. Es ist ein Warnschuss, gezielt in den Boden vor dem Jungen. Er zeigt Wirkung. Um 20.08 Uhr gibt der Bub auf und wird festgenommen, verletzt wird niemand.

    Einschusslöcher in Polizeiautos belasten den Jungen schwer

    Am nächsten Morgen sichern Experten die Spuren rund um den Sportplatz. Einschusslöcher finden sich in der Fassade des Sportheims, in den Banden und laut Anklage in mehreren Polizeiautos. Vor allem Letztere werden beim Prozess eine entscheidende Rolle spielen. Die Staatsanwaltschaft sieht die Einschusslöcher als klares Indiz dafür, dass die Schüsse gewollt und gezielt abgegeben wurden – die Grundlage für die Anklage des versuchten Totschlags in zwölf Fällen. Auswertungen des LKA und die Aussagen der Polizisten sollen belegen, dass es „bei mindestens zwölf Beamten knapp war“, wie Kreuzpointner sagt – „so knapp, dass es vom Zufall abhing, ob die Beamten getroffen wurden oder nicht“. Sieht das Gericht das ebenso, droht dem Schüler laut Jugendstrafrecht eine Haftstrafe von bis zu zehn Jahren.

    Anja Mack gilt am Memminger Landgericht als erfahrene Verteidigerin. Doch obwohl die 44-jährige Fachanwältin für Strafrecht stets um einen professionellen Ton bemüht ist, klingt hin und wieder durch, wie sehr der Fall sie auch emotional berührt. Als sie ihrem Mandanten am Tag nach der Tat im Memminger Amtsgericht das erste Mal begegnet, sei der „wie ein gehetztes Tier“ gewesen, erzählt sie.

    Noch am selben Tag wird der 14-Jährige in einer Jugendpsychiatrie untergebracht. Ein Gutachter trifft sich in den kommenden Wochen mehrfach mit ihm und erklärt den Jungen schließlich zwar als behandlungsbedürftig, aber voll schuldfähig. Ende September wird der inzwischen 15-Jährige in die Justizvollzugsanstalt Laufen-Lebenau (Landkreis Berchtesgadener Land) verlegt.

    Das Motiv ist auch acht Monate nach der Tat noch unklar

    Mit der Aussage des Angeklagten bei Prozessbeginn am kommenden Dienstag könnte endlich die Frage nach dem Warum beantwortet werden. Das Motiv ist auch acht Monate nach der Tat unklar. Zwar gibt es zunächst Hinweise auf ein schwieriges persönliches Umfeld. Gleichzeitig berichten aber Lehrer, Mitschüler und Nachbarn von einem unauffälligen und beliebten Jungen – gute Noten, keine Vorstrafen und keine Anzeichen für Mobbing oder eine Außenseiterrolle.

    Zwei Wochen nach den Schüssen entschuldigt sich der Junge über unsere Zeitung offiziell für seine Tat. Und: Er räumt ein, dass neben mehreren persönlichen Dingen aus der Vergangenheit auch Liebeskummer ein Auslöser für die Tat gewesen sei. Am Tag vor der Tat soll seine Freundin mit ihm Schluss gemacht haben. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass der Junge das Mädchen in der Mensa treffen wollte.

    Volkratshofen, der Wohnort des Angeklagten, liegt etwa fünf Kilometer südlich von Memmingen – knapp 1400 Einwohner, ein Kindergarten, mehrere Vereine. Es sei ein friedliches Dorf, ein heiles Dorf, sagt Wolfgang Nieder – und genau deswegen sei das damals wohl auch so ein Aufruhr gewesen, als die Nachricht aus Memmingen kam. Nieder wohnt zwar nicht selbst in

    Eine Woche nach der Tat durchsuchen Polizeikräfte das Elternhaus des Jungen. Bei der Razzia stellen die Beamten zwölf Lang- und 15 Kurzwaffen sicher, die im Waffenraum des Vaters im Keller gelagert waren. Zwar ist der Raum mit einer Stahltüre gesichert, für die große Zahl der darin gelagerten Waffen ist das jedoch zu wenig. Darüber hinaus finden die Polizisten bei der

    Gegen den damals 53-Jährigen wird daraufhin ein Verfahren wegen Verstößen gegen das Waffen- und das Sprengstoffrecht eingeleitet. Allerdings räumen auch die Behörden Fehler ein: So hätte der Tresorraum bereits 2003 geräumt werden müssen. Damals war sogar vor Ort kontrolliert worden.

    Nach der Verschärfung des Waffengesetzes infolge des Amoklaufs von Winnenden waren der Sportschütze 2010 – wie auch die 750 weiteren Personen mit Waffenbesitzkarte im Bereich der Stadt Memmingen – schriftlich aufgefordert worden, erneut die ordnungsgemäße Unterbringung ihrer Waffen nachzuweisen. Der Vater war dem damals auch korrekt nachgekommen: Er schickte eine Fotostrecke des Kellers an die Stadt. Dass er nicht ausreichend gesichert ist, wird auch diesmal nicht erkannt.

    Welche Konsequenzen die Versäumnisse des Vaters letztendlich haben, ob sie als vorsätzlich oder fahrlässig bewertet werden, ist noch unklar. Die Ermittlungen hierzu sind noch nicht abgeschlossen. Vieles wird davon abhängen, was der Sohn im Prozess aussagen wird. Wie der Junge an die Waffen kam, ist bisher nur vage bekannt. Die Ermittler gehen davon aus, dass der Junge das elektronische Zahlenschloss des Safes manipulierte, um so den Schlüssel für den Waffenraum zu erhalten.

    Unterricht und Gespräche im Gefängnis

    Die Justizvollzugsanstalt Laufen-Lebenau bietet Platz für knapp 200 Häftlinge. Männliche Straftäter und Jugendliche in Untersuchungshaft unter 17 Jahren sind hier untergebracht. Im Jugendstrafrecht ist festgelegt, dass bei heranwachsenden Straftätern dem Erziehungsgedanken eine besondere Bedeutung zukommt. Besonders großer Wert werde daher auf die Aus- und Weiterbildung gelegt, heißt es auf der Homepage des Bayerischen Justizvollzugs.

    Auch der 15-Jährige besucht laut seiner Anwältin seit seiner Verlegung den Unterricht. Ende des Schuljahres will er den Qualifizierenden Hauptschulabschluss machen und dann eine Lehre anfangen. Er habe nach wie vor Kontakt zu ehemaligen Mitschülern und erhalte regelmäßig Besuch – auch von seinen Eltern, zu denen er in den ersten Monaten keinen Kontakt hatte. Daneben führe er Gespräche mit einem Sozialarbeiter. „Er arbeitet an sich“, sagt Mack. „Er will die Probleme angehen, die zu der Tat geführt haben.“

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