Früher habe er ohne Kontaktlinsen Fernsehen gucken oder mit seinem Kind spielen können - heute gehe das nicht mehr. Weil ein heute 37 Jahre alter Friseurmeister am falschen Auge operiert wurde, kann er nur noch schlecht sehen. Vor dem Oberlandesgericht (OLG) München stritt er am Donnerstag um Schmerzensgeld und die Frage, ob der Operateur auch für zukünftige Schäden aufkommen muss. Eine Entscheidung werde aber erst am 9. Januar verkündet, sagte der Richter.
Falsches Auge abgeklebt: Operateur operiert das gesunde Auge
Der Fall an sich sei schnell erzählt, eröffnete der Richter die Verhandlung. 2015 sollte der Friseurmeister wegen einer Hornhautverkrümmung am linken Auge operiert werden. Der Anästhesist klebte bei der Vorbereitung versehentlich das falsche Auge ab, was dem Operateur jedoch nicht auffiel, so dass er das gesunde Auge operierte. Dessen Sehkraft habe mit Kontaktlinsen vorher bei 90 Prozent gelegen, jetzt seien es ohne Hilfsmittel nur noch 10 Prozent, sagte der Kläger im Gericht. Mit Linsen komme er immerhin auf etwa 50 Prozent.
Nach der Verhandlung beschrieb der Mann, wie er im Aufwachraum seine Augen betastete und dachte: "Das kann doch nicht sein." Der Arzt sei zu ihm gekommen und habe sich entschuldigt. "Aber was bringt das?" Zuerst habe ihm die Versicherung 2000 Euro angeboten.
Das Landgericht München hatte dem Patienten dagegen insgesamt 70.000 Euro Schmerzensgeld und 21.000 Euro Schadenersatz zugesprochen. Doch zum einen fordert der Mann 100.000 Euro Schmerzensgeld, zum anderen, dass die Versicherung des Arztes auch für zukünftige Schäden aufkommt - schließlich habe der 37-Jährige noch mindestens sein halbes Leben vor sich.
Kompliziert wird es bei der Entscheidung, was aus dem Ärztefehler folgt. Denn das erste Urteil des Landgerichts sei nicht klar formuliert, findet die Anwältin des Mannes, Claudia Thinesse-Wiehofsky. Auch die Richter des OLG ließen erkennen, dass sie das ähnlich sehen. Laut der Anwältin schreibt es fest, dass dem Mann weiteres Schmerzensgeld für nicht vorhersehbare Folgen des Eingriffs zustehe. Eine mögliche Erblindung sei aber im juristischen Sinne vorhersehbar. Das eingesetzte Hornhautimplantat habe einem Sachverständigen zufolge eine Haltbarkeit von höchstens 30 Jahren. Niemand könne jedoch wissen, ob der Körper des dann 62-Jährigen danach ein weiteres Implantat annehme. Falls nicht, würde er erblinden, bekäme aber kein weiteres Geld, sagte die Anwältin. "Und das kann ja nicht sein."
Einen Vergleich lehnten beide Seiten ab. Dem Anwalt des Arztes zufolge verklagt dieser seinerseits den Anästhesisten, weshalb man eine Entscheidung des Gerichts brauche.
Streit um Schmerzensgeld: Arzt und Patient lehnen Vergleich vor dem OLG ab
Wie viele Behandlungsfehler es pro Jahr gibt, dazu gehen die Zahlen auseinander, denn eine offizielle Statistik existiert nicht. Schätzungen gehen von bis zu 100.000 Fällen pro Jahr aus. Die Bundesärztekammer kam für 2018 in ihrer Zählung auf 1499 Fehler, die medizinischen Dienste der Krankenkassen auf 3497. Doch die Dunkelziffer ist nach Expertenmeinung hoch.
Die Deutsche Stiftung Patientenschutz hat bereits mehrfach ein bundeseinheitliches Zentralregister angemahnt. Darin müssten neben den ärztlichen Behandlungsfehlern auch alle Fehler in der Pflege erfasst werden, sagte Vorstand Eugen Brysch. Er warf Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) Versäumnisse vor. Die Bundesregierung habe sich etwa in Sachen Härtefallfonds nicht bewegt. "Offensichtlich stehen Patientenrechte beim Bundesgesundheitsminister hintenan", sagte Brysch.
Die meisten Beschwerden gab es laut Ärztekammer nach Behandlungen von Knie- und Hüftgelenksarthrosen, Oberschenkelbrüchen und Bandscheibenschäden. Insgesamt gibt es den Angaben zufolge allerdings jährlich 20 Millionen Behandlungen in Kliniken und eine Milliarde Arztkontakte in Praxen. Gemessen daran liege die Zahl der festgestellten Fehler "im Promillebereich", hatte der Vorsitzende der Konferenz der Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen, Andreas Crusius, bei der Vorstellung der Zahlen im Frühjahr betont. (dpa/lby)