Herr Hartmann, Sie nennen sich „Oppositionsführer“, seit die Grünen zweitstärkste Fraktion im Landtag geworden sind. Früher haben sich die Grünen immer mächtig darüber aufgeregt, wenn der Fraktionschef der SPD sich so genannt hat. Sie empfanden das als Anmaßung. Ist es nicht vielleicht eine?
Ludwig Hartmann: Es kommt doch nicht darauf an, ob man zweitstärkste Kraft im Landtag ist. Es kommt darauf an, ob man ein alternatives politisches Kraftzentrum zur Regierung ist. Aus dem inhaltlichen Gegenspieler wird der Oppositionsführer. Und das sind zweifellos wir Grüne. Wenn ich mir diesen schwarz-orangen Lückentext anschaue, dann kommt in den nächsten Monaten jede Menge Arbeit auf uns zu.
Sie meinen den Koalitionsvertrag zwischen CSU und Freien Wählern.
Hartmann: Ja, genau. Da steht nichts darüber drin, wie wir in Bayern zu einer giftfreien Landwirtschaft kommen können oder zu einem wirksamen Artenschutz oder zu einer besseren Landesplanung oder zu mehr Chancengerechtigkeit. Das Problem der Kinderarmut kommt in der Koalitionsvereinbarung nicht einmal vor.
Aber immerhin bekennen sich die Koalitionspartner zu dem Ziel, den Flächenverbrauch auf fünf Hektar pro Tag zu begrenzen. Das war Ihre Forderung. Da könnten Sie doch auch ein bisschen zufrieden sein?
Hartmann: Das sind wir aber nicht. Die fünf Hektar sind nur ein Richtwert, eine unverbindliche Absichtserklärung. Das haben wir in Bayern gefühlt seit zwei Jahrzehnten. Seit 2003 gibt es ein Bündnis zum Flächensparen. Bis heute ist nichts besser geworden – im Gegenteil! Nur einen Richtwert zu benennen, ohne zu sagen, wie man da konkret hinkommt, ist Augenwischerei. Und das zieht sich wie ein schwarz-oranger Faden durch die gut sechzig Seiten Koalitionsvertrag: möglichst keine Vorgaben machen und keine verpflichtenden Ziele formulieren, stattdessen in allem auf Freiwilligkeit setzen. Das funktioniert nicht.
Warum soll das nicht funktionieren? Es ist doch besser, wenn alle freiwillig mitmachen.
Hartmann: In der Theorie vielleicht, aber in der Praxis nicht. Ich würde hier auch nicht von freiwillig sprechen, sondern von unverbindlich. Das trifft es besser. Alle Fortschritte, die wir in der Vergangenheit im Naturschutz und in der Landesplanung hatten, wurden durch staatliche Vorgaben erreicht, nie durch Unverbindlichkeit. Nur so konnten Autos mit Katalysatoren ausgestattet, FCKW aus dem Kühlschrank verbannt und der Zustand der Gewässer wenigstens etwas verbessert werden. Aber bei der CSU ist das so: Am Sonntag reden sie alle vom Flächensparen und am Montag betonieren sie wieder. Wenn es anders wäre, hätte das alles nicht passieren dürfen mit diesen riesigen Logistikhallen und extrabreiten Umgehungsstraßen. Da ist Schwaben übrigens Spitzenreiter. Da werden Umgehungsstraßen schon wie Autobahnen ausgebaut – mit vier Spuren und Doppelkreiseln. Eigentlich sind die Behörden gehalten, sparsam mit Flächen umzugehen. Aber keiner hält sich an den Richtwert, weil es halt nur ein Richtwert ist.
Das hat sich auch jetzt wieder gezeigt.
Hartmann: Richtig. Der Flächenverbrauch ist im letzten Jahr um 20 Prozent gestiegen, obwohl erst kurz zuvor eine verschleiernde Berechnungsgrundlage geschaffen wurde. Naturzerstörung lässt sich eben nicht schönrechnen!
Staatliche Vorgaben, verpflichtende Ziele – die CSU geißelt euch deshalb als Verbotspartei.
Hartmann: Das ist doch ein Schmarrn. Es geht um Regeln. Was ist denn das Gegenteil von Regeln? Wenn wir keine Regeln hätten, dann hätten wir Anarchie. Bei der inneren Sicherheit können es für die CSU gar nicht genug Regeln sein. Wir reden hier davon, dass unser Ökosystem vor einer Katastrophe steht. Wir reden vom Schutz unserer Lebensgrundlagen. Wenn Tier- und Pflanzenarten aussterben, die Gewässer in schlechtem Zustand sind, unsere Grundwasserspiegel sinken – ja, da muss ich doch sagen, da greife ich regelnd ein. Oder wie geht es jetzt weiter mit Mikroplastik? Da geht mit Freiwilligkeit nix. Da wird man der Kosmetikindustrie irgendwann sagen müssen: Das gehört nicht ins Duschgel! Eben genauso, wie man früher mal die Bleibatterien vom Markt gebracht hat. Das ist Aufgabe der Politik.
Was kann eine Oppositionspartei da bewirken?
Hartmann: Wir können Probleme benennen, für Mehrheiten kämpfen und Lösungskonzepte vorlegen. Das haben wir in den vergangenen fünf Jahren gemacht. Das werden wir weiter tun. Der Ministerpräsident tut das nicht. Es ist die große Schwäche von Markus Söder, dass ihm jede Vision fehlt, wie Bayern sich bis 2030 entwickeln soll. Er hat keine große Linie und keine Leitplanken. Darüber sollte er mal mit Alois Glück oder anderen verdienten CSU-Politikern reden.
Die Grünen haben sich im Landtag bisher thematisch eher die Rosinen herausgepickt. Jetzt ist Ihre Fraktion um 27 neue auf 38 Abgeordnete gewachsen. Sehen Sie die Grünen auf dem Weg zur Volkspartei?
Hartmann: Den Vorwurf der Rosinenpickerei lasse ich nicht auf uns sitzen. Sie können politisch nur etwas bewegen, wenn ein Thema in der Öffentlichkeit diskutiert wird und sich ein Problembewusstsein entwickelt hat. Das ist der Moment, in dem man Konzepte vorlegen und Lösungen anbieten muss. Als klar wurde, dass es ein Insektensterben gibt, haben wir ein Artenschutzgesetz vorgelegt. Und das ist nur ein Beispiel. Ich könnte aus der vergangenen Legislaturperiode mehr als 20 solcher Beispiele aufzählen.
Trotzdem noch einmal die Frage. Die Grünen sind im Landtag deutlich stärker geworden. Können die Grünen eine Volkspartei werden?
Hartmann: Volkspartei ist für mich der falsche Ausdruck. Ich sehe uns eher als Vollsortimentpartei. Wir haben uns da in der Vergangenheit vieles erarbeitet, etwa bei der inneren Sicherheit und in der Sozialpolitik. Das werden wir fortsetzen. Wir werden Konzepte vorlegen, um Armut zu bekämpfen, ländliche Regionen zu stärken, kleine Schulen und Krankenhäuser zu erhalten, Ortskerne zu retten. Wir haben bei der Wahl nicht nur in den Städten, sondern auch in ländlichen Gebieten deutlich zugelegt. Das ist ein Vertrauensvorschuss. Wir müssen zeigen, dass wir eine Partei fürs ganze Land sind. Wir werden deshalb das Thema Landesplanung noch mehr in den Fokus nehmen.
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