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Lesetipp: Gepflegt, gebildet, obdachlos: Zwei Menschen erzählen von ihrem Schicksal

Ein trauriges Bild, das gerade in Großstädten oft zu sehen ist: Ein Obdachloser schläft in Decken und Schlafsäcke gehüllt unter einem Verbotsschild mit der Aufschrift "Lagern verboten".
Foto: Tobias Hase, dpa
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Gepflegt, gebildet, obdachlos: Zwei Menschen erzählen von ihrem Schicksal

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    Keiner würde es ihr ansehen. Denn sie passt nicht ins Bild. Überhaupt nicht. Pulli, Weste, Hose – alles gepflegt. Die Haare gut geschnitten. Eine feine ältere Dame. Freundlich lächelnd setzt sie sich an den Tisch, über dem zwei weiße, blütenförmige Lampen hängen. Ein paar Zettel hat sie dabei. Handschriftlich beschrieben. Darauf das, was sie sagen will. Doch dann beginnt sie einfach so zu erzählen. Von ihrem Leben. Von früher. Als alles noch anders war. Ganz anders. Als sie in einem großen Haus mit wunderbarem Garten in einem Augsburger Stadtteil lebte. Zusammen mit ihrer Mutter. Wer sie sprechen hört, merkt schnell: Sie ist eine sehr gebildete Frau. Kunstpädagogin war sie. Doch seit Weihnachten wohnt sie hier, teilt sich das Zimmer mit drei fremden Frauen. In einem Übergangswohnheim für Obdachlose.

    Wie konnte es nur so weit kommen? Wie kann ein Mensch so abstürzen? Die 70-Jährige, die ihren Namen an dieser Stelle nicht lesen will, besitzt nur noch so viel, wie in einen Spind passt. Ein paar Sachen hat sie bei einem früheren Bekannten in der Garage abgestellt, erzählt sie. Nicht viel. „Ich habe alles verloren“, sagt sie leise und senkt ihren Blick auf die Hände, die in ihrem Schoß liegen. „Mein ganzes Leben. Ich schäme mich so.“

    Auf dem Karlsplatz in Ulm steht seit Ende Dezember ein „Ulmer Nest“. Ein Behältnis, das Obdachlosen im Winter einen Wetterschutz bieten soll. Menschen, die in kein Übergangswohnheim gehen, die ansonsten im Freien schlafen und zu erfrieren drohen.
    Auf dem Karlsplatz in Ulm steht seit Ende Dezember ein „Ulmer Nest“. Ein Behältnis, das Obdachlosen im Winter einen Wetterschutz bieten soll. Menschen, die in kein Übergangswohnheim gehen, die ansonsten im Freien schlafen und zu erfrieren drohen. Foto: Alexander Kaya

    Nichts mehr zu haben außer dem, was man am Leib trägt und was in ein, zwei Taschen, vielleicht einen kleinen Koffer passt, dieses Schicksal teilt die 70-Jährige mit vielen. „Die Zahl der Obdachlosen steigt“, sagt Robert Kern. Der 60-Jährige leitet den Fachausschuss für Wohnungslosenhilfe in der Landesarbeitsgemeinschaft der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege Bayern und den Fachbereich Wohnen und Unterbringung der Stadt Augsburg. Exakte Zahlen gebe es nicht. „Weil die Dunkelziffer sehr, sehr hoch ist.“ Nicht nur in Bayern. Berlin lässt die Obdachlosen gerade zählen.

    Die tiefe Scham der Betroffenen macht die Hilfe oft so schwierig

    Kern schätzt, dass es in Bayern etwa 16.000 sind. Tendenz steigend. Die Hauptursache dafür sieht er in dem angespannten Wohnungsmarkt mit seinen teils extrem steigenden Mieten. Seiner Ansicht nach verlieren immer mehr Menschen ihre Wohnung, da sie zu wenig verdienen, um die Mieten aufbringen zu können. „Obdachlosigkeit ist auch eine Kehrseite des wachsenden Niedriglohnsektors“, sagt Kern, der nur eine Lösung sieht: „Bauen. Und zwar schneller und einfacher. Wir brauchen viel mehr bezahlbare Wohnungen.“

    Damit allein ist es aber nicht getan. Wer Kern in seinem Büro im Jakobsstift in Augsburg besucht, umgeben von zahlreichen Anlaufstellen für in Not geratene Menschen, der erfährt viel vom Leben der Menschen, die oft alles dafür tun, dass man über sie nichts weiß. Die tiefe Scham der Betroffenen ist nach Einschätzung von Kern ein Hauptgrund, warum es bei vielen so kompliziert ist zu helfen. Vor allem der Anteil der Frauen ist seiner Ansicht nach schwer einzuschätzen, „weil Frauen in der Regel mit Obdachlosigkeit anders umgehen als Männer“. Frauen vertuschten ihre Notlage meist sehr viel länger als Männer. Sie schlüpften oft über Jahre bei verschiedenen Leuten unter – „bis wirklich nichts mehr geht“.

    Obdachlos in der Jugend: Für Kinder wird es zur Hölle

    Leidtragende sind in sehr vielen Fällen nicht nur die Frauen selbst, sondern vor allem die Kinder. Die steigende Zahl der Kinder in Notunterkünften und Obdachlosenheimen gehört zu Kerns größten Sorgen. „Denn Obdachlosigkeit stigmatisiert.“ Wer nicht im eigenen Zuhause wohnt, sondern in Häusern, von denen oft bekannt ist, dass dort Wohnungslose leben, muss mit Ausgrenzung rechnen. Und Spott. Ein schon für Erwachsene schwer ertragbarer Zustand. Für Kinder könne er zur Hölle werden.

    Gerade Obdachlose mit Hunden gehen nicht in die Übergangswohnheime, sondern leben - und betteln - auf der Straße.
    Gerade Obdachlose mit Hunden gehen nicht in die Übergangswohnheime, sondern leben - und betteln - auf der Straße. Foto: Anne-Sophie Siemons, dpa

    Wer denkt, dass in erster Linie Menschen mit Migrationshintergrund betroffen sind, irrt, sagt Kern. Es sind auch allein erziehende Mütter, die nach dem Ende einer Beziehung aus der gemeinsamen Wohnung müssen. Frauen, die Gewalt erfahren haben und fliehen. Menschen, die arbeitslos werden. Menschen, die krank sind. „Psychische Erkrankungen nehmen bei obdachlosen Frauen und Männern eine immer größere Rolle ein, auch Suchterkrankungen“, sagt Kern.

    Mit ihrer schweren psychischen Erkrankung begann auch für die 70-Jährige, die nun im Augsburger Übergangswohnheim lebt, der Abstieg. Bruchstückhaft schildert sie ihren Leidensweg. Den tragischen Unfall ihrer Mutter vor vielen Jahren. Die Pflege der Mutter. Ihre eigene Erkrankung. In einer schweren psychotischen Krise, in der sie davon überzeugt gewesen sei, bald zu sterben, habe sie dann alles, Haus und Geld, einfach verschenkt. Da war sie Anfang 60. Was folgte, waren etliche Aufenthalte im Bezirkskrankenhaus. Die Klinik konnte sie zwar immer wieder verlassen, „doch verloren hatte ich längst alles“.

    Die 70-Jährige hat alles verloren

    Still ist es in dem Aufenthaltsraum, als die 70-Jährige erzählt. Immer wieder füllen sich ihre Augen mit Tränen. „Ich bin ein Mensch, der durch alle Raster fällt.“ Martina Kobriger hört ihr aufmerksam zu. Sie ist die Geschäftsführerin des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) Augsburg, dem Träger des Übergangswohnheims. Immer wieder erfährt sie von solchen Schicksalen. Tief bewegt ist sie dennoch. Auch Nina Holzmann und Astrid Mittelstedt, die im Übergangswohnheim arbeiten, haben die Frau ins Herz geschlossen. Doch bleiben kann sie auf Dauer nicht. Darauf ist das Haus, das auf finanzielle Spenden angewiesen ist und in dem 25 Frauen zwischen 18 und 70 Jahren leben, nicht ausgelegt. Auch wenn viele sehr lange dort wohnen, wie Holzmann einräumt. „Weil es einfach nirgends einen Platz für sie gibt.“Ursula Fusco hilft Augsburgern in Wohnungsnot

    Menschen wie der 70-Jährigen wäre mit einer Wohnung allein allerdings noch nicht geholfen. „Sie braucht aufgrund ihrer schweren psychischen Erkrankung eine Betreuung“, sagt Holzmann. Für Frauen wie sie wünscht sich Kobriger ein eigenes Haus. „Denn gerade die Zahl der älteren obdachlosen Frauen steigt. Es ist eine oft verborgene große Not.“ Da sterbe im Alter der Partner, dann kann die Miete nicht mehr bezahlt werden, oft kommen Depressionen dazu „und bis sie sich vergucken, müssen Ältere aus ihrer Wohnung raus“. Kobriger hofft, dass bei der Realisierung nicht nur die Stadt helfen könnte, sondern auch die neue „Stiftung Obdachlosenhilfe Bayern“.

    Eine neue Stiftung soll Projekte für Obdachlose fördern

    Eins der beiden "Ulmer Nester" steht am Alten Friedhof.
    Eins der beiden "Ulmer Nester" steht am Alten Friedhof. Foto: Alexander Kaya

    Neue Projekte zu fördern, das sieht Johanna Rumschöttel tatsächlich als eine der Aufgaben der neuen Stiftung an, in deren Vorstand sie berufen wurde. Die 73-jährige SPD-Politikerin aus dem Landkreis München bringt viel Erfahrung im Kampf gegen Obdachlosigkeit mit. Sie zu reduzieren, ist seit Jahrzehnten eines ihrer Hauptanliegen, erzählt sie. Für Rumschöttel ist es vor allem eine landesweite Aufgabe: „Über Jahrzehnte wurden die Obdachlosen auf dem Land einfach in die Großstädte geschickt. Das hat sich zum Glück etwas geändert. Immer mehr Kommunen sehen es mittlerweile als ihre Aufgabe an, zumindest auch günstigere Wohnungen zu schaffen.“

    Eine für Rumschöttel unverzichtbare Maßnahme, die aber nicht ausreicht. „Noch immer bekennen sich zu wenig Kommunen dazu, dass es bei ihnen wirklich Obdachlosigkeit gibt. Es ist noch viel zu oft eine Klientel, die man einfach am Ort nicht haben will.“ So leicht lässt sich Obdachlosigkeit nicht beseitigen. „Tee und Suppe zu bringen und ein paar Decken, damit ist es nicht getan.“ Weil die Problemlagen dieser Menschen zu komplex sind. Daher habe es sich die neue Stiftung vor allem zur Aufgabe gemacht, das Netz unter in Not geratenen Menschen zu verdichten. Es werde ja schon sehr viel getan, es gebe zahlreiche Hilfsangebote, doch gelte es, diese besser zu verzahnen.

    Eine Gruppe, die Rumschöttel große Sorgen bereitet, ist die steigende Zahl an Tagelöhnern aus nicht EU-Ländern. Sie heuerten gerade in München auf dem „Arbeitsstrich“ an, „meist am Bau“. Versichert seien sie oft nicht. Eine Wohnung hätten sie auch oft nicht. Eng wird es für sie, wenn etwas passiert. Ein Unfall. Eine schwere Erkrankung.

    Das erlebt Dr. Philipp Groha immer wieder. Der Kardiologe und Leiter des Notfallzentrums im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in München behandelt seit Jahren auch Obdachlose. Zum einen, weil er sich seit 25 Jahren im Bayerischen Roten Kreuz engagiert, zum anderen, weil sich der Orden der Barmherzigen Brüder besonders der Hilfe von Menschen am Rande unserer Gesellschaft verschrieben hat. So unterhält der Orden seit langem eine mobile Straßenambulanz zusammen mit dem katholischen Männerfürsorgeverein. Doch die Versorgung reicht oft nicht. Viele Obdachlose sind schwer krank. „Es ist keine Frage: Wer als Obdachloser in eine Notaufnahme kommt, wird behandelt.“ Doch auf den Kosten blieben oft die Kliniken sitzen. Groha wandte sich daher an Rumschöttel mit einer Idee: Gut wäre ein Fonds, der für die ärztliche Behandlung Obdachloser aufkommt, die nach exakter Prüfung auf diese Hilfe angewiesen sind.

    "Ulmer Nester": Ein Holzkasten in einem Park in Ulm als Notlösung

    Der 40-jährige Ulmer wäre wohl so ein Fall. Geweckt wird er an diesem kalten, nassen, windigen Morgen von der Soziologin Lisa Dürr. Sie klopft auf das Dach des „Ulmer Nests“. Ein kleines Gehäuse – etwa 2,7 auf 1,4 Meter – aus Holz und Stahlblech, das zwischen Bäumen am Karlsplatz in Ulm steht. Es soll Obdachlosen im Winter ein Wetterschutz sein. Eine Notlösung für Menschen, die in kein Heim gehen, sondern im Freien schlafen – und dort zu erfrieren drohen, erklären die Sozialarbeiter der Caritas Ulm/Alb-Donau Hannah Böck und Norman Kurock. Ein Pilotprojekt. Lisa Dürr von der Uni Kassel begleitet es wissenschaftlich. Sie will herausfinden, ob, wie und von wem es genutzt wird. Aufgestellt wurden die beiden „Nester“ Ende Dezember. Die Kritik kam prompt. Manche erinnern sie an Särge. Der 40-Jährige, der darin schläft, sieht das anders.

    Freundlich öffnet er das „Nest“, das von innen abschließbar ist. Auch mit seinen über 1,90 Metern passe er gut hinein. Schon öfter habe er dort übernachtet. Für ihn eine gute Neuerung. Im Innern liegt sein Schlafsack, stehen sein Rucksack, seine Tasche und ein paar Bierdosen. Dass er alkoholkrank ist, daraus macht er keinen Hehl. Eine Entziehungskur habe er gemacht. Doch er wurde rückfällig. Vor allem seit drei Jahren sei es schlimm mit dem Alkohol. Seit der gelernte Koch seine Arbeit verloren hat. Eins kam zum anderen. Schulden. Ein kurzer Gefängnisaufenthalt wegen einer Geldstrafe. Am Ende verlor er sein Zimmer. Seit November lebt er auf der Straße. In ein Wohnheim will er nicht. „Ich bin ein Einzelgänger.“ Auch um Ämter mache er einen Bogen. Ihm ist bewusst, dass man ihm dort helfen will, „aber ich bin noch nicht so weit“.

    Die Frage, wie es weitergeht, verdränge er, sagt er offen. Wer mit ihm spricht, erlebt einen reflektierten, interessierten, höflichen Menschen. Einen, der versucht durchzukommen. Mit seiner schwarzen Jacke, der Jeans, der graublauen Mütze, dem gepflegten Bart fällt er nicht weiter auf in der Stadt. Bevor er sich an diesem Tag aufmacht, ein Plätzchen zu finden, wo man ihn verweilen lässt, wo er im besten Fall ein bisschen lesen kann, putzt er noch gründlich mit einem Taschentuch über seine Schuhe. Dass er obdachlos ist, das soll ihm niemand ansehen.

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