Noch ein paar Tage. Nicht viel länger. So lange hätte ihr Körper vermutlich noch gekämpft. Auf den Beinen konnte sie sich nur noch schwer halten. Die Farbe ihrer Haut hatte sich bereits verändert. Auch die ihrer Augen. Sie litt kaum mehr zu ertragende Schmerzen. Das viele Wasser in ihren Füßen machte ihr das Laufen fast unmöglich. Doch sie zwang sich. Irgendetwas in ihr gab doch noch nicht auf. Irgendetwas in ihr ließ sie doch das Haus verlassen und zum Hausarzt gehen.
Als man sie dort sah, war klar, dass sie sofort in eine Klinik musste. Ihr Anblick war erschütternd. Doch gesehen hatte sie ja schon lange niemand mehr. Corona und der damit verbundene Lockdown machten ein Verstecken einfach. Auch ein Verhungern. 36 Kilo wog sie noch. Die 28-Jährige wäre im Frühjahr beinahe verhungert. Mitten in Augsburg. Weil sie nicht mehr konnte. Weil sie nur noch verschwinden wollte. Verpuffen. Sich auflösen. "Wie eine Wolke", sagt sie.
Es lief perfekt - dann wurde ihr alles zu viel
Dabei hatte sie schon so viel erreicht. Vieles, wovon andere in ihrem Alter noch träumen. Sie war nach ihrem Studium sofort beruflich erfolgreich durchgestartet. Hatte einen Partner, eine Penthousewohnung. Freunde. Sie war immer aktiv, immer fröhlich. Es lief perfekt.
So schien es zumindest. Doch dann beginnt ihr alles zu entgleiten. Es wird ihr alles zu viel. Der Job. Das damit verbundene Pendeln. Die Einrichtung der Wohnung. Die Treffen mit Freunden. Alles. In ihrer Not kündigt sie ihre Arbeitsstelle. Wird auf der neuen aber nicht glücklich. Hat plötzlich viel Zeit. Weiß aber nichts mit ihr anzufangen. Zieht sich zurück. Unzufrieden mit sich. Sie spürt, dass sie immer kraftloser wird. Freudloser. Als sie es eines Abends nicht einmal mehr schafft, mit ihrem Freund zusammen das neue Bett aufzubauen, kommt es auch da zum Bruch. Von einer Stunde auf die andere sitzt sie allein in der Wohnung – und kann mit Weinen nicht mehr aufhören.
Es beginnt ein einsamer Kampf. Ein Kampf, der ganz im Verborgenen ausgefochten wird. Über ihre Seelenpein spricht sie mit niemandem. Zu sehr habe sie sich geschämt, erzählt sie. Zu stark sei das Gefühl gewesen, versagt zu haben. Alles falsch gemacht zu haben. Alles verloren zu haben. Nichts mehr zu können. Nichts mehr wert zu sein. Es ist eine zerstörerische Selbstmarter, die ihr schnell jede Energie raubt. Selbst die zum Essen. Sie lässt es einfach. "Ich sah auch im Essen keinen Sinn mehr", erinnert sie sich.
So tief traurig sie im Innern war, so fröhlich gab sie sich nach außen: Fragte jemand nach ihr, schminkte sie sich, zog sich hübsch an, strahlte und postete ein Foto von einer glücklichen jungen Frau. Zu schön war dieses Bild. Auch für sie selbst. Konnte sie sich doch selbst nicht erklären, was mit ihr los war. Das erfuhr sie erst in der Klinik. Im Bezirkskrankenhaus Augsburg.
Das Hungern, die Essstörung, hat sie entwickelt, weil sie an einer Depression erkrankt war. An einer sehr schweren Depression. Die Krankheit ließ in ihr den Wunsch wachsen, sterben zu wollen. "Ich könnte mich nie umbringen", gesteht die junge Frau am Telefon. "Ich habe aber auch keinen Ausweg mehr gesehen." Sich langsam aufzulösen, erschient ihr, so hart das klingt, als die praktikabelste Lösung. "Denn ich wollte nicht mehr leben."
Depressionen gehören zu den häufigsten Krankheiten
So wie der heute 28-Jährigen geht es vielen. Ihren Namen möchte sie nicht in Berichten lesen, weil die Krankheit noch immer stigmatisiert. Dabei sind Depressionen eine Volkskrankheit. Depressionen gehören nach Angaben der Deutschen Depressionshilfe zu den häufigsten und hinsichtlich ihrer Schwere am meisten unterschätzten Erkrankungen. "Eine Depression ist eine schwere, oft lebensbedrohliche und dringend behandlungsbedürftige Erkrankung", erklärt die Depressionshilfe. Allein in Deutschland seien derzeit 11,3 Prozent der Frauen und 5,1 Prozent der Männer erkrankt. Frauen leiden damit etwa doppelt so häufig an Depression wie Männer. Und für viele geht die Krankheit tödlich aus: Etwa 90 Prozent der Suizide erfolge vor dem Hintergrund einer psychiatrischen Erkrankung – am häufigsten einer unzureichend behandelten Depression.
Erkranken kann jeder. In jedem Alter. Häufig sind es Menschen wie die junge Frau aus Augsburg, sagt Professor Alkomiet Hasan. Der Ärztliche Direktor des Bezirkskrankenhauses Augsburg und sein Team behandeln oft junge Erwachsene, die noch im Studium sind, in der Ausbildung, am Beginn ihres Berufslebens. Die eigene Erwartungshaltung ist in dieser Zeit oft besonders hoch. Man will alles schaffen. So schnell wie möglich. Schließlich leben wir in einer Leistungsgesellschaft. Und es seien oft gerade die Leistungsstarken, die erkranken. Sie vergleichen sich mit anderen. Geben Gas.
"Wer allerdings die Veranlagung zu Depressionen hat, läuft dann Gefahr, schnell die ersten Anzeichen einer Erkrankung zu übersehen", weiß Hasan. Viele arbeiteten und arbeiteten, kommen gar nicht mehr zur Ruhe, können nicht mehr schlafen, sind extrem gereizt – "das kann über Monate gehen, über Jahre". Eine Depression entstehe nicht von einem Tag auf den anderen. "Man kann sich das vorstellen wie bei einem Sportler", erklärt der Psychiater: "Er merkt eigentlich schon, dass es zwickt im Knie, in der Hüfte, aber er rennt weiter." Bis der Zusammenbruch kommt, der Sturz in ein tiefes Loch.
Erkranken können schon Kinder. Bei Kindern im Vorschulalter liege die Häufigkeit bei etwa einem Prozent. Im Grundschulalter seien weniger als zwei Prozent betroffen, bei Jugendlichen zwischen zwölf und 17 Jahren drei bis zehn Prozent – im Schnitt zwei Schüler je Klasse, hat die Depressionshilfe errechnet. Doch leicht zu erkennen ist die Erkrankung nicht immer. Schon gar nicht bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. "Bei jungen Erwachsenen beobachten wir ganz oft, dass weitere Erkrankungen zu der Depression noch dazukommen", erklärt Hasan. Essstörungen etwa, Borderline-Störungen oder Abhängigkeiten von Suchtmitteln wie Alkohol oder Cannabis.
Auch bei Kindern sind es meist nicht allein die für Erwachsene oft üblichen Anhaltspunkte wie etwa eine lang anhaltende tief gedrückte Stimmung, Interessen- und Antriebslosigkeit, die auf eine Depressionserkrankung hinweisen können, erklärt die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Julia Ebhardt von der Deutschen Depressionshilfe. Nicht selten ist ihr zufolge eine gereizte Stimmung bei den sehr jungen Patienten zu beobachten. "Auch hinter vermehrten Computerspielen beispielsweise, einer plötzlichen Verschlechterung der Noten kann eine Depression stecken." Eltern rät sie, generell auf Verhaltensänderungen zu achten und das Kind darauf anzusprechen. Nicht vergessen dürfe man, dass Depressionen oft vererbt werden. "Meistens liegt eine gewisse Veranlagung in der Familie vor", sagt Ebhardt. Äußere Faktoren wie eine Trennung der Eltern, der Tod eines Angehörigen, der Wegzug eines Freundes könnten dann die Krankheit auslösen. Manchmal reichten kleine Veränderungen. "Oft findet man aber auch keinen konkreten Auslöser."
Positiv beurteilt Ebhardt, dass die Zahl der Behandlungen von Depressionen steigt. Denn daraus kann man ihres Erachtens nicht eine generelle Zunahme der Erkrankung ableiten. "Wir gehen vielmehr davon aus, dass die Krankheit öfter und früher erkannt und dann auch behandelt wird." Es sei aber auch festgestellt worden: Je früher die Krankheit auftritt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie immer wiederkommt. "Depressionen sind aber sehr gut behandelbar", betont die Expertin. Und eine Behandlung ist das A & O. "Denn die Erkrankung ist schwer auszuhalten", erklärt die Therapeutin. Das Selbstbild der Betroffenen sei in der Regel so schlecht, dass die Patienten – egal in welchem Alter – oft nur noch ein Schatten ihrer selbst sind.
So war es auch bei der jungen Augsburgerin. Wer ihr am Telefon zuhört, kann nicht glauben, dass diese so freundliche, so offen und lebhaft erzählende Frau ihren Tod herbeigesehnt hat. Noch immer befindet sie sich in Behandlung. Dabei fiel ihr der Schritt dazu wie vielen Betroffenen unendlich schwer. Das Eingeständnis, professionelle Hilfe zu brauchen und auch anzunehmen, ist nicht selten ein langer, ein steiniger Weg. Auch für die Angehörigen.
Ihre Familie ahnte die Depression schon früh
Sowohl ihre Schwester als auch ihre Mutter hatten früh den Verdacht, dass sie an einer Depression erkrankt sein könnte, erzählt die 28-Jährige. "Doch ich war überzeugt davon, dass mir niemand helfen kann, weil ich doch selbst an allem schuld war. Dass ich schwer krank sein könnte, daran habe ich gar nicht gedacht." Vielmehr habe sie versucht, alles zu vertuschen. "Denn vor allem wollte ich niemandem zur Last fallen." Schließlich hat sie früh gelernt, selbstständig zu sein. "Ich war immer die Starke", erzählt sie. "Das Vorzeigekind. Ich habe immer alles organisiert. Plötzlich die Schwache zu sein, die Kranke, diejenige, die Hilfe braucht, das war für mich ganz, ganz schlimm." Nur mit erheblichem Widerstand lässt sie sich von ihrer Schwester in die Notaufnahme fahren.
Angehörigen von Depressionspatienten wird oft viel Geduld abverlangt. "Doch sie spielen eine ganz wichtige Rolle", betont Psychiater Hasan und ergänzt: "Angehörige sollten die Betroffenen vor allem motivieren, sich helfen zu lassen. Ihnen anbieten, Sie zu begleiten." Leicht ist das aber oft nicht. Zumal die Angehörigen sich oft selbst mit Schuldgefühlen herumplagen und nicht selten überfordert sind. Die Experten der Depressionshilfe raten Angehörigen, sich nicht nur einen ärztlichen Rat zu holen. Auch eine Selbsthilfegruppe entlastet viele. Vor allem aber ist es wichtig, sich über die Krankheit zu informieren.
Wo Menschen mit Depressionen Hilfe finden
- Informationen über Depression für junge Menschen und deren Familien und Freunde finden sich auf dem Portal Fideo.
- Eine E-Mail-Beratung von Jugendlichen für Jugendliche ist unter u25-deutschland.de möglich.
- Beratungsstellen vor Ort findet man mithilfe des Portals Dajeb.
- Auch die Nummer gegen Kummer, das Kinder- und Jugendtelefon 116 111, ist eine gute Anlaufstelle, um sich zumindest einmal alles von der Seele zu reden.
Unabhängig vom Alter helfen diese Anlaufstellen weiter:
- Viele Informationen finden sowohl Betroffene als auch Angehörige bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe; dort gibt es auch einen Selbsttest, der dabei helfen will, eine Depression bei sich selbst besser zu erkennen. Wer Fragen zur Erkrankung hat und Anlaufstellen in seiner Nähe sucht, kann auch das Info-Telefon der Depressionshilfe anrufen unter der Nummer 0800/33 44 533 (Montag, Dienstag, Donnerstag jeweils von 13 bis 17 Uhr; Mittwoch und Freitag jeweils von 8.30 bis 12.30 Uhr).
- Der Hausarzt ist die erste Anlaufstelle, wenn ein Verdacht auf eine Depression besteht.
- Wer sich in einer akuten Krise befindet, wendet sich an den behandelnden Arzt oder Psychotherapeuten oder an die nächste psychiatrische Klinik.
- Das Universitätsklinikum Augsburg hat eine psychiatrisch-psychotherapeutische Notaufnahme. In einer akuten Krise sollte sich niemand scheuen, den Notarzt unter 112 zu holen. Auch Angehörige sollten den Notarzt rufen, wenn sie den Eindruck haben, dass eine akute Krise vorliegt.
- Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr kostenfrei unter den Nummern 0800-111 0 111 oder 0800-111 0 222 zu erreichen.
Denn wer an einer Depression erkrankt ist, kann in der Regel mit gut gemeinten Ratschlägen nichts anfangen, warnt die Depressionshilfe. Im Gegenteil. Oft verstärken Aufforderungen wie "Mensch, steh doch mal auf", "reiß dich doch mal zusammen", "geh doch mal raus" die ohnehin schon quälenden Schuldgefühle des Erkrankten noch. Was am ehesten helfe, sei die Versicherung, dass einem der andere am Herzen liegt, man gerne für ihn da ist. Professor Hasan und sein Kollege Jannis Apostolopoulos, die behandelnden Ärzte der Augsburgerin, wissen, wie viele Gespräche nötig sind, bis Betroffene sich helfen lassen. Die junge Frau konnten sie überzeugen.
Beendet ist deren Kampf gegen die tückische Krankheit allerdings noch nicht. Noch immer ist die 28-Jährige nicht ausreichend stabilisiert. Noch immer muss sie vor allem an ihrem Selbstwertgefühl arbeiten. "Ich weiß jetzt aber, dass der Job nicht alles ist, dass ich nicht nichts mehr wert bin, nur, weil ich die Arbeit nicht schaffe, dass ich lernen muss, Nein zu sagen", berichtet sie. Und sie weiß, dass sie sehr vieles hat, worauf sie aufbauen kann. "Es gibt vieles, wofür ich heute dankbar bin." Doch sie weiß auch, dass die Depression wiederkommen kann. Dass sie gut auf sich aufpassen muss. "Ich sehe das jetzt wie eine Lampe", sagt sie. "Auf ihr Licht muss ich achten." Wird es immer greller, schmerzhafter, ist höchste Vorsicht geboten. Im Frühjahr wusste sie das aber alles noch nicht. Ihre innere Lampe gab längst Signale in schrillsten Farben ab. Beinahe wäre sie ganz erloschen. Es fehlten nur ein paar Tage.
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