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Interview: Krisenintervention: "Man nimmt von jedem Einsatz etwas mit"

Interview

Krisenintervention: "Man nimmt von jedem Einsatz etwas mit"

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    Der Kriseninterventionsdienst unterstützt bei Unglücksfällen die Betroffenen und Angehörige.
    Der Kriseninterventionsdienst unterstützt bei Unglücksfällen die Betroffenen und Angehörige. Foto: Alexander Kaya (Symbolbild)

    In Schrobenhausen ist in dieser Woche ein 14-Jähriger von einem Zug erfasst worden und ums Leben gekommen. Neben Polizei und Rettungskräften war auch ein Kriseninterventionsteam am Unglücksort. Welche Aufgabe hatten Ihre Kollegen dort?

    Schaumlöffel: "Grundsätzlich ist ein Kriseninterventionsdienst immer dann vor Ort, wenn sich Menschen in emotionalen Ausnahmesituationen befinden. Das kann zum Beispiel sein, wenn ein Familienmitglied reanimiert werden muss oder ums Leben gekommen ist, wenn sich ein schwerer Unfall oder eine Katastrophe ereignet hat oder sich ein Mensch das Leben genommen hat. Das Kriseninterventionsteam (KIT) wird dann über die integrierte Leitstelle angefordert und leistet Notfallhilfe für Betroffene, die von der Betreuung von Einsatzkräften zu unterscheiden ist. In unserer Region setzt sich das KIT aus Mitarbeitern der Malteser, des Bayerischen Roten Kreuzes und der Notfallseelsorge zusammen."

    Was tun Sie als erstes, wenn Sie an einen Einsatzort kommen?

    Schaumlöffel: "Wenn uns die Leitstelle kontaktiert, erhalten wir meist schon erste Informationen über das, was uns am Einsatzort erwartet. Dennoch ist es das Wichtigste, sich nach der Ankunft zuerst ein eigenes Bild von den Geschehnissen zu machen, mit dem Einsatzleiter der anderen Einsatzkräfte zu sprechen und ein umfangreiches Lagebild zu erstellen. Denn häufig haben die Betroffenen, die wir anschließend betreuen, Fragen über das, was sich abgespielt hat. Gleich nach der Ankunft auf trauernde oder traumatisierte Menschen zuzugehen wäre nicht der richtige Weg."

    Wie läuft die anschließende Betreuung, die psychosoziale Notfallhilfe, denn ab?

    Schaumlöffel: "Das ist ganz unterschiedlich. Manchmal sind es lange Gespräche, hin und wieder aber auch längeres Schweigen. Gerade für Unbeteiligte mag es dann so aussehen, als würden wir in diesen Momenten gar nichts tun. Doch auch dieses vermeintliche „Nichtstun“, wenn wir mit den Menschen schweigsam an einem Tisch sitzen, ist Teil unserer Arbeit: Das Ziel ist es stets, die Menschen wieder in Aktion zu bringen und ihnen aus ihrem Schock zu helfen."

    Im Gegensatz zur Mehrheit der Bürger erleben Sie und Ihre Mitarbeiter regelmäßig Extremsituationen. Wie lernt man, damit umzugehen?

    Schaumlöffel: "Unsere Arbeit ist gewissermaßen immer eine Gratwanderung: Einerseits müssen wir uns in die Betroffenen einfühlen und Empathie entwickeln, andererseits müssen wir eine Distanz einhalten, auch um uns selbst zu schützen. Wir unterliegen übrigens auch der Schweigepflicht und dürfen das, was uns Betroffene bei unklarer Sachlage vor Ort erzählen, nicht an andere Einsatzkräfte weitersagen. Damit man das, was man sieht, hört und erlebt, auf Abstand hält, entwickelt jeder seine eigenen Gewohnheiten. Ich höre auf dem Heimweg von einem Einsatz zum Beispiel gerne klassische Musik im Radio und kann mich damit wieder ein Stück weit lösen. Aber nichtsdestotrotz nimmt man von jedem Einsatz etwas mit."

    Wie meinen Sie das?

    Schaumlöffel: "Ich stelle mir das ganze Leben oft wie eine Bibliothek vor, in der die Bücher meine Erlebnisse repräsentieren. Dort kann man abstellen, was neu dazugekommen ist. Oder auch auf Erfahrungen aus der Vergangenheit zurückgreifen. Viele Bücher stehen auch einfach dort und man hat längst vergessen, dass sie da stehen. Trotz aller Erfahrungen, die ich und meine Mitarbeiter im Laufe der Zeit gesammelt haben, gehen uns viele Dinge natürlich nahe und jeder muss einen Weg finden, sich auf gesunde Art damit auseinanderzusetzen."

    Welche Einsätze sind Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?

    Schaumlöffel: "Ich darf natürlich nur über Sachen sprechen, über die ohnehin öffentlich berichtet wurde. Einer dieser Fälle aus der jüngeren Vergangenheit war beispielsweise der Todesfall des 36-Jährigen nach den Friedberger Schlagertagen. Oder der tragische Unfall des 24-Jährigen und seiner 20-jährigen Beifahrerin bei Mickhausen im Februar. Diese Einsätze haben mich und meine Kollegin, die mit mir vor Ort war, emotional eine Weile mitgenommen. Häufig gehört es zu unserer Arbeit, dass wir nachts an einer Haustüre klingeln und jemandem die Nachricht vom Tod eines Angehörigen überbringen müssen. In der Notfallhilfe achten wir im Kollegenkreis jedoch aufeinander und als Teamleiter telefoniere ich nach jedem Einsatz mit den Mitarbeitern, die zur Betreuung vor Ort waren."

    Das klingt nach sehr viel Belastung für eine ehrenamtliche Aufgabe.

    Schaumlöffel: "Aber man bekommt auch sehr viel zurück. Am Ende eines Einsatzes werden wir häufig umarmt, gelegentlich erhalten wir im Nachhinein auch Dankesbriefe oder Spenden – all das zeigt uns, dass unsere Arbeit wertvoll ist. Ich arbeite hauptberuflich mit Zahlen, Daten und Fakten, und muss sagen, dass diese Faktoren in unserer Gesellschaft leider zunehmend an Bedeutung gewinnen. Dabei dürfen die Menschen jedoch nicht unwichtiger werden. Ganz besonders, wenn sie sich in einer schlimmen Lage befinden. Ich persönlich würde mir rückblickend wünschen, ich hätte mit dieser Arbeit schon viel früher begonnen."

    Mit welchen emotionalen Reaktionen werden Sie bei den Einsätzen konfrontiert?

    Schaumlöffel: "Da ist wirklich die ganze Bandbreite möglich: Manche Menschen sind regelrecht außer sich, schreien laut und erleben Weinkrämpfe. Da jeder Mensch anders auf schlimme Vorkommnisse reagiert, muss man auch das Außer-Sich-Sein zulassen – vorausgesetzt, der Betroffene gefährdet dabei weder sich noch andere. Manche Menschen kehren auch völlig in sich und verfallen in Schockstarre. Das KIT ist für die Akutversorgung dieser Menschen zuständig und soll ihnen dabei helfen, wieder handlungsfähig zu werden und den Boden unter den Füßen wieder zu erlangen. Langfristige Aufarbeitung von Traumata gehört hingegen nicht in unseren Aufgabenbereich."

    Es häufen sich in den vergangenen Jahren Berichte über gewaltsame Übergriffe auf Retter. Waren Sie und ihre Mitarbeiter davon auch schon betroffen?

    Schaumlöffel: "Bei manchen Menschen kann eine Trauerreaktion auch aggressiv ausfallen, aber weder ich selbst noch jemand aus unserem Team ist bislang zu Schaden gekommen. Unsere Arbeit beginnt oft auch erst dann, wenn die der Polizei und der Sanitäter beendet ist. Dennoch haben wir mit dem Polizeisportverein in Göggingen einen Selbstverteidigungskurs ins Leben gerufen. Nicht jedoch, weil wir etwa akut gefährdet wären, sondern weil gute Vorbereitung schlicht sinnvoll ist. In erster Linie ist die verbale Deeskalation immer unser Ziel, sich wehren zu können sollte nur das letzte Mittel sein."

    Welche Voraussetzungen muss man denn für den Job mitbringen?

    Schaumlöffel: "Für unser Ehrenamt kann sich grundsätzlich jeder über eine Ausbildung qualifizieren, aber natürlich eignen sich manche Menschen besser für diese Arbeit als andere. Bei der Auswahl unserer Kollegen achten wir besonders darauf, dass die Menschen in sich ruhen, keine unverarbeiteten Traumata mitbringen und gefestigte Persönlichkeiten sind. Außerdem sollte man 25 Jahre oder älter sein. Die Ausbildung dauert rund eineinhalb Jahre, sie beinhaltet eine Helfergrundausbildung, die Ausbildung zum Einsatzsanitäter und den Basiskurs für psychosoziale Notfallversorgung. Daran knüpft der Aufbaukurs für psychosoziale Notfallhelfer an. Erst danach nehmen wir die neuen Kollegen als Hospitanten auf ausgewählte Einsätze mit."

    Zur Person: Matthias Schaumlöffel arbeitet seit fünf Jahren in der psychosozialen Notfallhilfe. Als Teamleiter der Malteser koordiniert der 53-Jährige die Versorgung Betroffener durch das Kriseninterventionsteam.

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