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Kriminalität: Ursula Herrmanns Bruder gibt den Kampf seines Lebens auf

Kriminalität

Ursula Herrmanns Bruder gibt den Kampf seines Lebens auf

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    Michael Herrmann glaubt nicht an die Schuld des verurteilten Entführers seiner Schwester Ursula. Jahrelang hat er für ein neues Verfahren gekämpft. Diesen Kampf muss er nun aufgeben.
    Michael Herrmann glaubt nicht an die Schuld des verurteilten Entführers seiner Schwester Ursula. Jahrelang hat er für ein neues Verfahren gekämpft. Diesen Kampf muss er nun aufgeben. Foto: Ulrich Wagner

    Im Herbst 1981 ist Michael Herrmann im Frühling seines Lebens. Ein unbeschwerter Heranwachsender von 18 Jahren, der sich für Musik und Mädchen interessiert und gerade schöne Sommerferien am Ammersee verbracht hat. Doch am Abend des ersten Schultags passiert etwas, das sein Leben für immer prägen wird.

    Seine kleine Schwester Ursula verschwindet. Die Zehnjährige besucht am späten Nachmittag ihre Turnstunde und isst dann noch bei ihrer Tante in Schondorf zu Abend. Gegen 19.15 Uhr macht sich das Mädchen mit seinem roten Fahrrad auf den Heimweg. Durch das Waldgebiet „Weingarten“ sind es nur zwei Kilometer bis zum Elternhaus in Eching. Doch

    Entführer lauern dem Mädchen auf. Sie betäuben es und bringen es zu einer Lichtung im dichten Fichtenwald. Dort stecken sie Ursula in eine eigens dafür gebaute Gefängniskiste und vergraben die Kiste im Boden. In dem Verlies sind Essen und Getränke, Wolldecken, ein Toiletteneimer, ein Jogginganzug. Ein Transistorradio und eine Glühbirne sind an eine Autobatterie angeschlossen. Die Entführer haben auch Lesestoff in die Kiste gepackt: Comic-Hefte wie „Clever & Smart“ und Groschenromane wie „Am Marterpfahl der Irokesen“. Sogar ein Lüftungsrohr ist eingebaut. Doch es funktioniert nicht. Das Mädchen erstickt.

    In dieser Gefängnis-Kiste starb die zehnjährige Ursula im September 1981.
    In dieser Gefängnis-Kiste starb die zehnjährige Ursula im September 1981. Foto: Polizei

    Die Täter fordern zwei Millionen Mark Lösegeld für die entführte Ursula Herrmann

    Die Familie weiß davon noch nichts. Sie ruft die Polizei, als Ursula ausbleibt. Beamten finden das Fahrrad des Mädchens. Familie Herrmann ahnt Schreckliches. Aber erst zwei Tage später ruft jemand an, allerdings ohne etwas zu sagen. Er spielt lediglich die bekannte Melodie für Verkehrsnachrichten des Radiosenders Bayern 3 ab, die ersten sieben Töne des Volksliedes „So lang der alte Peter“. Neun solcher Anrufe erhält die Familie Herrmann in den Tagen darauf. Am 18. September kommt der erste Erpresserbrief. Die Entführer verlangen zwei Millionen Mark Lösegeld. Drei Tage danach kommt der nächste Brief. 19 Tage nach Ursulas Verschwinden, am 4. Oktober 1981 wird die Kiste mit dem toten Mädchen gefunden.

    Was ein solch traumatisches Ereignis mit den Angehörigen macht, kann sich ein Außenstehender in seinen furchtbarsten Albträumen nicht vorstellen. Aber es kommt noch schlimmer. Es wird kein Täter gefunden. Fast 27 Jahre lang. Dann wird im Mai 2009 mit Werner Mazurek ein Verdächtiger verhaftet. Er wird auch angeklagt und wegen erpresserischen Menschenraubs mit Todesfolge zu lebenslanger Haft verurteilt. Aber nach einem Jahr Indizienprozess bleiben Zweifel.

    Mit diesem Tonband sollen die Erpresseranrufe abgespielt worden sein.
    Mit diesem Tonband sollen die Erpresseranrufe abgespielt worden sein. Foto: Polizei

    „Wenn Sie der Täter sind, fahren Sie zur Hölle!“

    Werner Mazurek wurde im Fall Ursula Herrmann verurteilt.
    Werner Mazurek wurde im Fall Ursula Herrmann verurteilt. Foto: Fred Schöllhorn

    Diese Zweifel haben Ursulas Bruder Michael Herrmann seit mehr als zehn Jahren beschäftigt. Er war gewillt, alles zu glauben, was das Gericht festgestellt hat. Aber es ging nicht. Und solange das nicht ging, konnte er nicht abschließen mit der Entführung und dem Tod seiner Schwester. Er wollte nicht, dass möglicherweise ein Unschuldiger hinter Gittern sitzt. Er war unschlüssig, schrieb Mazurek einen Brief ins Gefängnis, der mit den Worten schloss: „Wenn Sie nicht der Täter sind, wünsche ich Ihnen, dass sich noch neue Erkenntnisse auftun und Sie rehabilitiert werden können. Wenn Sie der Täter sind: Fahren Sie zur Hölle!“

    Er beschäftigte sich fast schon obsessiv mit den Akten. Seit Jahren plagt ihn ein unangenehmer Tinnitus. Sogar seine Ehe ging in die Brüche. Irgendwann hatte Michael Herrmann die Erkenntnis: Mazurek war es nicht. Er hat den Verurteilten auf Schadenersatz verklagt, nur damit sich wieder ein Gericht mit dem Fall befasst. Und er hat zuletzt umfangreiche eigene Recherchen angestellt. Für ihn ist klar, dass die Täter aus dem Umfeld des ehemaligen Landeserziehungsheims in Schondorf kommen, einem privaten Internat für Kinder einflussreicher Eltern.

    Warum wurde im Privat-Internat nicht akribisch ermittelt?

    Dort hat die Polizei laut Herrmann kaum ermittelt, obwohl schon zu einem frühen Zeitpunkt eine wichtige Spur in diese Richtung geführt habe. Kurz nach Ursulas Entführung hatten die Ermittler am Tatort einen grünen Klingeldraht gefunden, diesen aber nicht mit dem Verbrechen in Verbindung gebracht. Der Draht verschwand. Heute wird vermutet, dass der Draht Teil eines Alarmsystems der Entführer gewesen sein könnte. Erst im Januar 1983 tauchte der Draht wieder auf – im Zimmer zweier Schüler des Landheims. Die Kripo gab sich mit der Erklärung der Schüler zufrieden, sie hätten den Draht im Wald gefunden. Zudem hat eine Expertin aus Großbritannien auf der Rückseite eines Erpresserbriefes die Durchdruckspur eines sogenannten Wahrscheinlichkeitsbaums entdeckt – eine Skizze aus der Stochastik und damit Mathe-Stoff der gymnasialen Oberstufe.

    Das Ergebnis seiner Recherchen hat Michael Herrmann im vergangenen Jahr der Augsburger Staatsanwaltschaft mitgeteilt, in der Hoffnung, dass sie alles neu bewertet. Doch seit Dienstag ist klar: Es wird keine neuen Ermittlungen geben, und auch kein neues Verfahren. Die neuen Hinweise reichen der Anklagebehörde nicht aus. Außerdem betrachtet sie den Fall als verjährt.

    Michael Herrmann will sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen

    Michael Herrmann glaubt nach wie vor, dass es nicht Werner Mazurek war, der seine Schwester entführt hat. Das hat sein Landsberger Anwalt Joachim Feller am Mittwoch in einer Presseerklärung klar gemacht. Der Auffassung der Augsburger Staatsanwaltschaft werde „entschieden entgegengetreten“. Aus Michael Herrmanns Sicht seien die neu vorgelegten Indizien „umfangreicher und stärker als die damals zur Verurteilung führenden Indizien“. Nicht nachvollziehbar sei auch, dass die Anklagebehörde von einer Verjährung ausgehe. Herrmann und sein

    Das Entführungsopfer Ursula Herrmann.
    Das Entführungsopfer Ursula Herrmann. Foto: Polizei

    Doch trotz aller Bedenken wird Ursulas Bruder die Entscheidung der Staatsanwaltschaft respektieren. Das tut er auch, um endlich wieder Ruhe zu finden. Jahrelang hat sich der Lehrer und Musiker in den Medien gezeigt, was überhaupt nicht seinem Naturell entspricht. Der 56-Jährige mit den langen grauen Haaren ist eher ein zurückhaltender Typ. Er hat es getan um der Sache willen, um Druck auf die Justiz zu machen. Nun will sich Michael Herrmann der Musik widmen – seiner Leidenschaft, die so lange hinter der Beschäftigung mit dem Verbrechen an seiner Schwester zurückstehen musste. Er hat sich über viele Jahre der Öffentlichkeit ausgesetzt. Anwalt Feller schreibt: „Dies findet hiermit sein Ende.“

    Was bleibt, sind die Zweifel, ob einer der spektakulärsten Kriminalfälle Deutschlands wirklich aufgeklärt ist. Und ein Verurteilter, der noch viele Jahre im Gefängnis sitzt.

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