Aus ihrer venezianischen Wahlheimat verfolgt die Journalistin Petra Reski, Autorin mehrerer Bücher über die italienische Mafia, gespannt den Kokainskandal bei der Kemptener Polizei. Dass der Fund von 1,6 Kilogramm der Droge etwas mit der „ehrenwerten Gesellschaft“ zu tun hat, würde sie nach 25 Jahren Recherche keinesfalls überraschen.
Nach ihren Erkenntnissen ist die Mafiaorganisation ’Ndrangheta seit über 40 Jahren in Deutschland aktiv, „wo sie auch im Allgäu feste Strukturen bildete, die unter anderem den Kokainhandel kontrollieren“. Das habe sich auch bis heute „sicher nicht geändert“.
Stammt Kokain des Allgäuer Drogenfanders von der Mafia?
Zum Fall in Kempten sagt sie weiter: „Angesichts der Tatsache, dass die ’Ndrangheta weltweit den Handel mit Kokain kontrolliert, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass diese Organisation auch Lieferant der bei dem Polizisten entdeckten 1,6 Kilo ist.“ Die ’Ndrangheta – das Wort leitet sich wohl aus einem urtümlichen Dialekt ab und bedeutet etwa „gute Männer“ oder „Helden“ – hat ihre Wurzeln in Kalabrien, der Stiefelspitze der italienischen Halbinsel.
Reski: „Anders als bei anderen Mafia-Organisationen basiert die Mitgliedschaft in der ’Ndrangheta stark auf Blutsverwandtschaft. Die Gruppe ist in einzelnen Clans organisiert, die untereinander kooperieren. Aufgrund der familiären Strukturen ist der Zusammenhalt besonders groß. Kronzeugen gibt es nur selten.“
Arbeitsteilung bei der Mafia
Überdies könne die ’Ndrangheta, anders als alle anderen italienischen Mafia-Organisationen, Clans auch im Ausland bilden: „Zellen, die autonom handeln und nicht von Befehlen im Mutterland abhängen.“ Ebenfalls im Allgäu präsent seien sowohl die Cosa Nostra aus Sizilien, die im Gefolge von Gastarbeitern in der Textilindustrie nach Kempten und Umgebung kam, als auch die kampanische Camorra.
Dass sich diese verschiedenen Mafia-Organisationen bekämpfen, sei in der Regel falsch, sagt Reski. Es gebe sogar eine Art Arbeitsteilung: „Die ’Ndrangheta kontrolliert den Handel mit Kokain in ganz Europa und überlässt den Einzelverkauf gelegentlich anderen Mafia-Organisationen. Die Camorra ist unter anderem Spezialist für die Herstellung von Falschgeld.“
Deutschland ist ein „Geldwäscheparadies“
Die Autorin ist sich sicher, dass das Allgäu die ’Ndrangheta anfangs wegen seiner Grenznähe angezogen hat. Stützpunkte in Kempten und Umgebung, etwa Pizzerien, wirken nach ihren Angaben als „Relais-Stationen“, über die Drogen, Waffen und Geld umgeschlagen werden.
Reski nennt Deutschland ein „Geldwäscheparadies“. Während Geschäftsleute in Italien den Behörden die Herkunft ihrer Vermögen nachweisen müssten, werde diesseits der Alpen nicht so genau nachgefragt. „Wenn etwa ein 18-jähriger Italiener in Deutschland 100 000 Euro in eine Pizzeria investiert, müssen sich die deutschen Behörden mit der Auskunft begnügen, das Geld habe er von einem Onkel in Italien bekommen.“
Die Mafia in Italien
Mafia ist nicht gleich Mafia. Italiens große Banden in Sizilien, Kalabrien, Apulien und rund um Neapel haben gemeinsam, dass sie alle im 19. Jahrhundert entstanden.
Untereinander verbindet sie wenig. Doch sie wirken im selben sozialen Umfeld: in unterentwickelten Regionen mit hoher Jugendarbeitslosigkeit und Auswandererquote sowie ausgeprägtem Misstrauen gegenüber dem Staat.
Das fördert die Bereitschaft zur „omertà“, dem Schweigen in der Bevölkerung. Dort stoßen die Mafiosi auf fruchtbaren Boden. Ihr Handeln ist nur auf materielle Bereicherung ausgerichtet.
Für ihr Ziel beseitigen sie Rivalen, bedrohen Politiker und Polizei und schaffen es immer wieder, in deren Reihen Komplizen zu finden.
Am bekanntesten ist die Cosa Nostra, der Geheimbund Siziliens, auch „ehrenwerte Gesellschaft“ genannt. Dort haben Italiens Anti-Mafia-Kämpfer in den letzten Jahrzehnten die größten Erfolge erzielt.
Die ’Ndrangheta in Kalabrien, verantwortlich auch für die sechs Mafiamorde 2007 in Duisburg, ist die gefährlichste.
In Apulien herrscht die Sacra Corona Unita („Heilige vereinte Krone“), die vor allem im Schutzgeld-, Waffen- und Drogengeschäft aktiv ist.
In den letzten Jahren gab es bei der Camorra in Neapel und Umgebung zwar große Fahndungserfolge. Doch diese Mafia ist unübersichtlich, aufgeteilt in 100 bis 200 autonome Familienclans, die sich teils gegenseitig bekämpfen.
Die Camorra operiert im Drogen- und Waffenhandel, in der Produktpiraterie von Luxusgütern und der illegalen Müllentsorgung.
Schutzgelder werden in Camorra kontrollierten Betrieben gewaschen.
Seit immer mehr Clan-Bosse inhaftiert sind, versucht die zweite Generation, Fuß zu fassen. Rund zehn Milliarden Euro an Schutzgeldern werden Schätzungen zufolge in Italien erpresst.
Blutige Zwischenfälle sind die Ausnahme
Die Beweislast, dass es sich um sauberes Geld handelt, liege in Deutschland bei den Behörden – in Italien beim Investor. Deshalb investiere die Mafia schmutzige Millionen seit Jahrzehnten besonders gerne in deutsche Immobilien, Firmen und Energieanlagen, um am Ende saubere, legale Gewinne einzustreichen.
„Die Mafiosi laufen nicht mit der Maschinenpistole durch die Gegend, es ist die vornehmste Eigenschaft der Mafia, gerade nicht aufzufallen.“ Aufsehenerregende Zwischenfälle, wie der Sechsfachmord von Duisburg 2010, blutiger Höhepunkt einer Fehde zwischen zwei ’Ndrangheta-Clans, seien in Deutschland die absolute Ausnahme.
Mafia kauft oder erpresst Polizisten
Ob der große Kokainfund bei der Kemptener Polizei einen Mafia-Bezug aufweist, werde sich erweisen. Ungeachtet dessen steht für Petra Reski fest: „Der Kokainhandel im Allgäu ist in der Hand der ’Ndrangheta, die dabei auch mit anderen Banden kooperiert. Dass die Mafia auch Polizisten kauft oder erpresst, dafür gibt es genügend Beispiele.“
Das Vorgehen folge immer demselben Muster: „Hat einer Schulden? Oder eine Affäre, die nicht sein darf? Die Mafiosi riechen die Schwächen der Menschen wie Haifische das Blut und beißen dann zu“, sagt Reski. Nach ihren Erkenntnissen versucht die Mafia, auch andere Staatsorgane zu unterwandern. Etwa Stellen, die mit Baugenehmigungen oder öffentlichen Ausschreibungen zu tun haben.
Verwaltung und Behörden unterwandert
Dazu zitiert Reski den Anti-Mafia-Staatsanwalt Nicola Gratteri aus Kalabrien: „Ist den Deutschen klar, dass die ’Ndrangheta die Verwaltung unterwandert, die lokalen Behörden infiltriert, um den Markt zu beherrschen?“
Dass die Gefahr besteht, dass in Deutschland lebende Italiener durch solche Aussagen unter Generalverdacht geraten, weiß Reski. Deshalb betont sie, dass es vor allem die gesetzestreuen Italiener sind, die überwiegende Mehrheit, die unter der Mafia leiden. Schutzgelderpressung gebe es nach wie vor, heute oft subtiler: „Wenn etwa ein Wirt die Ware zu überteuerten Preisen bei einem bestimmten Großhandel kaufen muss.“