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Kriminalität: Bis zu 2400 Tötungsdelikte im Jahr bleiben unentdeckt

Kriminalität

Bis zu 2400 Tötungsdelikte im Jahr bleiben unentdeckt

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    Die Gerichtsmedizin (hier in Hamburg) würde viel mehr zu tun bekommen, würden mehr Tötungsdelikte entdeckt.
    Die Gerichtsmedizin (hier in Hamburg) würde viel mehr zu tun bekommen, würden mehr Tötungsdelikte entdeckt. Foto: Christian Charisius, dpa (Symbolbild)

    Es ist ein unfassbar perfider Mordplan, den eine damals 30-Jährige aus dem Raum Augsburg vor zehn Jahren schmiedet. Die Frau, die mit mehr als einem halben Dutzend Männern Affären pflegt, will ihren Ehemann beseitigen. Denn dieser, 15 Jahre älter, möchte sich scheiden lassen. Sie würde dadurch Unterhaltszahlungen und das Wohnrecht in dem gemeinsamen Haus verlieren. Sollte ihr Mann allerdings sterben, wäre sie Besitzerin einer Doppelhaushälfte, würde 150.000 Euro aus einer Lebensversicherung erhalten und zudem 1000 Euro Witwenrente im Monat. Das ist ein starkes Motiv.

    Schließlich setzt sie ihren schrecklichen Plan gemeinsam mit einem ihrer Liebhaber in die Tat um. Das Mordwerkzeug ist ein tödlicher Medikamentencocktail. Aber was heißt hier

    Ein Einzelfall ist das nicht. Das Institut für Rechtsmedizin der Universität Rostock beispielsweise hat 10.000 Todesbescheinigungen aus Rostock und Umgebung aus drei Jahren überprüft. Das Ergebnis ist: Lediglich 223 waren fehlerfrei. In 44 Fällen wurde gar fälschlicherweise ein natürlicher Tod bescheinigt.

    Rechtsmediziner monieren immer wieder, dass viele Tötungsdelikte unerkannt bleiben. In diese Kerbe schlägt auch der Leiter der Rechtsmedizin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, Professor Matthias Graw. Sein Institut ist unter anderem zuständig für Todesfälle in unserer Region. Graw schätzt die Zahl der Tötungsdelikte, die bei der Leichenschau unentdeckt bleiben, in Deutschland pro Jahr auf mindestens 1200 bis 2400. Und: Er erhebt schwere Vorwürfe gegen die Polizei.

    Die Frau zwang ihren Liebhaber zu einer grausigen Tat

    Der Fall aus dem Raum Augsburg zeigt, wie schnell ein Mord übersehen werden kann. Denn die Täterin, die im Dezember vor zehn Jahren vom Augsburger Landgericht zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe mit Feststellung der besonderen Schwere der Schuld verurteilt wird, hat ihre Tat sehr genau vorbereitet. So erzählt sie schon Tage zuvor im Bekanntenkreis, dass ihr Ehemann, der mit einer neuen Freundin ein neues Leben beginnen will, über Schmerzen in der Brust klage. Vorzeichen eines Infarktes? Zumindest suggeriert sie das.

    Zugleich setzt sie einen ihrer Liebhaber unter Druck. Er dürfe die gemeinsame damals vierjährige Tochter nicht wiedersehen, wenn er ihr nicht helfe. Später wird sich herausstellen, dass das Mädchen gar nicht von dem damals 31-Jährigen, sondern von einem anderen Mann ist. Sie nötigt den Liebhaber, Medikamente zu beschaffen. Die besorgt sich der ausgebildete Sanitäter über einen früheren nichts ahnenden Kollegen aus Beständen des Roten Kreuzes. Er brauche sie für seinen persönlichen Notfallkoffer, sagt er.

    Dann bahnt die 30-Jährige unter einem Vorwand ein Treffen mit ihrem Ehemann in dem gemeinsamen Haus an. Auch ihr Komplize ist dabei. Ungewöhnlich ist das nicht; alle drei haben sogar eine Weile gemeinsam in dem Haus gewohnt. Der Ehemann wusste von den Eskapaden seiner Frau.

    Am Tatabend trinkt das Opfer einen Milchshake. Was er nicht weiß: In dem Getränk befindet sich ein Schlafmittel. Schnell klagt er über Schwindel und Müdigkeit. Der Liebhaber legt ihm einen intravenöse Zugang und behauptet, er werde ein kreislaufstabilisierendes Medikament geben. Wenig später schläft das Opfer ein. Es wacht nie wieder auf. Denn kurz darauf spritzt ihm der Täter die Mischung aus drei Medikamenten – in einer tödlichen Dosierung. Die Ehefrau ruft in der Rettungsleitstelle an und teilt mit, dass ihr Mann zusammengebrochen sei. Er wird ins Augsburger Klinikum gebracht, wo er vier Tage später stirbt. Auf dem Totenschein findet sich der Hinweis, der Mann sei infolge Kreislaufversagens an einem natürlichen Tod gestorben.

    Der entscheidende Hinweis kam von Freunden des Opfers

    Die Tat wäre wohl nie entdeckt worden, hätten Freunde des Opfers nicht Zweifel an diesem Urteil gehegt. Sie wenden sich nur wenige Stunden später an die Polizei. Der Mann sei zeitlebens gesund und sportlich gewesen, sagen sie. Die Sache sei verdächtig. Schließlich wird eine Obduktion in der Münchner Rechtsmedizin angeordnet. Diese bringt zunächst kein auffälliges Ergebnis. Erst eine chemisch-toxische Blutanalyse schafft Klarheit.

    „So kann man nicht wirtschaftlich arbeiten“: Professor Matthias Graw leitet die Rechtsmedizin in München.
    „So kann man nicht wirtschaftlich arbeiten“: Professor Matthias Graw leitet die Rechtsmedizin in München. Foto: LMU

    Warum ist der Gifttod nicht schon bei der Leichenschau entdeckt worden? Dass der Mann Einstiche an den Armen hatte, war nicht verwunderlich. Er war schließlich vom Rettungsteam und im Klinikum behandelt worden, es gab also weitere Einstiche durch Kanülen. "Man kann den Tod durch Medikamente nicht einfach bei einer

    Einem hinzugezogenen Arzt, der etwa in einem Altenheim den Tod eines älteren Menschen feststellt, fehle es oft an entsprechender Routine. "Außerdem will die Arbeit keiner machen. Man kriegt nur 50 bis 60 Euro für eine Leichenschau." Dafür müsse der Arzt womöglich nachts aufstehen und auf die Polizei warten; dann vergingen schnell mal zwei Stunden plus Anfahrt. "So kann man nicht wirtschaftlich arbeiten."

    Die Polizei nahm das perfide Paar fest

    Im Fall aus dem Raum Augsburg werden die Täter also dank des Hinweises aus dem Freundeskreis des Opfers überführt. Das Analyseergebnis liegt einen Tag nach der Beerdigung vor. Die Polizei nimmt das Paar fest. Die beiden werden wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Er, obwohl er die eigentliche Tat ausgeführt hat, ohne Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Das Gericht sieht in ihm nur den Handlanger der Frau. Ihre Tat, so der Vorsitzende Richter damals in der Urteilsbegründung, sei derart perfide, wie es für seine Strafkammer bis dahin unvorstellbar gewesen sei. Beide sitzen nach wie vor in Haft; zumindest in ihrem Fall steht fest, dass sie nach 15 Jahren nicht freikommen wird.

    Dieser Fall wurde aufgeklärt, viele andere dagegen bleiben unentdeckt. Was auch an der Polizei liege, sagt Professor Graw. Diese baue oft Druck auf einen Arzt auf, der gerufen wird, um einen Totenschein auszustellen. "Wenn etwa eine 93-Jährige im Heim stirbt und der Arzt den Tod seltsam findet, dann heißt es oft: Die war halt 93. Was gibt es da jetzt zu rätseln?" Graw zufolge habe die Polizei, möglicherweise auch wegen Arbeitsüberlastung aufgrund von Personalmangel, kein Interesse daran, in einem solchen Fall eine Akte anzulegen. Deshalb schreibe so mancher Mediziner eben "natürlicher Tod" auf den Totenschein. "So bleiben beispielsweise in Pflegeheimen manche Fälle unentdeckt", sagt Graw, "die eigentlich Tötungsdelikte sind."

    Ein schwerer Vorwurf gegen die Polizei, den das Innenministerium in München zurückweist: "Diese Aussagen entbehren jeder Grundlage. Wir können die nicht belegten Vorwürfe nicht nachvollziehen. Die bayerische Polizei erfüllt ihre gesetzlich zugewiesenen Aufgaben vollumfänglich und gerade auch bei Kapitaldelikten hoch engagiert", so das Ministerium auf Anfrage unserer Redaktion. Es gebe auch keinen Personalmangel: Bayerns Polizei habe mit 42.000 Stellen den höchsten Personalstand "aller Zeiten".

    Was kann man tun, wenn man ein naher Verwandter ist?

    Was kann nun ein näherer Verwandter tun, wenn er den Verdacht hat, dass die Umstände des Todes eines Angehörigen merkwürdig sind? Was viele nicht wissen: Er kann selbst eine Obduktion anregen. "Stirbt jemand im Krankenhaus, wird die jeweilige Klinik diesem Wunsch in der Regel nachkommen und die Obduktionskosten auch übernehmen", erläutert Dr. Bruno Märkl, Chefarzt des Instituts für Pathologie am Klinikum Augsburg. Dort sterben im Schnitt 2000 Menschen im Jahr an den Folgen von Krankheiten oder Verletzungen. 70 bis 80 werden durchschnittlich obduziert. Und wenn jemand zu Hause stirbt? "Eine Obduktion kostet je nach Aufwand 250 bis 450 Euro", sagt Märkl. Dazu kommen oft noch Überführungskosten in eine Einrichtung, wo der Verstorbene obduziert wird. Diese sind oft höher als die eigentlichen Gebühren für die Obduktion.

    Im bayerischen Gesundheitsministerium will man die Vorwürfe von Rechtsmedizinern wie Matthias Graw ernst nehmen. Die Honorierung der Ärzte für eine Leichenschau entspreche nicht mehr dem Stand der medizinischen Wissenschaft, teilt das Ministerium mit. Für die Festlegung sei aber der Bund zuständig. Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU) will sich dafür einsetzen, dass auf Bundesebene eine entsprechende Änderung erfolgt. Eine Lösung wie etwa in Bremen – dort muss seit August jeder Tote von einem eigens ausgebildeten Leichenschauer begutachtet werden – sei aber in einem Flächenstaat wie Bayern nicht praktikabel. Dafür würden sich nicht genügend Ärzte finden. Trotzdem scheint man im Ministerium Verbesserungsbedarf zu erkennen. Huml lässt mitteilen: "In Bayern erfolgen aktuell wichtige Vorarbeiten, die die Verbesserung der Plausibilitätskontrolle hinsichtlich der Todesbescheinigungen zum Gegenstand haben."

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