Hubert Aiwanger, der Chef der Freien Wähler, ist ein Phänomen. Er gibt permanent nach. Aber er lässt nicht locker. Er ist stellvertretender bayerischer Ministerpräsident. Aber er hält die Corona-Regeln der Staatsregierung für völlig übertrieben. Er sitzt schweigend am Kabinettstisch und stimmt zu. Aber draußen bei den Leuten spricht er groß auf. Er klagt vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Bundesnotbremse.
Zugleich aber fordert er die Staatsregierung – also quasi sich selbst – auf, doch wenigstens die Regeln des Bundes und nicht die strengeren bayerischen Regeln anzuwenden. Kurz gesagt: Hubert Aiwanger tät schon gern anders wollen, aber er kann nicht. Oder er traut sich nur einfach nicht. Bisher jedenfalls.
Wer nach der politischen Leistung der Freien Wähler fragt, seit sie 2008 in den Landtag eingezogen sind, der findet nur wenige Großtaten. Sie haben kräftig mitgeholfen, die absolute Mehrheit der CSU zu brechen, aber eben dieser CSU bei erster Gelegenheit wieder zur Macht verholfen. Sie sind, wie es der frühere CSU-Chef Horst Seehofer einmal formulierte, „Fleisch von unserem Fleisch“. Aber sie geben sich, als wären sie der Stachel im Fleisch der Mächtigen.
Das bisserl Opposition hat die CSU lange selbst mit erledigt
Die CSU darf sich darüber nicht beschweren. Sie ist selbst schuld. Noch vor etwas mehr als 20 Jahren unter Theo Waigel und Edmund Stoiber war sie Volkspartei im besten Sinne. Es gab einen Wirtschafts- und einen Sozialflügel, profilierte Agrar- und Umweltpolitiker, Liberale und Konservative. Es wurde, für die Bürger erkennbar, um den besten Weg gerungen. Das bisserl Opposition, so hieß es lange Zeit in der CSU, das erledigen wir auch gleich noch mit.
Doch diese Fähigkeit, widerstreitende Interessen zu artikulieren und am Ende doch zusammenzuführen, ist der Partei über die Jahre abhandengekommen. Stoiber schwang sich in seiner Endphase zum Alleinherrscher auf. Seehofer unterwarf sich die Abgeordneten vollends. Unter Markus Söder sind sie in ihrer überwiegenden Mehrheit endgültig zu Klonkriegern mutiert – zwar fleißig, aber linientreu. Widerspruch? Fehlanzeige!
In diese Lücke ist Aiwanger mit seinen Freien Wählern gestoßen. Er sammelte die Unzufriedenen, die mit Grünen, SPD oder FDP grundsätzlich nichts am Hut haben, von der CSU als Bewerber für politische Ämter verschmäht wurden oder sich, wie Teile der Landbevölkerung, von der CSU und ihrem Kurs – moderner, jünger, weiblicher und jetzt auch noch grüner – nicht mehr vertreten fühlten. Aiwanger ist der, der widerspricht. Und auch, wenn es nix nutzt, so sagen viele Leute doch: „Aber er sagt’s wenigstens.“
Die Regierungsbeteiligung würde Hubert Aiwanger nie aufs Spiel setzen
Für sieben, acht oder zehn Prozent der Stimmen kann das in Bayern allemal reichen, wie die vergangenen drei Landtagswahlen gezeigt haben. Die Sondersituation mit Corona hat daran nichts geändert. Im Gegenteil. Aiwanger perfektioniert seine Strategie. Er streitet öffentlich für Gastwirte, Gärtner, Hoteliers und Einzelhändler. Aber die Regierungsbeteiligung würde er für sie nicht aufs Spiel setzen. Er gibt ihnen eine Stimme. Aber er scheut die finale Konfrontation mit der CSU. Er trägt die Beschlüsse der Staatsregierung mit, tut aber im Zweifelsfall hinterher so, als wäre er nicht dabei gewesen.
Dass er damit der CSU gehörig auf die Nerven geht, liegt auf der Hand. Aiwanger stört das nicht. Umgekehrt geht auch ihm die CSU und namentlich Söder auf die Nerven. Man darf sich die Koalition in Bayern wie eine alte Suppenschüssel vorstellen, die zwar früh einen Sprung bekommen hat, aber dann doch weitaus länger hält, als manch einer angenommen hat – also auf jeden Fall bis zur nächsten Landtagswahl im Jahr 2023.
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