Für die Angehörigen, für die vielen falschen Verdächtigen ist es trotz des Aufreißens alter Wunden eine Erleichterung, dass Peggys trauriges Schicksal nun gewiss ist und der Leichnam des kleinen Mädchens beerdigt werden kann. Viele für die Eltern belastende Verschwörungstheorien, etwa eine Entführung ins Ausland, sind ausgeräumt. Die Hoffnungen richten sich nun darauf, dass am Fundort noch Spuren gesichert werden können, die den Täter überführen.
Im Fall Peggy wurde Tatverdächtiger regelrecht ausgetrickst
Der Fall Peggy - eine Chronologie
7. Mai 2001: Auf dem Heimweg von der Schule verschwindet die neunjährige Peggy aus dem oberfränkischen Lichtenberg. Wochenlange Suchaktionen bleiben ohne Erfolg.
August 2001: Die Polizei nimmt den geistig behinderten Ulvi K. fest. Er gibt an, sich an Peggy und drei weiteren Kindern sexuell vergangen zu haben.
22. Oktober 2002: Die Ermittler präsentieren den 24-jährigen Tatverdächtigen als mutmaßlichen Mörder der Schülerin.
7. Oktober 2003: Vor dem Landgericht Hof beginnt der Prozess. Nach nur fünf von 16 geplanten Verhandlungstagen platzt der Prozess wegen fehlerhafter Besetzung der Strafkammer.
November 2003: Der Mordprozess beginnt erneut.
30. April 2004: Ulvi K. wird wegen Mordes an Peggy zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Strafe tritt er niemals an. Stattdessen wird er wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in der forensischen Psychiatrie untergebracht. Peggys Leiche bleibt indes verschwunden.
17. September 2010: Ein wichtiger Belastungszeuge widerruft seine Aussage und erhebt schwere Vorwürfe gegen die Ermittlungsbehörden.
4. April 2013: Der Anwalt des geistig behinderten Mannes beantragt die Wiederaufnahme des Falls. Er sagt, sein Mandant könne die Tat nicht begangen haben.
April 2013: Ebenfalls im April 2013 beginnt die Polizei, wieder nach der Leiche des Mädchens zu suchen. Entdeckte Knochenteile stammen aber nicht von Peggy.
Dezember 2013: Das Landgericht Bayreuth ordnet die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Ulvi K. an. Ein Belastungszeuge hatte eingeräumt, falsch ausgesagt zu haben.
8. Januar 2014: Auf dem Friedhof Lichtenberg öffnen die Ermittler ein Grab. Sie vermuten, dass bei einer Beerdigung 2001 Peggys Leiche dort abgelegt wurde. Doch sie finden keine Hinweise.
10. April 2014: Auf Anordnung des Landgerichts Bayreuth beginnt das Wiederaufnahmeverfahren. Ulvi K. bestreitet, Peggy getötet zu haben.
7. Mai 2014: Das Gericht beendet das Verfahren aus Mangel an Beweisen. Eine Woche später gibt es einen Freispruch für den geistig behinderten Mann. Er bleibt aber weiter in der Psychiatrie untergebracht.
18. Februar 2015: Die Staatsanwaltschaft Bayreuth stellt ihre Ermittlungen ein. Ein Ermittlungsverfahren gegen unbekannt wird aber aufrechterhalten, um mögliche Spuren weiterzuverfolgen.
19. März 2015: Das Oberlandesgericht Bamberg entscheidet, dass der ursprünglich verurteilte Mann aus der Psychiatrie entlassen werden soll.
16. Juni 2015: Ein ehemaliger Verdächtiger im Fall Peggy wird in einem anderen Fall wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes zu einer Jugendstrafe von sieben Monaten ohne Bewährung verurteilt. Im Fall Peggy gilt er nicht mehr als tatverdächtig.
Mai 2016: Ein im Fall Peggy ehemals verdächtigter Mann fordert Schadenersatz von mehr als 20.000 Euro. Ermittler hatten 2013 auf der Suche nach dem verschwundenen Mädchen sein Grundstück in Lichtenberg metertief durchsuchen lassen. Die Ermittler hatten dabei zwar Knochenreste gefunden. Sie stammten aber nicht von Peggy.
2. Juli 2016: Ein Pilzsammler findet in einem Wald im thüringischen Landkreis Saale-Orla Skelettreste.
4. Juli 2016: Polizei und Staatsanwaltschaft teilen mit, dass die Knochen «höchstwahrscheinlich» von Peggy stammen. Dies hätten erste rechtsmedizinische Untersuchungen und Erkenntnisse am Fundort ergeben.
13. Oktober 2016: Das Polizeipräsidium Oberfranken und die Staatsanwaltschaft Bayreuth teilen mit, dass am Fundort des Skeletts des Mädchens DNA-Spuren des mutmaßlichen NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt gefunden worden.
8. März 2017: Der Verdacht einer neuen Ermittlerpanne im Mordfall Peggy hat sich bestätigt: Das in der Nähe der Leiche des neunjährigen Mädchens gefundene DNA-Material des NSU-Mitglieds Uwe Böhnhardt wurde von der Polizei versehentlich selbst an den Tatort gebracht, wie Polizei und Staatsanwaltschaft in Bayreuth mitteilten. Bei der Spurensicherung wurde das gleiche Werkzeug verwendet wie nach Böhnhardts Tod 2011. Beide Fälle haben nichts miteinander zu tun. So etwas »darf nicht passieren», sagte der Leiter der Sonderkommission Peggy, Uwe Ebner.
12. September 2018: Die Polizei durchsucht mehrere Anwesen eines 41 Jahre alten Beschuldigten. Der Mann zählte schon früher zum «relevanten Personenkreis» im Zusammenhang mit dem Verschwinden von Peggy. Nach der Vernehmung kommt er wieder auf freien Fuß.
21. September 2018: Die Ermittler geben bekannt, dass der 41-Jährige gestanden hat, das tote Mädchen in den Wald an der bayerisch-thüringischen Grenze gebracht zu haben, wo später die Knochen gefunden wurden. Ein anderer Mann habe ihm den leblosen Körper am Tag des Verschwindens an einer Bushaltestelle übergeben.
11. Dezember 2018: Die Polizei Oberfranken meldet eine Festnahme in dem Fall, ohne zunächst weitere Details zu nennen.
Ende Dezember 2018: Der Verdächtigte kommt wieder auf freien Fuß. Das Amtsgericht hebt den Haftbefehl gegen den 41-Jährigen auf.
22. Oktober 2020: Die Ermittlungen im Fall Peggy werden eingestellt. Der Fall ist seitdem ein "cold case".
April 2022: Knapp 21 Jahre nach dem Verschwinden des jungen Mädchens werden ihre sterblichen Überreste in Lichtenberg beigesetzt.
Das ist nicht nur für die Hinterbliebenen wichtig, sondern auch für die Ermittlungsbehörden: Denn der Fall Peggy ist ein unaufgeklärtes bayerisches Trauma, das bis zum Justiz- und Polizeiskandal reicht. Einst wurde auf politischen Druck die Sonderkommission ausgewechselt. Neuer Chefermittler wurde jener Polizist, der später als Soko-Leiter bei der (wie man heute weiß, vom NSU-Trio begangenen) Mordserie an Migranten eklatant versagt hatte. Sein im Fall Peggy präsentierter geistig behinderter Tatverdächtiger wurde von den Ermittlern regelrecht ausgetrickst.
Im „Prozess ohne Leiche“ wurden einer Farce gleich alle Zweifel für den Angeklagten und Zeugenaussagen beiseitegewischt. Wie in anderen Fällen in Bayern unschuldig Verurteilter spielte eine für Laien eindrucksvolle Video-Tatrekonstruktion eine unrühmliche Rolle. Erst zehn Jahre später folgte der Freispruch. Auch ohne den oder die Schuldigen zu kennen, ist der Fall Peggy ein Lehrstück. Sollte er nun aufgeklärt werden können, muss auch die politische Dimension des Falles durchleuchtet werden.
Wer ist ihr Mörder? Die wichtigsten Fragen im Fall Peggy