Vor etwa einem Jahr hat der Puls von Gerhard Immler spürbar schneller geschlagen. Immler ist seit 18 Jahren der Leiter des Geheimen Hausarchivs der Wittelsbacher, einer Abteilung des Bayerischen Hauptstaatsarchivs. Ein erfahrener Mann also, den irgendwelche Akten oder Urkunden des königlichen Hauses nicht aus der Ruhe bringen. Anders verhielt es sich mit dem Schreiben, das er nun in Händen hielt. Es war ein Brief König Ludwigs II.; präziser: Es sind höchstwahrscheinlich die letzten Zeilen, die der „Mondkönig“ (Ludwig machte in seinen Schlössern die Nacht zum Tag) verfasst hat.
Darin zeigt er sich kurz vor seinem Tod im Starnberger See höchst beunruhigt über die ihm aufgezwungene Abdankung, die offenbar bevorstand (siehe auch Wortlaut). Einen Zweifel an der Echtheit des königlichen Briefes hat Immler nicht. Er kennt den Nachlass des bekanntesten Wittelsbachers, mit dessen Konterfei auf Postkarten, Tassen oder Bierflaschen sich noch heute prächtige Geschäfte machen lassen, in- und auswendig. „Die Schrift Ludwigs II. ist ja so unverkennbar, dass sie äußerst schwierig zu fälschen wäre.“
Für den ehemaligen bayerischen Umweltminister und CSU-Bundestagsabgeordneten Peter Gauweiler zeigen die Zeilen des Königs, dass er alles andere war als geisteskrank und unfähig, sein Königreich zu regieren. Vielmehr sei er „geistig klar genug“ gewesen, „die ihm drohende Gefahr zu erkennen; er fand aber anschließend nicht die Willenskraft, entsprechend zu handeln“, sagte Gauweiler am Donnerstagabend während eines Vortrags im „Museum der bayerischen Könige“. In Sichtweite der Schlösser, in denen Ludwig II. aufwuchs (Hohenschwangau) und das er erbauen ließ (Neuschwanstein), stellte der Jurist und Ludwig-Verehrer das brisante Schreiben vor, welches der König an seinen Vetter Prinz Ludwig Ferdinand gerichtet hat.
Gauweiler imponiert der friedliebende König, der Geld lieber in Kunst und Bauwerke steckte als in militärische Aufrüstung. Dass Bayern keinen imperialistischen Impetus entwickelte, sei diesem König zu verdanken, findet der CSU-Mann. Angenehm ist ihm ein Bayern „ohne Dickes-Backen-Gehabe“ allemal.
König Ludwig II. ist zum Mythos geworden
Der König selbst ist längst zum Mythos geworden und überstrahlt alle anderen Vertreter aus der Wittelsbacher-Dynastie, die das Land jahrhundertelang regiert haben. Er ist Teil der japanischen Mangakultur geworden. Mickymaus-Erfinder Walt Disney verwandelte das einer Ritterburg nachempfundene Schloss Neuschwanstein in seinem Freizeitpark in „Cinderella’s Castle“. Auch Pop-Art-Künstler Andy Warhol fertigte im Siebdruckverfahren einige Ansichten Neuschwansteins an. In das Original im Ostallgäu drängen sich jährlich etwa 1,4 Millionen Besucher.
Gauweilers Urteil über den Bauherren Ludwig fällt überaus positiv aus. „In der Zeit, in der er seine Königsschlösser geschaffen hat, bringen es andere nicht einmal fertig, einen Flughafen hinzustellen.“
Ein Detail bringt Ludwigs Brief an die Öffentlichkeit, das nach den Angaben von Archivar Immler so bislang nicht bekannt war. Die erste, von örtlichen Gendarmen und Feuerwehrleuten verhaftete Staatskommission wollte den gesundheitlich angeschlagenen Monarchen offenbar nach Schloss Linderhof kutschieren. Wer weiß, wie die Geschichte Ludwigs weitergegangen wäre, hätte die Abordnung aus München den Plan in die Tat umsetzen können. So aber brachte die zweite Kommission unter der Leitung des Irrenarztes Bernhard von Gudden den entmündigten König ans Ostufer des Starnberger Sees auf Schloss Berg. Der Arzt attestierte eine Geisteskrankheit, obwohl er den Patienten zuvor nicht einmal untersucht hatte. Er wollte Ludwig II. möglichst nahe an München haben – angeblich, um ihn besser behandeln zu können.
Der nun viel beachtete letzte Brief Ludwigs kam überhaupt erst durch ein Tauschgeschäft zum Hausarchiv. Ein Angehöriger des Hauses Wittelsbach gab ihn her und erhielt vom Wittelsbacher Ausgleichsfonds, einer Familienstiftung, offenbar andere, nicht näher bezeichnete Kunstgegenstände. Diskretion wurde vereinbart. Übrigens: Das jetzt Schlagzeilen produzierende Schreiben war von Immler bereits vor einem Jahr präsentiert worden. Nur damals nahm so gut wie niemand Notiz davon. Die Aufmerksamkeit der Journalisten lag auf der Flüchtlingswelle. Ludwigs Zeilen, in denen Ungläubigkeit, Ärger und Schrecken zum Ausdruck kommen, wurden einfach fortgespült.
Der Brief von König Ludwig II. im Wortlaut:
„Theuerster Vetter!
Vergib die schlechte Schrift, ich schreibe dieß in höchster Eile. Denke was Unerhörtes heute geschehen ist!! – Diese Nacht kam eilends einer vom Stallgebäude herauf u. meldete, es wären mehrere Menschen (darunter horribile dictu) ein Minister u. eine meiner Hofchargen in aller Stille angekommen, befahlen meinen Wagen u. Pferde hier (von der oberen Burg) wegzunehmen hinter meinem Rücken u. wollten mich zwingen nach Linderhof zu fahren, offenbar u. mich dort gefangen zu halten, u. Gott weiß was wohl zu thun, Abdankung zu ertrotzen kurz eine schändliche Verschwörung! Wer kann nur hinter einem solchen Verbrechen stecken, Prz. Luitpold vermuthlich.
Durch Gensdarme u. Feuerwehr, die sich tapfer entgegenstemmen ward dieß vorläufig vereitelt. Die Schand-Rebellen wurden arretirt. Behalte dieß Alles bitte vorläufig für Dich. Wie kann aber eine solche Infamität nur möglich sein!! Bitte forsche selbst u. durch Andere Verläßige darauf!
Hättest Du so etwas für möglich! gehalten. Schon früher schrieb ich Dir daß ich über absichtlich mit Geld herumgestreute Gerüchte über mich (angebliche Krankheit) an der nicht eine Sylbe wahr ist p) gehört habe. Es ist zu arg. Es muß Licht in diesen Abgrund von Bosheit kommen! In felsenfestem Vertrauen u. inniger Liebe
Dein getreuer Vetter Ludwig
Hohenschw. 10. Juni 86“
Ergänzung mit Bleistift: „Dieser Abschaum von Bosheit mich nächtlich überfallen u. gefangen nehmen zu wollen!!!“